Focus, 16. Oktober 2025, Nr. 43, S. 52-55, auch veröffentlicht als „Nur wer arbeitet, sollte Geld vom Staat bekommen", Focus Money, 16. Oktober 2025, Nr. 43, S. 30-33.
Wie kommen Deutschland und Europa aus der Krise? Starökonom Hans-Werner Sinn macht im Gespräch mit FOCUS klare Vorschläge, wie wir aus der Defensive kommen können. Vor unpopulären Ideen hatte der frühere Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung noch nie Angst.
Focus: Die deutsche Wirtschaft stagniert seit drei Jahren. Trauen Sie Bundeskanzler Merz und seiner Koalition zu, Deutschland auf den Wachstumspfad zurückzuführen?
Hans-Werner Sinn: Wirtschaftswachstum müssen die Unternehmen schaffen. Die Bundesregierung kann aber Fesseln lösen, indem sie die private Wirtschaft wieder machen lässt. Die Milliarden Euro an Steuergeldern können nur ein Strohfeuer erzeugen. Um echtes Wachstum zu schaffen, müssen die Produktionskapazitäten vergrößert werden. Dafür braucht es mehr Arbeitskräfte. Der Sozialstaat muss daher mehr Menschen zur Arbeit aktivieren. Noch immer wird sehr viel Geld in einen Sozialstaat gesteckt, der sein Geld auszahlt, wenn man nicht arbeitet. So lässt sich auf Dauer kein Wachstum erzeugen.
Die Koalition hat sich auf die Abschaffung des Bürgergeldes durch eine neue Grundsicherung mit schärferen Sanktionen geeinigt. Kann unser Sozialsystem wieder auf Vordermann gebracht werden?
Die kleinen Reformen am Bürgergeld sind vergebliche Liebesmüh.
Was muss passieren?
Statt der Verschärfung der Bedingungen für das Bürgergeld brauchen wir einen Bürgerlohn. Das bedeutet: Staatliches Geld für arbeitsfähige Bedürftige gibt es nur, wenn sie dafür auch arbeiten. Der Staat muss notfalls auch selbst Arbeit zur Verfügung stellen, damit niemand ungeschützt bleibt. Die Kommunen müssen Arbeitsplätze schaffen, und für diese Arbeit kann dann Geld gezahlt werden. Besen lassen sich kaufen, und zu fegen gibt es genug. Unser Problem ist: In Deutschland gibt es Millionen von Menschen, die gesund und arbeitsfähig sind, aber trotzdem nicht arbeiten, sondern lieber Bürgergeld beziehen. Dadurch bleiben auch viele Lehrstellen unbesetzt. Die Bundesanstalt für Arbeit klagt zu Recht, dass das Bürgergeld gerade bei jungen Migranten die Bereitschaft reduziert hat, überhaupt Lehrstellen anzunehmen. Daher mein Vorschlag: Staatliches Geld aus den Sozialkassen gibt es nur als Arbeitslohn. Dann werden bislang unbesetzte Lehrstellen plötzlich attraktiv.
Müssen die Deutschen künftig mehr und besser arbeiten, um im globalen Wettbewerb mit den USA, China und anderen Schwellenländern bestehen zu können?
Bei der jährlichen Arbeitszeit steht Deutschland ziemlich am Ende der globalen Statistik. In anderen Ländern wird viel mehr gearbeitet als in Deutschland.
Warum ist das so?
Das liegt erstens daran, dass wir zu viele Feiertage in Deutschland haben. Hierzulande gibt es so viele Feiertage, wie die Amerikaner Urlaubstage haben. Zweitens haben die Deutschen viel Urlaub im internationalen Vergleich. Drittens missbrauchen viele Menschen das Sozialsystem, indem sie sich krankmelden, obwohl sie arbeiten könnten. Das erklärt die vielen Krankheiten an Brückentagen und Montagen.
Wie kann man das ändern?
Das geht sehr schnell, wenn Beschäftigte für den ersten Krankheitstag keinen Lohn erhalten. Ein bisschen Risiko im Krankheitsfall kann jeder selbst tragen.
Die Bundesregierung will mit einer 500 Milliarden Euro schweren Sonderverschuldung der deutschen Wirtschaft zum Aufschwung verhelfen. Wie optimistisch sind Sie, dass das Geld zielgerichtet und effektiv ausgegeben wird?
