Prolog

Ist Deutschland noch zu retten? von Hans-Werner Sinn

Zurück in die Wirklichkeit

Was ist nur geschehen? Mut und Fortune scheinen Deutschland zu verlassen. Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es neue Pleiterekorde, viele Unternehmen stecken in einer schweren Krise, die Arbeitslosigkeit nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an, und dennoch drängen die Armen der Welt in unser Land. Ein europäischer Nachbar nach dem anderen zieht beim Pro-Kopf-Einkommen an uns vorbei. Deutschland ist der kranke Mann Europas, ist nur noch Schlusslicht beim Wachstum, außerstande, mit Österreich, Holland, England oder Frankreich mitzuhalten. War da nicht einmal ein Wirtschaftswunder? Das muss lange her sein. Wunder gibt es heute anderswo.

Der Tanz auf dem Vulkan geht aber weiter. Beim Tourismus bleiben die Deutschen Weltmeister, und ihre Kreuzfahrtschiffe durchpflügen die Ozeane trotziger denn je. Das Rentensystem wird verteidigt, obwohl Kinder, die es finanzieren könnten, fehlen. Die jungen Leute haben den Kinderwagen gegen den Zweitwagen eingetauscht. Verliebt sein und vom Glück träumen will jeder, doch Kinder kommen in den Träumen immer weniger vor. Die Rente kommt vorn Staat, und der Strom kommt aus der Steckdose.

Die Politik wagt es nicht, die Wähler aus ihrem Traum vom Schlaraffenland des unerschöpflichen Sozialstaats aufzuwecken, und wenn ein Politiker doch einmal ein wenig Mut fasst, dann wird er sogleich abgestraft. Kanzler Schröder, der mit seiner Agenda 2010 zaghaft am Bettzipfel zog, wurde sogleich mit dem Verlust des Parteivorsitzes bestraft. Nach einem Jahr Agenda 2010 ist den Deutschen bereits die Lust an den Reformen vergangen. Die Wählergunst der SPD ist auf den niedrigsten Wert der Nachkriegszeit abgesackt. Mehr Erfolg bringt es immer noch, die Arbeitslosigkeit in Frühverrentungsmodellen zu verstecken, die Zahlen aus Nürnberg mit neuen Messmethoden zu verkleinern, das Staatsbudget durch den Verkauf von Tafelsilber zum Ausgleich zu bringen, den Stabilitätspakt zum Maastrichter Vertrag umzuinterpretieren und Steuererhöhungen als "Steuervergünstigungsabbau" zu kaschieren. Je dümmer die Gesetze, desto kreativer die Namen und desto größer offenbar die Wählergunst.

Schuld an der wirtschaftlichen Misere hat nicht nur die herrschende Regierung. Auch ihre Vorgänger tragen ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung. Die sozialliberale Koalition der siebziger Jahre hat den Sprung in den Schuldenstaat getan, die Regierung Kohl hat die wirtschaftliche Vereinigung des Landes mit absurden Versprechungen und irrealen Politikprogrammen vergeigt, und der heutigen Bundesregierung fehlt die für die Rückabwicklung der Illusionen notwendige Kraft.

Deutschland braucht eine ähnlich radikale Kulturrevolution, wie England sie unter Margaret Thatcher erlebt hat, wenn auch nicht die gleiche, denn irgendwie unterscheiden wir uns von den Manchester-Liberalen in England schon. Jedes Land braucht eine Kulturrevolution, wenn der Filz über 50 Jahre akkumuliert wurde. Jetzt ist Deutschland so weit.

