Warum die Inflationsgefahr noch lange nicht gebannt ist

Die Geldmenge im Euro-Raum steigt immer stärker an. Die Konsequenten für das Preisniveau lassen sich lange kaschieren. Aber nicht ewig.
Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 2. Oktober 2020, Nr. 41, S. 39.

Es gab in der Geschichte wohl kaum einen Herrscher, der über das Münzrecht verfügte und nicht der Versuchung erlag, sich der Druckerpresse zu bedienen, um seine Kassen zu füllen. Zunächst tat das niemandem weh, und es schien, als flösse Manna vom Himmel. Doch als das Volk den Schwindel bemerkte und aufbegehrte, weil die Inflation galoppierte, war es häufig zu spät. So manch ein Thron wackelte, bis der Herrscher herunter fiel.

Auch die politischen Protagonisten der Europäischen Union und der Euro-Zone sind der Versuchung des Gelddruckens erlegen. Sie haben sich in der Euro-Krise und im Gefolge der Coronakrise in maximalem Umfang der Druckerpresse bedient. Die vielen Konjunkturprogramme, die Rettungsschirme und der Wiederaufbaufonds der EU wurden durch Kredite finanziert. Und das Kreditgeld kam mehr oder weniger
direkt aus den Produktionsstätten des Euro-Systems, weil die Notenbanken die Staatspapiere erwarben, die staatlichen Instanzen zuvor emittiert hatten.

Schon in der Zeitspanne von Sommer 2008 (Lehman-Krise) bis Ende 2019 stieg die Zentralbankgeldmenge (M0) im EuroRaum um 2,3 Billionen Euro. Nun dürften in der Coronakrise nach den bisherigen Planungen bis zur Jahresmitte 2021 mindestens 1,8 Billionen Euro hinzukommen – durch das „Pandemic Emergency Purchase Programme“ der Europäischen Zentralbank und die günstige Geldbereitstellung der EZB an die Geschäftsbanken (LTRO).

Zusammen mit den fortgesetzten Käufen im Rahmen des „Public Sector Purchase Programme“, dem 2015 begonnenen Programm zum Aufkauf von staatlichen Papieren, die 20 Milliarden Euro pro Monat umfassen, wird die Zentralbankgeldmenge bis Ende Juni 2021 auf etwa 5,4 Billionen Euro steigen. Das ist das  Sechsfache der knapp 900 Milliarden Euro, die man zur Jahresmitte 2008 zählte – und das Fünffache dessen, was sich während der Coronakrise ergeben hätte, wäre die Geldmenge nur analog zur Wirtschaftsleistung der Euro-Zone gestiegen.

Geld in der Liquiditätsfalle

Nach der Lehre der klassischen Monetaristen müsste sich daraufhin eigentlich auch das Preisniveau verfünffachen. Doch inflationär wirkt das viele Geld bislang nicht. Nur die Aktienkurse und die Immobilienpreise sind nach oben geschossen. Der Grund: Das Geld steckt in einer Liquiditätsfalle fest – steckt unter der Matratze, im Safe, im Portemonnaie oder auf den Konten, die Banken bei der Notenbank
unterhalten. Kein geringerer als John Maynard Keynes hat auf das Phänomen der Geldhortung hingewiesen, die die Proportionalität von Geldmenge und Preisen aufhebt. Das war seine große akademische Leistung.

Die Liquiditätsfalle muss aber nicht ewig Bestand haben. Wenn die Wirtschaft wieder anzieht, etwa weil ein Impfstoff gefunden wird und sich allgemeiner Optimismus verbreitet, wollen die Menschen wieder mehr Geld ausgeben. Dann nehmen Investoren wieder Kredite bei den Banken auf, um ihre Kapazitäten zu erweitern, was auch die Banken veranlasst, ihre Horte zu aktivieren, um Giralgeld zu schaffen. Die abgeleiteten, nicht unmittelbar von den Zentralbanken kontrollierbaren Geldaggregate M1 bis M3 schnellen
dann mit der Wirtschaftstätigkeit in die Höhe.

Erosion des Geldsystems

Steigende Ölpreise könnten in einer solchen Situation eine gefährliche LohnPreisspirale in Gang setzen. Die EZB müsste die Zügel wieder anziehen, um die Pferde zu bremsen. Doch das kann sie nicht, weil sie am Boden schleifen. Würde sie all die staatlichen Papiere in ihrem Portfolio wieder verkaufen – bis zum nächsten Sommer mit einem Volumen von immerhin gut 3,5 Billionen Euro –, würden die Kurse purzeln und die Zinsen steigen. Die Bewertungsblasen bei den Banken, die ähnliche Papiere in den Büchern haben, dürften platzen, die Zahl der Konkurse steil nach oben gehen. Die überschuldeten Staaten des Euro-Systems begännen zu straucheln, weil sie sich neue Schulden zur Ablösung der alten nicht mehr leisten könnten.

Seien wir ehrlich: Kein EZB-Präsident kann es wagen, diesen Weg zu gehen. Dazu sind die hoch verschuldeten Länder, die im EZB-Rat das Sagen haben, zu mächtig. Die EZB-Spitze würde deshalb versuchen, sich mit semantischen Erklärungen aus der Affäre zu ziehen. Sie könnte etwa argumentieren, die Inflation sei 20 Jahre lang unter zwei Prozent gewesen und könne nun aus dem gleichen Grund 20 Jahre darüber liegen. Erste Ansätze für eine solche Argumentation gibt es im Notenbankensektor bereits.

Doch bei dieser Strategie droht eine Erosion des Geldsystems, mit fatalen gesellschaftlichen Folgen. Denn die kleinen Vermögensbesitzer, die nicht ausreichend Realvermögen bilden und deshalb nominalwertgesicherte Vermögenstitel wie Sparbücher oder Lebensversicherungspolicen halten, würden schlicht enteignet.

Wer diese Gefahr verhindern will, muss heute versuchen gegenzusteuern - und nicht erst dann, wenn es zu spät ist. Die Jahre 1923 und 1933 dürfen sich nicht wiederholen.

Nachzulesen auf www.wiwo.de.