Die Krise des Wohlfahrtsstaates

Staatsquote erreicht schwindelnde Höhen - Wohlfahrtsstaat wird munter weiter ausgebaut
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Finanz-Journal, 06.12.2002, S. 6

Das ehemalige Wirtschaftswunderland Deutschland ist seit dreißig Jahren auf dem falschen Gleis: Die Arbeitslosenzahlen stiegen von 150.000 (in Westdeutschland) auf über vier Millionen. Der zunehmende Trend im Westen ist ungebrochen, im Osten scheint er sich sogar zu verschärfen. Wir wachsen langsamer als jedes andere Land in Europa.

Die Situation ist wie in England nach dem gewonnenen Krieg: Während man sich noch der Siege rühmte und den Wohlfahrtsstaat ausbaute, wuchsen die anderen Länder stürmisch an England vorbei. Erst die radikalen marktwirtschaftlichen Reformen von Margret Thatcher haben einen Kurswechsel herbeigeführt. Die englische Wachstumsrate liegt deswegen schon des längeren über dem europäischen Durchschnitt, und gerade hat Großbritannien Deutschland beim Pro-Kopf-Einkommen überholt, so wie es die Iren, die Finnen, die Österreicher und Holländer vor kurzem bereits taten. Zur Zeit ist Frankreich dabei, Deutschland zu überholen. In zwei, drei Jahren könnte Frankreich die Nase vorn haben.

Begriffen haben die Deutschen von all, dem wenig. Solange der Putz nicht von den Wänden fällt und die Achsen der Autos in den Schlaglöchern zerbrechen, lassen sie die Statistiken Statistiken sein. Der Wohlfahrtsstaat wird munter weiter ausgebaut. Die Staatsquote, die vor dreißig Jahren bei 39% lag, hat mit über 49% bereits schwindelnde Höhen erreicht, und die neuen Beschlüsse der Koalition bedeuten Steuermehreinnahmen von gut einem weiteren Prozent des Sozialproduktes.

Der durchschnittliche Arbeitnehmer hat bezüglich der Wertschöpfung seiner Arbeit in Deutschland eine höhere Grenzabgabenlast zu tragen als in allen anderen OECD-Ländern.

Es geht so wirklich nicht mehr weiter. Noch nie waren sich die Ökonomen so einig über die Diagnose und die nun erforderlichen Reformschritte. Der wissenschaftliche Beirat beim Wirtschaftsministerium, das ifo Institut und der Sachverständigenrat haben sich in diesem Jahr mit umfangreichen und sorgfältig durchdachten Gutachten zu Wort gemeldet. Alle drei Institutionen sehen die Ursache der Probleme einhellig in den zu hohen und zu wenig gespreizten Löhnen, die den Standort unattraktiv machen und Arbeitslosigkeit erzeugen. Die Bundesbürger, insbesondere die neuen, sind sich zu teuer, als dass sie bereit wären, sich gegenseitig die Leistungen abzukaufen, die sie anbieten.

Um Bewegung in die Lohnfront zu bringen und die Unternehmer zu veranlassen, Arbeitsplätze zu schaffen und wieder mehr zu produzieren, müssen die starren Tarifverträge aufgelockert werden. Das Betriebsverfassungsgesetz und das Tarifvertragsgesetz sind so zu ändern, dass es auf betrieblicher Ebene möglich wird, untertariflich zu zahlen, wenn die Mehrheit der Belegschaft der Meinung ist, dass der Betrieb nur so zu retten ist. Das Problem ist akut und duldet keinen Aufschub. Wir stehen derzeit in einer Bankenkrise, die alles in den Schatten stellt, was seit dem Krieg an Finanzproblemen aufgetaucht ist. Die Bankenkrise reflektiert die Rekordzahl von mehr als 3000 monatlichen Insolvenzen in der privaten Wirtschaft. Betriebliche Öffnungsklauseln werden sofort gebraucht, um noch das Schlimmste zu verhindern.

Tarifflexibilität zu schaffen, reicht aber nicht, denn zu einem großen Teil ist die Rigidität der Löhne auf die Konstruktion des Sozialstaates zurückzuführen. Der Sozialstaat zahlt Lohnersatzeinkommen. Sei es nun die Arbeitslosenhilfe, das Arbeitslosengeld oder die Sozialhilfe: das staatliche Geld fließt, wenn man selbst nichts verdient, und es versiegt, wenn man arbeitet und ein eigenes Einkommen erwirbt. Die Marktwirtschaft kann mit den Lohnersatzeinkommen vielfach nicht mehr konkurrieren. Arbeitslosigkeit ist die Folge.

Wissenschaftlicher Beirat, Sachverständigenrat und ifo Institut haben auf der Basis dieser Diagnose verwandte Vorschläge für die Schaffung eines Niedriglohnsektors vorgestellt. Im Kern geht es um die partielle Umstellung der Sozialleistungen von Lohnersatz- auf Lohnergänzungsleistungen. Eine solche Umstellung ermöglicht es den Unternehmen, mit neu geschaffenen Niedriglohnjobs Geld zu machen, und dennoch entstehen für den Staat keine Mehrkosten. Die Arbeitslosigkeit verringert sich, und in der Summe aus staatlichem und selbst verdientem Geld sind die Einkommen im Niedriglohnbereich höher als heute.

Auch diese Reform duldet keinen Aufschub, denn die Ost-Erweiterung steht vor der Tür. Die Löhne in Tschechien, Polen und Ungarn liegen im Bereich von etwa 15% des westdeutschen Niveaus. Schon jetzt sieht man den Einfluß innerdeutscher Wanderungsprozesse auf die Arbeitslosigkeit der Zuzugsgebiete deutlich in den Statistiken. Die Zuwandernden besetzen die freien Jobs und drängen Einheimische in die Arbeitslosigkeit ab. Die neue Niedriglohnkonkurrenz und die zu erwartenden Wanderungsströme werden diesen Prozeß forcieren. Die Arbeitslosigkeit wird den nächsten Jahren weiterhin ansteigen, und Deutschlands Rang bei der Wirtschaftsleistung wird weiterhin fallen, wenn wir die nötigen Reformen jetzt verschlafen.