Ein erheblicher Teil des Geldes wird zum Stopfen von Haushaltslöchern ausgegeben. Die Gefahr der ineffizienten Verwendung hat der Bundesrechnungshof bereits moniert.
Frankreich steckt in der Krise. Wie groß ist die Ansteckungsgefahr für Deutschland?
Frankreich und andere Mittelmeerländer haben sich angesichts der extrem niedrigen Zinsen, die der Euro bot, massiv verschuldet. Auf Deutschland als Hauptgarant des Euros sind immer mehr Haftungsrisiken zugekommen. Denn die Kapitalmärkte wenden sich im Krisenfall an Deutschland. Sie erwarten, dass Deutschland abermals einen fiskalischen Rettungsplan akzeptiert oder auch die Rettung aus der Druckerpresse der Europäischen Zentralbank (EZB).
Was bedeutet das für die Bonität Deutschlands?
Deutschlands Bonität wird dadurch verringert. Sie wird des Weiteren verringert, wenn Deutschland finanziell über die Stränge schlägt und sich auch noch selbst weiter verschuldet. Unter den großen Ländern der Welt besitzt Deutschland als einziges noch eine AAA-Bonität. Die USA haben dieses Triple-A Rating längst verloren.
Was würde der Verlust dieser Bonität für die Bundesrepublik bedeuten?
Der Zinssatz für die Verschuldung würde sinken. Deutschland verlöre seine Rolle als Anker des Eurosystems. Am Ende des zwölften Jahres massiver Verschuldung, möchte ich nicht wissen, wie Deutschland dann aussieht.
Wie kann eine Rückkehr zur Haushaltsdisziplin im Euro-Raum erfolgen, um die finanzpolitische Stabilität in der Währungsunion zu garantieren?
Deutschland muss auf den Maastrichter Vertrag pochen, der die Staatsfinanzierung mit der Druckerpresse ausschließt und auch die Rettung eines überschuldeten Landes. Die Bundesrepublik darf nicht immer nachgeben. Es stehen jetzt ganz andere Aufgaben an. Die politische und geostrategische Situation hat sich mit der Aggressivität des russischen Präsidenten Putin und mit dem Zollregime von US-Präsident Trump dramatisch verschlechtert. Wir haben gewaltige Aufgaben wie die Verteidigung Europas gegen Russland zu bewältigen. In einer solchen Situation wird das finanzielle Füllhorn langsam leer. Wir müssen von unseren Nachbarn wie Frankreich verlangen, sich finanzpolitisch endlich am Riemen zu reißen.
Deutschland besitzt keine Atomwaffen. Brauchen wir eine neue Art der Zusammenarbeit für den Verteidigungsfall?
Wir müssen eine Verteidigungsunion mit den anderen Ländern Europas aufbauen, allen voran Frankreich. Was der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl versucht hatte und ihm durch den französischen Staatspräsidenten François Mitterrand entwunden wurde, muss jetzt kommen. Frankreich besitzt die Atomwaffe und wehrt sich mit Händen und Füßen, die anderen europäischen Länder daran zu beteiligen. Die französische Regierung sagt zwar, dass sie bereit ist, ihre europäischen Nachbarn zu schützen, behält aber den roten Knopf im Elysée-Palast. Sie will stets allein darüber entscheiden, wann und wo die Atomwaffen eingesetzt werden. Das ist kein Schutz im Verteidigungsfall.
Was schlagen Sie vor?
Deutschland hat seine D-Mark unter dem Namen Euro vor mehr als drei Jahrzehnten sozialisiert und alle anderen Länder gleichberechtigt an der D-Mark partizipieren lassen. Das sollte Frankreich jetzt mit seiner Atomwaffe tun.
Wie soll das funktionieren?
Es bedarf eines europäischen Oberkommandos, das über sämtliche Waffen einschließlich der Atomwaffen verfügt. Das zu fordern, ist legitim. So wird eine Gleichgewichtigkeit zwischen der Deutschen Mark und der französischen Atomwaffe geschaffen, das im Zuge der Wiedervereinigung von Mitterrand verweigert wurde. Wir müssen diesen historischen Fehler schleunigst korrigieren. Putin steht vor unserer Haustür. Er scharrt mit den Hufen und gewinnt täglich neues Land in der Ukraine.
