Geld fürs Nichtstun

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 18.12.2006, S. 206

Hans-Werner Sinn über die wirkliche Armut in Deutschland

Weihnachten naht, und so bedrücken die Zahlen über die Armut in Deutschland, die das Statistische Bundesamt in den vergangenen Wochen veröffentlicht hat, umso mehr. Von 1991 bis 2005 ist das Nettoeinkommen eines durchschnittlichen Privathaushalts in Deutschland real um zwei Prozent gefallen, und 13 Prozent der Deutschen waren im Jahr 2004 von Armut bedroht. Jeder, der das hört, ist bestürzt. Die Globalisierung fordert offenbar immer mehr Opfer. Man ahnte es ja.

Kein Zweifel: Es gibt Armut in Deutschland, und es gibt eine Unterschicht. Viele kommen mit dem Turbokapitalismus nicht mehr mit und werden aus der Erwerbsgesellschaft ausgestoßen. Aber wird dieses Phänomen tatsächlich durch diese Zahlen belegt? Bei näherem Hinsehen stellen sich die Dinge ganz anders dar, als es zunächst erscheinen mag.

So sind die Nettohaushaltseinkommen nur deshalb gefallen, weil sich die Haushaltsgröße verkleinert hat. Während im Jahr 1991 zu einem Haushalt statistisch 2,26 Personen gehörten, waren es im Jahr 2005 nur noch 2,12. Nach einer entsprechenden Korrektur zeigt sich, dass das reale Nettoeinkommen pro Kopf in der genannten Zeitspanne um vier Prozent stieg. Das ist zwar auch nicht viel, aber doch eben eine Steigerung statt einer Senkung. Die realen Nettoeinkommen der Arbeitnehmerhaushalte sind pro Kopf sogar um etwa acht Prozent gestiegen. Es gibt insofern also Anlass zur Entwarnung.

Ähnliches gilt bezüglich der Aussage, dass 13 Prozent der Deutschen von Armut bedroht seien. Diese Aussage ist bei genauerem Hinsehen ebenfalls nicht so zu interpretieren, wie es die öffentliche Berichterstattung suggeriert, denn es wird kein absolutes, sondern ein relatives Maß für die Armut verwendet. Arm beziehungsweise von Armut bedroht ist nach einer Festlegung der EU, wer weniger als 60 Prozent eines standardisierten Netto-Durchschnittseinkommens (Medianeinkommen) verdient. Wer in einer Steuerenklave, in der der Durchschnittsbürger eine Million Euro verdient, nur über ein Jahreseinkommen von 590 000 Euro verfügt, ist nach dieser Definition arm.

In Deutschland sind grundsätzlich alle Hartz-IV-Empfänger arm, weil ihre Transfers knapp unter dieser Armutsgrenze liegen. Dem Statistischen Bundesamtes zufolge lag das monatliche durchschnittliche "Äquivalenzeinkommen" je Person im Jahr 2004 bei 1427 Euro, was einer Armutsgrenze von 856 Euro entspricht, und eine vierköpfige Familie wird arm genannt, wenn sie weniger als 1798 Euro netto im Monat zur Verfügung hat. Nach Hartz IV kann diese Familie mit einem Nettoeinkommen von etwa 1600 Euro im Monat rechnen, die verschiedenen Sachleistungen wie den freien Kühlschrank, den Herd oder den Fernseher nicht mitgezählt. Definitionsgemäß ist sie also arm, obwohl sie den vollen Schutz des Sozialstaates genießt.

Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten außerordentlich viel gegen die relative Armut getan. Von 1970 bis 2004 stieg das monatliche Nettolohneinkommen je Arbeitnehmer auf das 3,19-fache, doch die monatlichen Sozialhilfeausgaben je Empfänger stiegen auf das 3,90-fache. Die Geldleistungen des Sozialstaates an die Ärmsten der Armen sind also viel schneller als die Durchschnittslöhne gestiegen, und offenkundig hat die relative Armut abgenommen. Doch auch dieser Erfolg kann prinzipiell nicht in der Armutsstatistik durchscheinen, weil die Sozialhilfesätze ebenfalls unter der definierten Armutsschwelle liegen.

Übrigens sind fast alle italienischen und alle spanischen Arbeitnehmer arm, legt man die deutschen Kriterien zugrunde. Die durchschnittliche italienische Alleinverdienerfamilie mit zwei Kindern hat einen Lebensstandard, für den man zu deutschen Preisen ein Monatseinkommen von 1724 Euro bräuchte, für den spanischen Lebensstandard bräuchte eine Familie hierzulande 1781 Euro. Beide Werte liegen unter der deutschen Armutsschwelle.

Arm ist auch, wer außer einer Leibrente von monatlich 10 000 Euro und einer Villa, die er selbst bewohnt, keine Einkommen hat, denn weder das selbst genutzte Wohneigentum noch private Renten zählen bei der Definition von Armut mit. Und wehe, es gibt jetzt die vielfach geforderten Lohnerhöhungen. Dann steigt die Zahl der "Armen", die unter die 60-Prozent-Grenze fallen, weiter. Armutsbekämpfung durch Lohnzurückhaltung müsste die Devise sein, schließt man sich der offiziellen Armutsdefinition an.

Das alles zeigt, dass man mit den veröffentlichten Zahlen Schindluder treiben kann und dass die finanzielle Armut im relativen Sinne nicht das deutsche Problem ist. Die Armut, die uns im täglichen Leben begegnet, hat überhaupt nur wenig mit fehlendem Geld zu tun. Der wahre Grund für die Probleme der deutschen Unterschicht ist statt beim Geld bei den fehlenden Arbeitsplätzen und der damit verbundenen sozialen Ausgrenzung zu suchen.

Um es zum hundertsten Mal zu sagen: Die Stellen fehlen, weil der Staat mit seinen Lohnersatzsystemen extrem hohe Lohnansprüche gegen die Privatwirtschaft begründet hat. Die Jobs wurden wegrationalisiert und ins Ausland verlagert, die haushaltsnahen Dienstleistungen, die es früher gab, vernichtet. Das deutsche Armutsproblem ist nicht entstanden, weil der Staat zu knauserig war, sondern weil er im Gegenteil zu viel Geld für Nichtstun ausgegeben hat. Eine wirksame Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Reintegration der Ausgestoßenen in die Arbeitswelt verlangt einen Sozialstaat, der die Menschen fürs Mitmachen statt fürs Wegbleiben bezahlt, womit wir beim Kombilohn oder der aktivierenden Sozialhilfe wären. Das ist das Thema, das an die Weihnachtstafel gehört.

Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und einer der renommiertesten Ökonomen des Landes.