Wir müssen unsere Institutionen an Haupt und Gliedern erneuern, unbequeme Fragen stellen und radikal umlenken. Können wir die Macht der Gewerkschaften weiter hinnehmen? Warum nur lassen wir unseren Sozialstaat so viel Geld für das Nichtstun ausgeben? Wie lange können wir das Siechtum der Wirtschaft in den neuen Bundeshindern ertragen, und wann geht uns das Geld aus, mit dem wir dort einen westlichen Lebensstandard finanzieren? Dürfen Staatsquote und Schuldenquote immer weiter wachsen? Muss es sein, dass der Staat bereits dem wenig verdienenden Arbeiter zwei Drittel der Früchte seiner Anstrengung wegnimmt? Warum vergreist unser Land, und was können wir dagegen tun? Sollen auch Kinderlose die volle Rente bekommen? Sind Zuwanderer eine Hilfe oder ein Problem für die Deutschen? Sind wir auf den Wettbewerb mit den Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn vorbereitet, die jetzt in die EU gekommen sind? Wohin treibt uns eigentlich das neue Europa, was führt die EU mit uns im Schilde? Diese Fragen brauchen mutige und ehrliche Antworten, und dann braucht Deutschland eine große Wirtschafts- und Sozialreform, die dem Land seine Zukunft zurückbringt.

Die notwendigen Reformen sind hart und unangenehm, und meistens wirken sie auch erst mit Verzögerung. Deshalb wagt sich die Politik nicht an sie heran. Das Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, immerhin ein gesetzlich verankertes Beratungsgremium, wurde vom Kanzler mit Glacehandschuhen angefasst, weil es unangenehme Wahrheiten und Empfehlungen enthält. Und, welch Schande, es argumentierte sogar "neoliberal", obwohl eine Mehrheit seiner Mitglieder der SPD angehört und von der Regierung selbst ausgewählt wurde. Da hält man sich lieber an die gut verpackten Vorschläge der Hartz-Kommission, die wenig bewirken und niemandem wehtun. Bei der Zusammensetzung der fünfzehnköpfigen Hartz-Kommission hatte man von vornherein darauf geachtet, dass ihr kein Volkswirt angehört. So war man auf der sicheren Seite.

Leider begreifen auch viele der deutschen Intellektuellen nicht, welch schlechter Film hier abläuft: Ihr Blick reicht von Goethe bis Habermas, doch über die harten Gesetze der Ökonomie streift er hinweg, außerstande, selbst die banalsten wirtschaftlichen Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen. Da gibt es die naive These vom Primat der Politik, so als könne man die wirtschaftlichen Verhältnisse nach Belieben gestalten, ohne dabei die Gesetze der Marktwirtschaft beachten zu müssen. Oder die These, den Deutschen gehe die Arbeit aus, weil der technische Fortschritt notwendigerweise die einfache Arbeit verdränge. Ökonomen stehen die Haare zu Berge, wenn sie sich mit solchem Unfug auseinander setzen müssen. Allen falls ein Nachfragedenken keynesianischer Provenienz scheint in den Köpfen der vielen Laienprediger verankert zu sein, die sich zu Wort melden Aber das taugt nicht für mehr als die Erklärung des Konjunkturzyklus. Gegenüber den Strukturproblemen, die den Kern ökonomischen Denkens ausmachen, fehlt das innere Verständnis.

Die Fernsehdemokratie meidet die wirklichen Themen und plätschert an der Oberfläche dahin. Bei den Talkshows siegt Eloquenz über Fachwissen, und wer die Ökonomik des ersten Augenscheins beherrscht, der hat, bejubelt von seinen bestellten Claqueuren im Hintergrund, die Gunst des Millionenpublikums auf seiner Seite. Ernsthafte Analysen, die den Problemen auf den Grund gehen, haben bei all der Kurzweil, die die Sender im Wettkampf um die Quoten bringen müssen, kaum eine Chance. Das Land steht am Abgrund, und dennoch ist nichts wichtiger als die Frage, wie Schalke am Samstag abschneidet, wie der Bundeskanzler seine Haare färbt oder welche Besenkammern Boris Becker bevorzugt. So verdrängen wir unsere Wirklichkeit.

Die Partikularinteressen der Lobbys und Parteien verhindern gemeinsame Lösungen. Die Gewerkschaften und die Arbeitgeber streiten sich immer noch erbittert um die Zehntelprozentpunkte bei den Lohnabschlüssen. Die Parteien schieben einander die Schuld für die Wirtschaftsmisere in die Schuhe und sind nicht bereit, aufeinander zuzugehen. Jeder schaut ängstlich auf die Wählerstimmen, und keiner wagt es, bei den nötigen Reformen in Vorlage zu treten, weil er Angst hat, dass der politische Gegner sogleich Kapital daraus schlägt, indem er das Volksgewissen für sich reklamiert. Wenn die SPD einmal einen zaghaften Bremsversuch beim Sozialstaat startet, wird sie sogleich von der CDU/CSU links überholt.