Sie schlagen vor, die Verteidigung zur Gemeinschaftsaufgabe zu machen und einen Europäischen Bund neben der EU und innerhalb der Nato zu gründen. Was sollte dieser Europäische Bund besser können als die bisherigen beiden Organisationen in Brüssel?
Ich schlage einen Europäischen Bund als Zusammenschluss der Armeen der demokratischen Länder unter einem gemeinsamen Oberkommando vor. Diese Organisation soll von einem speziellen Verteidigungsparlament demokratisch kontrolliert werden. Die Vertreter dieses Verteidigungsparlaments werden von Bürgern direkt, geheim und frei gewählt.
Sie sagen: „Handel führt zum ewigen Frieden. Krieg zum ewigen Chaos.“ Doch der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zeigt, dass die Doktrin des Wandels durch Handel für autokratische Regime in Moskauoder China nicht gilt, oder?
Das Gegenteil ist der Fall. Der Westen hätte die ausgestreckte Hand des jungen Putins im Jahr 2001 ergreifen müssen, als er eine Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon angeboten hatte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lag Russland am Boden. Im Jahr 1998 war Russland pleite. Damals hätte der Westen eine marktwirtschaftliche Kooperation mit Russland erreichen können, um das Land allmählich stärker an den Westen zu binden. Stattdessen zelebrierte man den Sieg im Kalten Krieg und wollte die Gelegenheit nutzen, die amerikanischen Raketen näher an die russische Grenze heranzubringen. Als dann auch noch die Ukraine in die Nato kommen sollte, lief das Fass über. Der russische Angriffskrieg ist zwar völkerrechtswidrig, aber er wurde durch die USA provoziert, die den Hals nicht vollkriegen konnten. Das war eine falsche, hoffentlich nur unüberlegte und letztlich für Europa gefährliche Politik.
Kann das demokratische Europa diesen historischen Fehler ausbügeln?
Die Situation zwischen Russland und der Ukraine ist ziemlich verfahren. Trotzdem führt kein Weg an dem Versuch vorbei, einen Frieden zu suchen. Der wird nicht so sein, wie die Amerikaner ihn gerne hätten und auch gar nicht so gut wie der, den man im Jahr 2001 hätte schließen können. Der Westen wird erhebliche Abstriche bei seinen Vorstellungen und Wünschen machen müssen. Einen auch für West- und Mitteleuropa auskömmlichen Frieden wird man aber nur finden können, wenn Europa stark ist und sich auch gegenüber den USA politischen behaupten kann. Dazu ist ein enger Schulterschluss nötig.
Ist es in dieser geopolitisch gefährlichen Situation gut, dass uns die gemeinsame Währung Euro in Kerneuropa zusammenhält?
Der Euro ist ein gegenseitiges Schutzbündnis gegen spekulative Attacken. Aber wie bei allen solchen Schutzbündnissen gibt es Missbrauch. Im Fall der Währungsunion ist es die Überschuldung einzelner Mitgliedsländer. Die Überschuldung gefährdet langfristig Europa.
Warum sind sie so skeptisch?
Ich will den Euro nicht abschaffen, aber ich verspreche mir von ihm nicht allzu viel. Wir müssen die Währungsunion entschieden marktwirtschaftlicher organisieren und nicht jede Verschuldungskrise eines kleinen Landes mit Gemeinschaftsgeld zu lösen versuchen. Die Regel muss sein, dass die Zinsen, die ein Land zahlen muss, umso höher sind, je mehr Schulden es macht, aber das lässt sich nur realisieren, wenn das einzelne Land und seine Gläubiger selbst die Konsequenzen der eigenen Überschuldung ausbaden müssen.
Sie haben in der Widmung an Ihre beiden Enkel appelliert: „Haltet Europa zusammen, wenn Ihr groß seid!“ Wie sollen Ihre Enkel diesen frommen Wunsch umsetzen?
Indem meine Enkel verhindern, dass wir in die Nationalstaaterei zurückfallen. Deswegen halte ich es für unerlässlich, dass wir den Europäischen Bund gründen, damit die willigen Länder ihre Verteidigungskräfte unter einer gemeinsamen Leitung zusammenschließen. Der demokratisch kontrollierte Europäische Bund wäre effizienter und handlungsfähiger, um Russland abzuschrecken. Das ist für mich proeuropäisch und alles andere als nationalistisch.
Wie stark sind noch die USA? Droht mittelfristig die Pleite?
