Ein echter Glücksfall für Deutschland

Presseecho, www.handelsblatt.com, 08.10.2012

In seinem neuen Buch erklärt Hans-Werner Sinn die Tragik der „Target-Falle“ für Deutschland. Ihm geht es dabei nicht um Ruhm, sondern um ein echtes Anliegen. Er setzt die Wissenschaft für sein Vaterland ein.

von Charles B. Blankart und Achim Klaiber

Wie konnte es geschehen, dass die über ein Jahrzehnt erarbeitete finanzielle Selbstverantwortung jedes Euro-Staates für seine Staatsfinanzen im Brüsseler Gipfel am 7./8. Mai 2010 in einer Nacht von den Staats- und Regierungschefs verspielt, die Eurozone in eine Transferunion umgewandelt und dadurch eine Bailoutspirale von hunderten von Milliarden Euro ausgelöst worden ist? Das fragte sich die Gruppe von Ökonomieprofessoren, die am 24. Juni 2010 in der Lobby eines Münchener Hotels zusammenstanden.

Der älteste unter ihnen war der frühere Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger, der seine Ausbildung noch vor dem Siegeszug der Modelle erfuhr und daher gelernt hatte, die Realität aufgrund von Statistiken zu erkennen. Er verwies auf eine Spalte kleingedruckter Zahlen des statistischen Teils des aktuellen Bundesbankberichts mit dem Titel „Netto-Auslandsposition der Deutschen Bundesbank“, so genannte „Target2-Forderungen“. Einst war der Posten vernachlässigbar, aber von 2006 bis Anfang 2010 ist er von weit unter 100 auf 226 Milliarden Euro gestiegen.

Weshalb verzeichnete die Deutsche Bundesbank einen solchen Forderungszuwachs? Zeigte sich da geborstener Damm für bisher noch unbekannte Bailout-Zahlungen, die über die eben beschlossenen fiskalischen Rettungsschirme hinausgingen? Was stand hinter diesen Milliarden? Ein Rätsel. Die Ökonomen gingen auseinander, jeder seines Wegs. Nur Hans Werner Sinn wollte es genauer wissen und recherchierte bei Bundesbank und Europäischer Zentralbank (EZB). Zunächst mit wenig Erfolg. „Ein reiner Verrechnungsposten“, hieß es dort. Doch Sinn entgegnete: Jeder Forderung müssen Schulden gegenüberstehen.

Mit der Zeit kam er auf den Punkt: Mittels Target2-Krediten finanzierten und finanzieren heute noch Periphere Euro-Zentralbanken Importe und Kapitalexporte ihrer Geschäftsbanken bzw. deren Kunden. Nicht nur Griechenland, auch Frankreich, Italien und Spanien gehören zu den Kreditnehmern und tragen zum Schuldenstand von derzeit über einer Billion Euro bei.

Allmählich setzt sich die Gewissheit durch: Zu den fiskalischen Hilfszahlungen im Rahmen der Rettungsschirme gesellen sich im Verhältnis 1:2 Kredite aus dem EZB Zahlungsverkehrssystem. Eine klamme nationale Zentralbank kann ihre Schulden einfach bei einer andern nationalen Zentralbank, insbesondere bei der Bundesbank, der größten nationalen Zentralbank, anschreiben lassen. Ein Ausgleich ist nicht erforderlich. Offensichtlich ein Konstruktionsfehler des Euro-Zahlungssystems, den die EZB nicht zugeben will.

Güterimporte und Kapitalexporte, die die südlichen Eurostaaten aus Exporterlösen und Kapitalimporten nicht bezahlen können, lassen sie sich von liquiden nationalen Zentralbanken kreditieren. Diese sind rechtlich verpflichtet, solche Kredite zu 0,75% Zins zu gewähren, obwohl der Interbankenzinssatz vor Ort vielleicht ein Vielfaches beträgt. So erklärt sich der Titel von Sinns Buch „Die Target-Falle“. Deutschland steckt in der Falle. Den Schlüssel, die Falle zu öffnen, haben dabei diejenigen in der Hand, die von Deutschland profitieren.

