Säkulare Stagnation oder selbst produziertes Siechtum?

Hans-Werner Sinn

Project Syndicate, 27.09.2016

MÜNCHEN – Vor ziemlich genau acht Jahren stürzte die Lehman-Krise die Weltwirtschaft in die Rezession. Der Interbankenmarkt brach zusammen, und die gesamte industrielle Welt geriet eine schwere Krise, die schlimmste der Nachkriegszeit. Die Krise ist noch nicht wirklich überwunden, denn überall auf der Welt halten es die Notenbanken für notwendig, die Wirtschaft mit Niedrigstzinsen nahe bei Null zu stützen. Dennoch gibt es viele Volkwirtschaften, so z.B. die südeuropäischen Länder und Frankreich, die einfach nicht vom Fleck kommen. Japan hängt schon ein Viertel Jahrhundert in den Seilen.

Einige Volkswirte glauben, es zeige sich hier das schon von Alvin Hansen beschriebene Phänom der säkularen Stagnation, der selbst wiederum gedankliche Anleihen beim Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate von Karl Marx gemacht hat. Wegen der allmählichen Erschöpfung der rentablen Investitionsprojekte sei der natürliche Realzins immer weiter gesunken, so dass die Wirtschaft nur bei einem entsprechend fallenden Geldzins stabilisiert werden könne.

Angesichts der enormen Kreditblase, die der Krise in Japan, den USA und Südeuropa vorausging und der aggressiven Politiken der Notenbanken während der letzten Jahre habe ich starke Zweifel, ob diese Theorie stimmt. Ich sehe vielmehr einen ganz anderen Mechanismus hinter dem Geschehen, den ich "selbst-produziertes Siechtum" nenne.

Man versteht diese Hypothese am besten vor dem Hintergrund des Schumpeterschen Konjunkturzyklus. Aufgrund von Erwartungsfehlern bilden sich in einer Marktwirtschaft regelmäßig Kreditblasen mit stark wachsenden Asset-Preisen, die platzen, und danach wieder neues Wachstum ermöglichen. Investoren kaufen in Erwartung steigender Preise und Einkommen Wohn- und Gewerbeimmobilien, und sie wagen neue Unternehmungen. Weil sie das tun, steigen die Immobilienpreise, es gibt einen Bauboom, und eine neue Gründerzeit setzt ein, die sich über die Belebung der Binnenwirtschaft ein Stück weit selbst trägt und die Dienstleistungssektoren mit erfasst. Die wachsenden Einkommen machen die Kreditnehmer immer wagemutiger, was die Stimmung weiter aufheizt.

Dann platzt die Blase. Die Ökonomie kollabiert, und die Immobilienpreise fallen; Firmen und Banken gehen in Konkurs;  Grundstücke, Fabrikgebäude, Wohnhäuser und nicht zuletzt Arbeitskräfte werden frei. Bei niedrigen Preisen und günstigen Arbeitslöhnen steigen wieder neue Investoren ein, die neue Firmen mit neuen Geschäftsideen aufbauen. Nach der "schöpferischen Zerstörung" setzt eine neue Gründerzeit ein.

In der gegenwärtigen Krise wurde die schöpferische Zerstörung, die die Basis des neuen Aufschwungs hätte sein können, durch die Geldpolitik der Zentralbanken verhindert, die sich von den Vermögensbesitzern hatten einreden lassen, durch großangelegte, mit der Druckerpresse finanzierte Anleihenkäufe und entsprechende Zinssenkungen könne man den Schumpeterschen Konjunkturzyklus überwinden. Sie stoppten den Verfall der Asset-Preise auf halber Höhe und retteten so viele Vermögen, doch verhinderten sie auch, dass sich genug junge Unternehmer und Investoren bereit fanden, den Neustart zu wagen. Die Plätze blieben von Altunternehmen besetzt, die sich mühsam über Wasser hielten, doch keine Kraft für neue Investitionen hatten.     Insbesondere in Japan und Europa blieben haufenweise Zombie-Firmen und Zombie-Banken erhalten und blockieren aufstrebende Konkurrenten, die das Wachstum der Zukunft tragen könnten. So erstarrt die Wirtschaft in einer Situation, die wie eine Säkulare Stagnation vom Hansen-Typ aussieht, aber in Wahrheit ein selbstgemachtes Siechtum  ist.  

Und weil niedrige Zinsen den Asset-Managern einen Teil ihrer Rendite wegnahmen, haben einige Notenbanken wie insbesondere die EZB über sukzessive weiter sinkende Zinsen ersatzweise Wertzuwächse für Assets zu fabrizieren versucht. Die Ökonomie geriet dadurch  in eine Falle, aus der es kein Entrinnen mehr gibt, und die EZB zu immer brutaleren und radikaleren geldpolitischen Maßnahmen zwang bis hin zum QE-Programm, das die Geldmenge innerhalb kürzester Zeit mehr als verdoppeln soll. Weitere Geschütze wie sukzessive negativer werdende Zinsen oder Helikoptergeld werden in Stellung gebracht.

Aus dieser Falle kann nur eine Reinigungskrise der Schumpeterschen Art herausführen, die in Europa mit Schuldenschnitten und Euro-Austritten einhergehen müsste, denen Währungsabwertungen folgen. Die Krise ist zwar hart, doch schafft sie nach einem abwertungsbedingten, rapiden Rückgang der Dollar- oder Euro-Werte der Asset-Preise inklusive der Preise von Land und Immobilien schon nach kurzer Zeit wieder wieder Platz für neue Firmen und Investitionsprojekte. Die natürliche Rendite ist dann wieder hoch, so dass die Wirtschaft zu normalen Zinsen wachsen kann.  Je früher man diese Reinigungskrise stattfinden lässt, desto glimpflicher wird sie ausgehen und desto eher  können die Europäer wieder aufatmen.

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