Wirtschaftssinn

Interview mit Hans-Werner Sinn, D’fakto, 01.05.2007, Nr. 01/07, S. 14-16

„Wir sind der Industriebasar der Welt“

D’fakto: Herr Sinn, wenn Sie jetzt einen neuen Fertigungsstandort errichten wollten, welches Land würden Sie wählen?

Sinn: Das kommt auf die Branche an. Bei der Chemie und bei Werkzeugmaschinen würde ich nach Deutschland gehen, bei Textilien nach China und bei Computern nach Korea.

Zumindest taucht Deutschland in Ihrer Aufzählung noch auf...

Natürlich. Wir sind stark, wo immer es um hoch spezialisierte Produkte geht, die viel Markt-Erfahrung, Ingenieurwissen und Facharbeiterkompetenz verlangen. Wir können im Bereich der Chemie, der Autoelektronik, der Werkzeugmaschinen und auch im Bereich der unternehmensnahen Dienstleistungen Spitzenleistungen erbringen. Wir sind im positiven Sinne der Industriebasar der Welt, der Kundenwünsche beliebiger Art befriedigt, und weiß, bei welchen Lieferanten man die benötigten Produkte fertigen lassen kann. Kein anderes Land verkauft so viele Waren wie wir.

Und trotzdem tauchen ja auch China und Korea in Ihrer Antwort auf. Wie kann man den Standort Deutschland in diesen Bereichen für Unternehmen wieder attraktiv machen?

Was wir verkaufen, wird leider von nicht allzu vielen Menschen gemacht, weil wir sehr kapitalintensiv arbeiten. Während die deutschen Firmen wettbewerbsfähig sind, sind es viele deutsche Arbeitnehmer leider nicht mehr. Wir sind Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten. Wegen China, Polen und alle der anderen Niedriglohnländer wird das Problem größer statt kleiner. Wir kommen da nur raus, wenn die Ansprüche zurück genommen werden, aber das ist schmerzlich. Erleichterung kann ein System der „aktivierenden Sozialhilfe“ geben, eine Art besserer Kombilohn. Dadurch werden geringe Löhne ermöglicht, ohne dass damit geringe Einkommen verbunden sind. Die Massenarbeitslosigkeit der gering Qualifizierten lässt sich auf diese Weise wirksam und vor allem sozialverträglich bekämpfen.

Für diese Position werden sie nicht viel Zustimmung von den Gewerkschaften ernten. Und nicht nur für diese. Sie haben mal in einem Interview gesagt: „Die Gewerkschaften sind eines der hauptsächlichen Probleme Arbeitsmarkt“. Also gleich abschaffen?

Deutschland braucht seine Gewerkschaften, das ist doch keine Frage. Aber die Gewerkschaften müssen einen Teil ihrer Macht einbüßen. Für essenziell halte ich erstens eine gesetzliche Vorschrift, nach der betriebliche Öffnungsklauseln in Tarifverträgen vorzusehen sind. Dann hat nämlich bei einem Interessenkonflikt zwischen Gewerkschaft und Belegschaft die Belegschaft das letzte Wort. Heute ist es umgekehrt. Zweitens sollte der gesetzliche Kündigungsschutz eingeschränkt werden. Wenn die Gewerkschaften befürchten müssen, dass ihre Mitglieder die Konsequenzen der Hochlohnpolitik am eigenen Leib zu spüren bekommen, werden sie vorsichtiger sein.

Hohe Löhne bereiten uns vor allem im Wettbewerb mit osteuropäischen Ländern erhebliche Probleme. War die EU-Osterweiterung ein Fehler?

Nein. Die Osterweiterung war eine politische und ökonomische Notwendigkeit. Alle Staaten, auch die im Westen, können davon profitieren, wenn sie es richtig anstellen. Allerdings, und da muss man ehrlich sein, gehören die ungelernten Arbeiter des Westens, die nun Konkurrenz im Osten bekommen haben, auf jeden Fall zu den Verlierern der Osterweiterung, weil ihre Löhne unter Druck kommen. Will man die einfachen Arbeiter durch Maßnahmen zur Verteidigung der Löhne schützen, entsteht eine Massenarbeitslosigkeit. Das geht also schief. Es geht nur so, dass man dem Lohndruck nachgibt und dann durch staatliche Unterstützung in Form von Lohnsubventionen hilft. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht.

Welche Chancen stecken für den Standort Deutschland in der EU-Osterweiterung?

Wir können unsere Position als Drehscheibe des Handels ausbauen. Wir können uns auf das spezialisieren, wo wir stark sind, und viele Konsumgüter in Asien und sonst wo billig einkaufen. Dadurch steigt bei uns der Wohlstand, jedenfalls im Durchschnitt, ungeachtet der vielen Verlierer, über die ich gerade sprach.

„Vom Wirtschaftswunderland zum kranken Mann Europas“ ist ein Kapitel in Ihrem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ überschrieben. Was sind die Ursachen für den Absturz?

Die Ansprüche sind zu schnell gewachsen, und mit ihnen die Lohnkosten. Getrieben wurde die Entwicklung von den Gewerkschaften und vom Sozialstaat, der mit seiner Lohnersatzpolitik attraktive Einkommensalternativen außerhalb der beruflichen Tätigkeit geschaffen und damit die hohen Lohnansprüche maßgeblich mitbegründet hat.

Der Staat ist nur ein Teil. Müssen wir, die Menschen, auch an unserer Einstellung arbeiten? Nörgeln wir zu viel?

Wir sind zum Glück realistischer als manche andere. Wenn wir nörgeln, wollen wir die Dinge verbessern. Warum steht Deutschland trotz allem so gut da? Weil wir mit uns selbst immer sehr kritisch umgegangen sind. Wenn wir anfangen, Valium zu schlucken und alles schön zu finden, obwohl es das nicht ist, erlischt der Leistungswille, und der Wohlstand schwindet. Dann werden wir so wie viele andere Völker dieser Erde.

Zur Person

„Beim Taxifahren habe ich das wirkliche Leben kennen gelernt“, sagt Hans-Werner Sinn, 58, der während seines Studiums in Bielefeld hunderttausende Kilometer hinterm Lenkrad verbracht hat. Und: „Dass man manchmal hart arbeiten muss, um ökonomisch zu überleben.“ Der gebürtige Westfale gilt als einer der führenden Wirtschaftsexperten in Deutschland. Er berät den Bundeswirtschaftsminister. Mit seinen Büchern „Basar-Ökonomie“ und „Ist Deutschland noch zu retten?“ sorgte der Hochschullehrer und Präsident des Ifo-Instituts zuletzt für Aufsehen. „Endlich mal ein Wirtschaftswissenschaftler, der Tacheles redet“, bescheinigte ihm etwa der frühere BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel. Sinn ist seit 1971 mit seiner Frau Gerlinde verheiratet und Vater von drei Kindern.