"Nur eine Arbeitsmarktreform kann helfen"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Passauer Neue Presse, 14.06.2005, S. 4

ifo-Chef Hans-Werner Sinn erklärt im Interview mit der PNP, warum die deutsche Wachstumsschwäche nur mit einer Anpassung der Lohnstruktur zu überwinden ist.

Auf dem Münchner Wirtschaftsgipfel "Munich Economic Summit" haben sich die Experten skeptisch über die wirtschaftliche Entwicklung in der EU geäußert. Kann sich das europäische Modell des Sozialstaats gegen die weltweite Konkurrenz behaupten?

Sinn:Nein, kann es nicht. Bereits jetzt sieht man Zerfallserscheinungen allerorten. Europa weht der Wind des Wettbewerbs sehr scharf um die Nase, und die europäische Politik ist außer Stande, ein Rezept gegen die Niedriglohnkonkurrenz der exkommunistischen Staaten und China zu finden.

Wie wirkt sich das Scheitern der EU-Verfassung auf die wirtschaftliche Perspektive Europas aus?

Sinn: Zunächst einmal mit einem positiven Effekt: Der Euro wird schwächer, das belebt die Konjunktur. Es ist gut, dass die Verfassung noch einmal diskutiert wird, denn da stehen Dinge drin, die können wir gar nicht wollen. Würden die deutschen Bürger manche ihrer Implikationen kennen, würden sie die Verfassung vermutlich ablehnen.

Was sind die größten Knackpunkte?

Sinn:Problematisch ist besonders das soziale Inklusionsrecht. Ab 2011 werden Arbeitsmigranten aus Osteuropa den gleichen Anspruch auf die Leistungen des Staates haben wie Einheimische, und bis zum 1. Juni 2006 muss Deutschland die EU-Freizügigkeitsrichtlinie umgesetzt haben, die nicht arbeitenden Immigranten nach einer Wartezeit von fünf Jahren das volle Recht auf die Segnungen des Sozialstaates gibt. Das kann nicht funktionieren, denn die Osteuropäer sind viel zu arm, als dass sie diesen Verlockungen widerstehen könnten. Die Migranten werden sich in den besten Sozialstaaten sammeln, wie es schon in den letzten dreißig Jahren der Fall war. Die finanziellen Lasten werden nicht beherrschbar sein. Diesen Teil der Verfassung sollte man ersatzlos streichen.

Europa hinkt der globalen Konjunktur hinterher, Deutschland der europäischen. Was haben uns die europäischen Nachbarn voraus?

Sinn: Sie sind billiger. Lange Zeit waren sie uns in der wirtschaftlichen Entwicklung hinterher mit dem Ergebnis, dass die Löhne bis heute sehr viel niedriger als in Deutschland sind. Aus diesem Grund kommen diese Länder besser mit den Bedingungen der Globalisierung zurecht. Nehmen sie Österreich. Dort gibt es kein besseres Wirtschaftssystem, aber die Löhne sind noch etwa fünf Euro niedriger als bei uns, weil später mit Erhöhungen begonnen wurde. Das österreichische Wirtschaftssystem besitzt keinen grundsätzlichen strukturellen Vorteil, es handelt sich um einen Entwicklungsunterschied. Im Übrigen haben besonders kleinere Länder viel stärker von der Öffnung des Binnenmarkts profitiert als große. Das erklärt zum Teil den Aufschwung in Irland, Finnland, Belgien, den Niederlanden und Österreich in den letzten Jahrzehnten.

Im September finden voraussichtlich Neuwahlen statt. Eine Chance für den Aufschwung?

Sinn: Es ist gut, dass Neuwahlen stattfinden, denn es können ja nur zwei Dinge passieren: Behauptet sich Rot-Grün, bedeutet das eine Bestätigung des angestoßenen Reformprozesses; gewinnt die Union, wird sie noch weitergehende Maßnahmen umsetzen wollen. Die Reformen gehen also weiter. Jede Regierung wird sich allerdings schwer tun mit echten Reformen, die ans Eingemachte gehen. Es besteht deshalb immer die Gefahr, dass die Politik auf Nebenkriegsschauplätze ausweicht, um nicht die nächste Landtagswahl zu verlieren.

Was sind die drei wichtigsten wirtschaftlichen Bereiche für Reformen?

Sinn: Erstens der Arbeitsmarkt, zweitens der Arbeitsmarkt, und drittens der Arbeitsmarkt. Alles andere ist Nebensache. Weder die Steuerreform noch Renten- oder Bildungsreform haben eine zentrale Bedeutung für die mittelfristige Gesundung des Landes, auch wenn sie längerfristig sehr wichtig sind, ohne Frage. Die Anpassung der Lohnstrukturen ist das einzige Instrument zur Überwindung unserer Wachstumsschwäche. Die Löhne müssen in der Weise gespreizt werden, wie es den Marktgegebenheiten entspricht. Der Staat muss aufhören, Menschen aus dem Arbeitsmarkt herauszunehmen und zu alimentieren. Er sollte zum Partner werden, der Lohnzuschüsse zahlt. Dies muss man hart aussprechen, weil sich manche Politiker immer noch der Illusion hingeben, die Probleme ließen sich durch andere Maßnahmen lösen.

Der Konkurrenzdruck von Niedriglohnländern ist in Grenzregionen besonders hoch. In Ostbayern verlagern selbst kleinere Betriebe ihre Produktion. Bluten solche Regionen aus?

Sinn: Die Gefahr besteht, ja. Jedenfalls, was die produktive Arbeit angeht. Das sind ganz massive Lohnanpassungsprozesse, die dort in den nächsten Jahren ablaufen werden. Aber es gibt keine Möglichkeit, dem zu entkommen. Alle Maßnahmen, die die Lohnstruktur künstlich aufrechterhalten, führen zu einer Entleerung der Region. Möglicherweise dauert es noch eine Generation, bis das Lohnniveau diesseits und jenseits der Grenzen ausgewogen ist, aber es ist undenkbar, dass die heutigen Lohnunterschiede bestehen bleiben. Es lässt sich nur hoffen, dass die östlichen Nachbarn Deutschlands möglichst schnell auf unser Niveau kommen, sonst läuft es umgekehrt.

Das Interview führte Laurent Martinez