Die gefährliche Semantik der Notenbanker

Die EZB will steigende Risikoprämien für die Staatsanleihen von Schuldenstaaten verhindern. Das unterhöhlt die Währungsunion.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 15. Juli 2022, Nr. 29, S. 41.

Seit der Finanzkrise hat die Europäische Zentralbank (EZB) die Probleme der Euro-Zone mit frisch gedrucktem Geld zugeschüttet. Es gab Geld für jene Staaten und ihre Gläubiger, die am Rande des Konkurses standen, Geld für Sozialprogramme der EU, Strukturhilfen für die Peripheriestaaten, Geld für die europäischen Arbeitslosen, Geld für die Firmen und Menschen, die während der Coronapandemie selbst keines mehr verdienen konnten. Die Geldmenge wurde relativ zur Wirtschaftsleistung versechsfacht, und es entstand ein Geldüberhang von 5,3 Billionen Euro, wovon 4,4 Billionen Euro durch den Kauf von Staatspapieren in Umlauf kamen. Bei einer solch gigantischen Akkumulation von Zunder war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Zündfunke den Brand auslösen würde.

Dieser Zündfunke war die Coronakrise. Sie hat weltweite Lieferengpässe verursacht und einen Nachfrageüberhang geschaffen, der sich nun in einer hohen Inflation entlädt. Die Teuerungsrate der Euro-Zone lag im Juni bei neun Prozent, und noch viel mehr Inflation ist in der Pipeline. So stiegen die gewerblichen Erzeugerpreise im Euro-Raum im Mai um 36 Prozent. Deutschland verzeichnete 34 Prozent, das ist der bei Weitem höchste Wert seit Gründung der Bundesrepublik. Selbst die Preisschübe während der Ölkrisen der Siebzigerjahre und des Koreakriegs verblassen im Vergleich dazu.

Sollten die statistischen Gesetzmäßigkeiten der Vergangenheit weiterhin gelten, würde die deutsche Inflation bei den Erzeugerpreisen mit einer Verzögerung von drei Monaten zu einem Drittel in die Konsumgüterpreise übertragen. Weiteres Unheil steht also bevor.

Und was tut die EZB? Die Notenbank sieht sich angesichts ihres katastrophalen Politikversagens gezwungen, den Nettokauf von Staatsanleihen zu beenden. Doch ein Problem sind die besonders rasch anwachsenden Zinsen der hoch verschuldeten Länder des Mittelmeerraums. Die Budgets dieser Länder wurden auf die Niedrigzinswelt mit vernachlässigbaren Kosten der Verschuldung ausgerichtet. Dreht die EZB den Geldhahn zu, sind politische Unruhen programmiert.

Die vermeintliche Lösung, über die die EZB nun intensiv nachdenkt, besteht in einem Austausch der Staatspapiere der nördlichen Länder durch jene der südlichen Staaten. Dieser Austausch in der EZB-Bilanz würde es den mediterranen Ländern ermöglichen, sich weiterhin heftig zu verschulden, ohne dass die Zinsspreads stiegen. Die EZB spricht davon, dass sie die „Fragmentierung“ der Zinsen und Finanzierungsbedingungen in der Währungsunion verhindern möchte, um die „Transmission der Geldpolitik“ zu sichern.

Austausche der Staatspapiere: Vermeintliche Lösung ist nur Semantik

Doch das ist nichts als Semantik, ausgedacht von Kommunikationsprofis. Tatsächlich braucht jede funktionierende Föderation einen Mechanismus, der die Zinsen der Staatspapiere nach der Bonität der Emittenten differenziert. Denn nur so können die effektiven Zinsen, also die auf dem Papier vereinbarten Nominalzinsen abzüglich der Konkurswahrscheinlichkeit, angeglichen werden.

Das normative Hauptgesetz der Volkswirtschaftslehre ist das „Gesetz des einen Preises“. Im vorliegenden Zusammenhang meint es die Gleichheit der effektiven Zinsen aller Länder der Euro-Zone. Diese Gleichheit sorgt für eine Aufteilung des verfügbaren Vorrats an Investitionskapital auf die einzelnen Länder, die das gemeinsame Sozialprodukt maximiert. Bei unterschiedlichen Konkurswahrscheinlichkeiten impliziert die Gleichheit der effektiven Zinsen ungleiche nominale Zinsen – halt das, was die EZB abwertend Fragmentierung nennt.

Doch ist Fragmentierung nichts Schlechtes. Sie wird normalerweise durch die Kapitalmärkte effizient und von ganz allein hergestellt: Wenn sich ein Land mehr als andere verschuldet und das Risiko eines Zahlungsausfalls steigt, bekommen die Anleger kalte Füße. Sie drohen, sich aus den betreffenden Staatspapieren zurückzuziehen und verlangen einen höheren Zins. Der steigende Zins wiederum zwingt den Staat, sparsamer zu wirtschaften und gegebenenfalls die Steuern zu erhöhen, um die Konkursgefahr in Schach zu halten.

Ohne Fragmentierung können hoch verschuldete Euro-Staaten weiterhin mehr Geld ausgeben, als es ihnen guttut – beziehungsweise als sie politisch wagen, ihren Bürgern in Form von Steuern abzuverlangen. Das bedeutet neuen Zunder speziell für jene Länder, deren Inflation bereits deutlich über dem Durchschnitt der Euro-Zone liegt.

Diese Länder müssten nun eigentlich langsamer inflationieren als der Rest. Nur so können sie allmählich die Wettbewerbsfähigkeit wiedergewinnen, die sie im Boom verloren haben, den der Euro ihnen wegen der künstlichen Zinsangleichung bereits in den Anfangsjahren beschert hat. Heute liegt die Inflation der gewerblichen Erzeugerpreise zum Beispiel in Italien und Spanien weit über dem Durchschnitt der Währungsunion.

Um es klar zu sagen: Wer die Fragmentierung der Zinsen bekämpft, gefährdet die Stabilität des Euro-Systems.

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