Die USA sind angeschlagen. Das sagen auch die Ratingagenturen, welche die Bonitätsnote für die USA runtergesetzt haben. Das Budget der USA zur Bedienung der steigenden Staatsschulden entspricht ungefähr dem Verteidigungsetat. Amerika ist auf einem gefährlichen Pfad. Das sieht man auch deutlich, wenn man sich die gesamte Verschuldung Amerikas aller Sektoren der amerikanischen Wirtschaft, also Firmen, Haushalte und Staaten zusammen genommen gegenüber dem Ausland anschaut, das sind 90 Prozent des BIP. Eine solch hohe Verschuldung finden sie sonst überhaupt nirgends auf der Welt bei größeren Ländern. Die USA brauchen dringend frisches Geld. In der Politik von Präsident Trump dreht sich alles um Geld. Die Amerikaner erheben Zölle gegen den Rest der Welt, um Haushaltslöcher zu stopfen. Sie wollen sich ihre Waffenlieferung an die Ukraine von den Europäern bezahlen lassen. Sie wollen die Hälfte der Bodenschätze der Ukraine, um an neues Geld zu kommen.
Trotz ihrer pessimistischen Analyse für die USA erzielt der S&P 500 immer neue Rekorde. Sind das Übertreibungen des Marktes?
Die Kursentwicklung des S&P 500 seit der Wahl von Trump insgesamt ist ungefähr so, wie sich der Dax entwickelt hat. Nur wer jetzt im Ausland amerikanische Aktien hält, der muss ja noch die Abwertung des Dollars berücksichtigen. Von daher ist die Gesamtperformance der amerikanischen Aktien miserabel im Vergleich zu den europäischen Aktien. Und wer in Amerika amerikanische Aktien mit europäischen Aktien vergleicht, wird eben auch feststellen, dass er durch die Aufwertung des Euro mit den europäischen Aktien viel besser gefahren ist.
Sehen Sie die Gefahr einer Blasenbildung an den Börsen? Der Dax hatte zuletzt die Grenze von 24 000 Punkten geknackt?
Die Gefahr einer Börsenblase existiert. Sie ist die Folge der Zinssenkungen der Notenbanken. Trump setzt sich massiv dafür ein, dass Jerome Powell als Chef der Federal Reserve durch den ihm genehmen Stephen Miran ausgetauscht wird. Miran wird eine extreme Niedrigzinspolitik machen, um den amerikanischen Haushalt zu retten. Damit treibt er die Kurse an den Börsen. Kurse reflektieren zum einen die realwirtschaftliche Stärke, zum anderen nur die Relation zu anderen Anlageformen. Das heißt, je niedriger die Zinsen auf Staatspapiere sind, desto höher sind die Kurse. Und wenn die Zinsen jetzt künstlich durch politischen Einfluss gesenkt werden, dann gehen die Kurse noch weiter hoch. Eine Folge der Notenbankpolitik ist, dass der Euro stark aufgewertet hat und das womöglich noch weiterhin tut. Das setzt den europäischen Firmen bereits zu. Jetzt die Zinsen zu halten in Europa, während sie in Amerika fallen, hieße ja noch mehr Aufwertung des Euro zu akzeptieren. Das wird die Europäische Zentralbank nicht durchhalten wollen. Sie wird auch die Zinsen senken. Die Folge ist dann eine höhere Inflation.
Sie schreiben in Ihrem neuen Buch: „Der Freihandel ist eine wesentliche Quelle des Wohlstands der Menschheit.“ Müssen wir in Zeit wachsender Zölle um den Erhalt unseres Wohlstands fürchten?
Es hat in der Geschichte immer wieder Rückbesinnungen auf den Protektionismus gegeben. In der Menschheitsgeschichte hätte man einen dramatischen Anstieg des Lebensstandards nicht ohne Freihandel realisieren können. Das ist ein wesentlicher Treiber der wirtschaftlichen und auch kulturellen Entwicklung der Menschheit gewesen, über alle Perioden hinweg. Jetzt sind wir in einer rückwärtsgewandten Phase. Prosperität resultiert aus freiem Handel. Der Handel macht die Länder abhängig voneinander und schafft Frieden. Diese Erkenntnis wird zurzeit ausgeblendet. Die Folge des Protektionismus ist: Wir verlieren alle an Wohlstand.
Das Interview führte Hans-Peter Siebenhaar.
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