Position

Charles B. Blankart, Der Tagesspiegel, 7. März 2015, S. 11

Wer wissen will, wer in der Ökonomenskala ganz oben steht, sollte Martin Hellwigs Beitrag im Tagesspiegel vom 23.2.2015 lesen. Nur eine Ergänzung ist erforderlich.

Nach dem Urteil von zwei früheren Vorsitzenden des Sachverständigenrates ist Hans-Werner Sinn "sicherlich der innovativste und einflussreichste Ökonom der letzten zwei oder drei Jahrzehnte in Deutschland" - veröffentlicht in einer kürzlich erschienen Dokumentation der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Hellwig sieht das unter anderem als Funktionsträger der EZB anders. Er möchte Sinn auf den kleinen Bereich der Finanzwissenschaft (im Sinne der Wissenschaft der Finanzierung des Staates) zurechtstutzen. Hellwig schreibt: "Sinn ist ein ausgewiesener Spezialist für Staatsfinanzen. Mit dem Geldwesen dagegen hat er sich wissenschaftlich nicht beschäftigt." Als regelmäßiger Leser von Sinns Büchern und Aufsätzen muss ich aber feststellen, dass Hellwig mit der Reduzierung von Sinn auf dessen Beiträge zu Staatsfinanzen nur einen kleinen Teil seines Œuvres erfasst.

Hellwig übergeht zahlreiche Beiträge zur Makroökonomie, vor allem zur Geldtheorie. Schon im Jahr 1977 wies Sinn auf die verfehlten Risikoanreize im Fall von beschränkter Haftung hin. 1991 deckte Sinn mit seiner Frau Gerlinde Sinn die problematischen Implikationen der Ost -West-Währungsumstellung auf. 1997 wies er nach, dass in den Landesbanken eine Zeitbombe tickte, die dann in der Finanzkrise explodierte.

In einem im selben Jahr mit Holger Feist im "European Journal of Political Economy" veröffentlichten Artikel erkannte Sinn, dass Deutschland durch die Neuverteilung der Geldschöpfungsgewinne in der Euro-Währung 48 Milliarden Euro verlieren würde. Sodann führte er mit Frank Westermann die anfängliche Euro-Abwertung in einer theoretischen und empirischen Analyse auf die Flucht aus dem D-Mark-Bargeld zurück. Als in den Jahren danach die meisten deutschen Geldtheoretiker in Beschaulichkeit verharrten, deckte Sinn 2011 die Rutschbahn der Target-Salden auf, auf der die Europäische Zentralbank (EZB) hunderte Milliarden Euro von Nordeuropa nach Südeuropa verschob.

Der Nestor Helmut Schlesinger, der noch die Fähigkeit beherrschte, aus unübersichtlichen Tabellen eines Bundesbankberichts geldpolitische Schieflagen zu erkennen, hatte Sinn auf einen unerklärlich hohen Bilanzposten hingewiesen. Sinn ging der Sache nach, berechnete die Target-Salden, die die Euro-Banker in Frankfurt zunächst gar nicht verstanden, erkannte ihre ökonomische Bedeutung und machte sie zu einem Politikum ersten Ranges. Auf dem Gebiet der Mikroökonomie und der Regulierung von Märkten, insbesondere Finanzmärkten, erkannte Sinn das fragwürdige Zusammenspiel von Regulierungsbehörden und regulierten Industrien, die zur Erosion der Bankenregulierung führte. Sein Buch "Kasino-Kapitalismus", das sich der amerikanischen Finanzkrise widmet, wurde vom Handelsblatt zu einem der 50 wichtigsten Ökonomie-Bücher aller Zeiten erkoren.

So viel zu Hellwigs Urteil, mit "dem Geldwesen" habe sich Sinn "wissenschaftlich nicht beschäftigt". Sinn hat wie kein anderer Wirtschaftswissenschaftler gezeigt, dass der Euro kein gemeinsamer Pool ist, über den die EZB verfügen darf. Der Euro gehört den einzelnen Euro-Mitgliedstaaten, die anteilig verlieren und anteilig bezahlen, wenn die EZB eigenmächtig fiskalische Kreditoperationen zur Rettung von Banken und Staaten betreibt, die nur notdürftig als Geldpolitik kaschiert werden. Diese Erkenntnisse und vor allem ihre öffentliche Verbreitung mögen den Interessen einzelner Personen und Institutionen widersprechen. Sie sind jedoch für die gesellschaftliche Urteilsbildung unerlässlich.