ifo Standpunkt Nr. 66: Einige Fakten zur Mehrwertsteuer

Autor/en
Hans-Werner Sinn
München, 21. Juli 2005

Die Union will die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte erhöhen und die Arbeitgeber-Beiträge zu Arbeitslosenversicherung um zwei Prozentpunkte senken. Das bedeutet netto ein Einnahmeplus und damit eine Mehrbelastung, weil die Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer deutlich größer ist als die der sozialversicherungspflichtigen Lohnsumme der Arbeitnehmer. Die Schätzungen für die jährliche Mehrbelastung liegen zwischen ein und drei Milliarden Euro.

Der Staat braucht das Geld, um einen Beitrag zur Konsolidierung der maroden Staatsfinanzen zu leisten. Der Beitrag ist freilich klein, denn für eine echte Konsolidierung ohne Neuverschuldung braucht man um die 75 Milliarden Euro. So groß ist nämlich das staatliche Finanzierungsdefizit des Jahres 2005. Allein schon die Senkung des Finanzierungssaldos auf die Drei-Prozent-Grenze würde rund neun Milliarden Euro verlangen.

Begründet wird die Umfinanzierungsmaßnahme mit dem Versuch, die für den internationalen Vergleich relevanten Arbeitskosten zu senken und Standortentscheidungen wieder zugunsten Deutschlands ausfallen zu lassen. Diese Begründung ist vom Grundsatz her korrekt, denn die Mehrwertsteuer wird nach dem so genannten Bestimmungslandprinzip erhoben und ist insofern für Entscheidungen über Produktionsstandorte nicht relevant. Die Produktion wird mit der Mehrwertsteuer des Ziellandes, an das man liefert, nicht aber mit der Mehrwertsteuer des Lieferlandes belastet.

Leider ist der Entlastungseffekt minimal. Mit etwa 27 Euro pro Stunde liegt Westdeutschland bei den durchschnittlichen Arbeitskosten für Industriearbeiter vor wichtigen Nachbarländern wie Schweden (23 Euro), Frankreich (20 Euro), Österreich (21 Euro) und Großbritannien (19 Euro). Die geplante Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wird die deutschen Arbeitskosten nur um etwa 20 Cent verringern, und das auch nur, wenn die Gewerkschaften bei den nächsten Tarifverhandlungen nicht nachfassen und den Verteilungsspielraum zu ihren Gunsten nutzen.

Praktisch gar keine Senkung der Lohnkosten ergibt sich im Binnenverhältnis, wenn Lieferland und Zielland übereinstimmen. Da wirkt die Mehrwertsteuer nämlich ganz ähnlich wie eine Abgabe auf den Lohn und unterscheidet sich nicht wesentlich von den Sozialabgaben. Betrachten wir einen durchschnittlich verdienenden westdeutschen Arbeitnehmer, dessen Ehepartner ein Drittel hinzu verdient und der zwei Kinder hat. Beispielsweise ein Malergeselle, der bereits arbeitet und nun für einen weiteren Kundeneinen zusätzlichen Auftrag erledigt. Dafür schreibt der Inhaber des Malergeschäfts eine Rechnung. Darauf stehen Farbe, Pinsel, Anfahrt und ein Betrag von 1000 Euro für die reinen Arbeitskosten ohne Deckungsbeitrag, doch einschließlich aller Steuern. Von diesen 1000 Euro fließen derzeit 643 Euro an den Staat, der Arbeitnehmer erhält 357 Euro ausbezahlt, also nur etwa ein Drittel. In den 643 Euro, die der Staat erhält, stecken 138 Euro Mehrwertsteuer und 46 Euro Beitrag zur Arbeitslosenversicherung. Die geplante Senkung dieses Beitrages um zwei Prozentpunkte entspricht einer Abnahme der Abgaben um etwa 15 Euro, die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer einer Zunahme der Abgaben um ebenfalls etwa 15 Euro. Die Grenzabgabenlast beträgt weiterhin 64 Prozent.

Mit einer solchen Grenzabgabenlast bleibt Deutschland in der Weltspitze, übertroffen nur noch von Frankreich, wo sogar 70% anfallen. Hochsteuerländer wie Schweden, die Niederlande oder Dänemark belasten den nach jeweiligem Landesdurchschnitt verdienenden Arbeitnehmer mit gleichem Familienstand nur mit marginal 61, 59 und 55 Prozent, und im neoliberalen Großbritannien fallen gar nur 49 Prozent an.

Man hüte sich also vor der Hoffnung, dass mit der geplanten Umfinanzierung ein Beitrag zur Senkung der Schwarzarbeit geleistet wird, dass die Deutschen sich statt für die Freizeit wieder stärker für das Arbeiten entscheiden werden oder dass die durch die hohen Lohnkosten zerstörte Binnennachfrage nach Bauleistungen, nach den Leistungen des deutschen Gastgewerbes oder nach anderen Dienstleistungen in nennenswertem Umfang ansteigen könnte.

Die Mehrwertsteuer ist eben im wesentlichen Umfang eine versteckte Lohnsteuer und kann insofern nur einen sehr begrenzten Umfang zur Lösung des deutschen Kardinalproblems der extrem hohen Steuern und Abgaben auf Löhne leisten. Wirkliche Maßnahmen zur Senkung der deutschen Arbeitskosten müssen beim Tarifrecht und bei der Lohnkonkurrenz des Sozialstaates ansetzen, die die Löhne für einfache Arbeit festzurrt. Aber das ist ein anderes Thema.

Dennoch ist es richtig, dass die Mehrwertsteuer eine breitere Bemessungsgrundlage als eine reine Lohnsteuer hat und insofern als Instrument der Umverteilung zugunsten der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer eingesetzt werden kann. Sie belastet nämlich auch alle anderen Einkommensbezieher, etwa die Beamten sowie die Bezieher gesetzlicher Renten und anderer staatlicher Transfers.

Vor allem ist sie eine implizite Steuer auf den zum Zeitpunkt ihrer Einführung vorhandenen Vermögensbesitz, weil sie bei der konsumptiven Verwertung des Vermögens, wann immer sie geplant ist, ansetzt. Der Realwert der Summe aller Vermögenswerte fällt, sofern diese Vermögenswerte Konsum in Deutschland speisen, entsprechend der Zunahme des Steuersatzes. Und dabei spielt es vom Grundsatz her kaum eine Rolle, ob die Steuer überwälzt wird oder nicht, denn diese Frage entscheidet nur darüber, wie sich die Eigentümer von realen Vermögensobjekten und von nominalwertgesichertem Finanzkapital die Lasten teilen.

Hans-Werner Sinn
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Erschienen unter dem Titel "Verfehlte Hoffnungen“, WirtschaftsWoche, Nr. 30, 21. Juli 2005, S. 122.