Wie es soweit kommen konnte und was für Lösungen sich anbieten beschreibt Hans Werner Sinn in seinem Buch „Die Target-Falle – Gefahren für unser Geld und unsere Kinder“. In dessen ersten Teil beschreibt er den Marsch in die Krise. Während der ersten sieben Jahre des Euros erleidet Deutschland einen Kapitalabfluss in die Euro-Südstaaten, weil dort mit dem Euro das Wechselkursrisiko weggefallen ist und Investitionen relativ attraktiv erscheinen. Deutschland trägt die rote Wachstums-Laterne des Euro-Zuges. Als dann ab 2007 herauskommt, dass sich die GIIPS-Staaten übernommen haben, fließt das Geld zwar wieder nach Deutschland. Doch Deutschland muss die aufgetretenen Lücken in den Südstaaten durch Target2-Kredite auffüllen, bzw. diese holen sich das Geld einfach vom EZB-Konto der Deutschen Bundesank.

Eigentlich ist das grotesk. Dennoch verfolgen die Regierungen in Berlin und Brüssel genau diese Politik. Sie tun so, als ob der Konsumhunger der Südstaaten durch immer mehr Geld gestillt werden kann. Sinn spricht vom Glauben der Regierungen an die Theorie vom „Geld im Schaufenster“, das dort das Vertrauen wieder herstellen soll. Doch wo Geldhunger herrscht, geht es nicht um Vertrauen, sondern um Sucht; denn vom Geld kann man nie genug haben. Daher nennt Sinn diesen Fall die „Fass-ohne-Boden-Theorie“.

Die „Target-Falle“ ist die Tragik, in der sich Deutschland befindet. Aber warum hat sich Deutschland in diese missliche Lage hinein manövrieren lassen? Sinn nennt die deutsche Einheit als Preis (S. 39 „Versailles“). Das ist nicht so sicher. Immerhin war gerade die Zentralbankverfassung und insbesondere deren zwischenstaatliche Ausgleichspflicht über einen „Reservefonds“ nach dem Delors-Bericht vom Januar 1990 noch offen und umstritten. Auch Helmut Schlesinger ist zurückhaltend: „Die Wiedervereinigung und die europäische Währungsunion waren kein Handelsgeschäft.“ Trifft die Tauschgeschäftthese zu, so müssen sich die Deutschen den Euro als Schicksal hinnehmen und auch die Target2-Kredite als zu zahlenden Preis erdulden. Für Reformmaßnahmen ist da grundsätzlich kein Platz.

Wir neigen aber aus verschiedenen Gründen zur Schlesinger-These, dass der Euro eine politische Angelegenheit ist und mit dem Euro zwei Systeme, das deutsche und das französische zusammenkommen, die getrennt gute Handelsbeziehungen miteinander pflegen können, aber in der Währung integriert sich wie Öl und Wasser scheiden und keine Emulsion ergeben. Daher sind nach unserer Betrachtung Reformen legitim (wenn auch schwer zu erreichen). An diesem Punkt finden wir uns ganz bei Hans-Werner Sinns „richtigem Weg“ wieder (Kapitel 12).

Mit Verve sucht und findet Sinn die Wege aus der Target-Falle. Zu Recht plädiert er erstens dafür, dass Target-Salden nicht mehr nur angeschrieben, sondern tatsächlich ausgeglichen werden, wie dies auch in den USA geschieht. Kritiker sagen, Saldenausgleich zu verlangen sei herumkurieren am Symptom; der wahre Ursprung der Target-Salden liege in der überexpansiven Geldpolitik und den geringen Sicherheitsanforderungen der EZB. Dies stimmt zwar in Bezug auf die absolute Höhe der möglichen Salden, jedoch nicht in Bezug, dass dieser Kreditkanal überhaupt existieren kann.