Zorn erfüllt mich, wenn ich sehe, wie die Zeit nutzlos verstreicht und wir nicht vorankommen, wie Deutschland weiter absackt und dem Zustand näher kommt, wo es als ein Land der kinderlosen Greise seine Kraft verliert und sich schicksalsergeben aus der Geschichte verabschiedet.

Wir können die Kurve noch kriegen. Aber das verlangt unser aller Bereitschaft zu umfassenden Änderungen des Sozialstaates und der Wirtschaftsordnung, also der Gesetze und institutionellen Regeln die den Spielraum für die wirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmen und privaten Haushalte festlegen. Was derzeit politisch diskutiert wird, reicht noch lange nicht. Ein schwieriger Prozess des Umdenkens muss einsetzen, bei dem viele Tabus über den Haufen geworfen werden und der Widerstand mächtiger gesellschaftlicher Gruppen überwunden wird. Möglicherweise wird dieser Prozess erst dann beginnen, wenn der Putz in den neuen Ländern erneut von den Wänden fällt und die Achsen der Autos dort wieder in den Schlaglöchern zerbrechen. Doch das dauert noch. So lange dürfen wir nicht warten. Die Zahlen und Fakten liegen schon jetzt auf dem Tisch, und jetzt muss gehandelt werden.

Mit diesem Buch will ich dazu beitragen, den Gang der Diskussion auch in einer breiteren Öffentlichkeit zu beschleunigen. Ich fühle mich in der Verantwortung meinem Land gegenüber wie jene Professorenkollegen vom Verein für Socialpolitik, die im 19. Jahrhundert die Reformen Bismarcks vorbereitet hatten und von ihren Widersachern als Kathedersozialisten beschimpft wurden, obwohl sie keine waren. Ich will über den Stand unserer Wirtschaft, über zentrale Grundtatbestände einer funktionierenden Marktwirtschaft und über offenkundige Fehler unseres Systems aufklären. Aber ich mache keine Prophezeiungen. Ich bin kein Guru und kein Heilsprediger, sondern ein Volkswirt. Es macht für einen Volkswirt keinen Sinn, plastische Lebensentwürfe für eine bessere Zukunft zum entwickeln, denn es gibt in der Marktwirtschaft keine Instanz, die solche Entwürfe in praktische Politik umsetzen könnte. Man kann institutionelle Verhältnisse beschreiben und auf politischem Wege schaffen, die nach den bisherigen Erfahrungen und den Erkenntnissen der volkswirtschaftlichen Theorie eine günstige Entwicklung der Wirtschaft erwarten lassen, aber das heißt noch lange nicht, dass man diese Entwicklung vorhersehen könnte. Insofern muss ich von vornherein vor übertriebenen Erwartungen warnen. Mein Ziel ist bescheiden, aber deswegen realistisch. Ich will Deutschland nicht in eine neue Traumlandschaft entführen, sondern den Blick für die Realität schärfen. Nur der nüchterne Blick auf die Fakten und wirklichen Zusammenhänge ermöglicht die klugen Politikentscheidungen, die unser Land wieder voranbringen. Ich möchte, dass endlich auch einmal die wirklichen ökonomischen Argumente Gehör finden und dass Sie, liebe Leser, in die Lage versetzt werden, die Ökonomik des ersten Augenscheins zu entlarven, die die öffentliche Debatte beherrscht. Helfen Sie mit, die richtigen Entscheidungen zur Gesundung unseres Landes durchzusetzen und den Demagogen und Träumern, die sich in den Vordergrund schieben, entgegenzutreten. Wie Sie will auch ich für meine Kinder und Kindeskinder ein besseres, ein wirklich zukunftsfähiges Deutschland.

München, Mai 2004
Hans-Werner Sinn