Zweitens verlangt Sinn Neuverhandlungen des EU-Vertrags, um neue Mehrheitsverhältnisse im EZB-Rat zu schaffen. Drittens stellt er eine Gläubigerversicherung gegen den Staatskonkurs ergänzt durch Collective Action Clauses zur Diskussion. Viertens spricht er sich für eine offene Währungsunion aus, die ein zeitweiliges Austreten unter Abwertung krisengefährdeter Staaten erlaubt. Fünftens scheinen Politiker wie aus einem Mund zu fordern: Es braucht „mehr Europa“ bis hin zu den Vereinigten Staaten von Europa. Das würde darauf hinauslaufen Europa mit seiner Vielfalt für den Euro preiszugeben. Sinn lehnt dies ab; wir auch. Aber dass ein schleichender Trend dorthin führt, lässt sich leider nicht bestreiten. Vielerorts ist eine Euro-Romantik zu verspüren. Eine Art schleichende Zentralisierung könnte sich als erfolgreich erweisen. Wenn es sich für einzelne Staaten lohnt, ihre Probleme nach oben abzuschieben, kommt die Zentralisierung voran, Schritt für Schritt. Dabei ist völlig unklar, was der EU-Einheitsstaat besser machen könnte als der derzeitige Staatenverbund.

Sinn dagegen will mit all seinen Reformen die Selbstverantwortung der Euro-Staaten stärken. Ordnung soll anstelle von Durcheinander treten. Ja, lautet die Antwort von Ökonomen. Aber ist das möglich? In der Physik gilt der 2. Satz der Thermodymik, nach dem eine einmal in Entropie verwandelte Energie sich nicht wieder beliebig in Primärenergie zurückverwandeln lässt. Dieses Argument könnte auch für den Euro gelten. Die einmal zerstörte Euro-Ordnung von Maastricht lässt sich nicht wieder errichten. Das ist vorbei.

Dennoch besteht Hoffnung auf eine Reform: Menschen sind nicht nur Materie. Sie können abwägen und Entscheidungen treffen. Insofern besteht Hoffnung dass die Regierungen und die Völker der Eurostaaten zusammenraufen und sich doch noch zu einer Reform durchringen, die das Bailout-Verbot institutionell zusammen mit einer Insolvenzordnung für die beteiligten Staaten verankert. Sinn geht hier nicht ganz so weit in seinen Forderungen, seine Forderung nach Pfandbriefen bei staatlichen Schulden ist ein gangbarer Weg, der aber auf Umsetzungsprobleme stossen dürfte.

Den letzte Woche gemeldeten deutlichen Rückgang der Target2-Forderungen der Bundesbank im Monat September antizipiert Sinn bereits: durch die Ankündigung der EZB Anfang September, Staatsanleihen unter gewissen Bedingungen zu kaufen, floss Kapital in Erwartung eines gefallenen kurzfristiges Risikos wieder in die Peripherie zurück. Das Risiko von Target2 wird allerdings in der EZB-Bilanz nur substituiert durch das angekündigte Outright Monetary Transactions (OMT) Programm der EZB. Das „Geld im Schaufenster“ ist nicht weniger geworden, es wird nur auf eine andere Art angeordnet.

Der Untertitel „Gefahren für unser Geld und unsere Kinder“ zeigt, dass es Sinn nicht um Ruhm, sondern um ein echtes Anliegen geht. Als hervorragender Theoretiker könnte er durch zusätzliche Aufsätze in erstklassigen wissenschaftlichen Journals leicht seine wissenschaftliche Anerkennung weiter steigern. Er aber setzt die Wissenschaft für sein Vaterland ein. Zu Recht sagen manche seiner Kollegen, er sei der letzte deutsche Patriot. Richtig, aber kein Nationalist. Das Buch „Die Target-Falle“ von Hans Werner Sinn ist ein echter Glücksfall für Deutschland.

Charles B. Blankart ist Seniorprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin und ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern. Achim Klaiber ist Ökonom und im Private Banking in Zürich tätig.