Hans-Werner Sinn soll mundtot gemacht werden

Dorothea Siems, Die Welt, 07.02.2015.

Eine beispiellose Attacke soll Deutschlands prominentesten Ökonomen treffen. Sie zeigt, wie sich die Zunft dem Zeitgeist anpasst und die lästige Ordnungspolitik zu diskreditieren versucht.

Der Mann ist unbequem. Wenn es einen Ökonomen gibt, der deutsche Politiker regelmäßig in Erklärungsnot oder gar Rage bringt, dann ist das Hans-Werner Sinn. Ob Zuwanderung, Euro-Rettung, Klimawandel oder Sozialstaat – der Chef des Münchner Ifo-Instituts mischt sich mit seinen messerscharfen Analysen in alle relevanten Gesellschaftsdebatten ein und schert sich dabei herzlich wenig um politische Korrektheit.

Für Linke und Gewerkschafter ist der Professor mit dem markanten Kapitänsbart ein Neoliberaler und damit von jeher ein Feindbild. Mittlerweile ist auch die Union, die früher häufig seinen Rat suchte, auf Distanz gegangen.

Vor allem seine wiederholten Warnungen vor den horrenden Risiken der Euro-Politik stoßen im Konrad-Adenauer-Haus sauer auf. Und Finanzminister Wolfgang Schäuble warf ihm wegen seiner Forderung nach einem Austritt Griechenlands aus der Währungsunion „Milchmädchenrechnungen“ vor.

Doch an Einfluss auf die öffentliche Meinung hat die mahnende Stimme aus München deshalb nicht verloren. Im Gegenteil. Der 66-Jährige ist Stammgast in den Talkshows, schreibt Bestseller, gibt laufend Interviews und sorgt mit seinen provokanten Thesen immer wieder für Schlagzeilen.

Man will ihn zum Populisten stempeln

Dabei scheut er sich nicht, die komplexe Welt der Wirtschaft mitunter so stark zu vereinfachen, dass auch Laien die Zusammenhänge verstehen. Ihm ist es zu verdanken, dass international über gigantische Risiken debattiert wird, die zusätzlich zu den offiziellen Rettungsschirmen im europäischen Zentralbankensystem (Stichwort: Target 2) schlummern und die zuvor selbst Experten nicht bekannt waren.

Zuletzt sorgte der streitbare Forscher mit Berechnungen für Furore, dass Zuwanderer für den Fiskus ein Minusgeschäft sind – eine These, die Sinn den Vorwurf der Nähe zu den Rechtspopulisten von Pegida und AfD einbrachte, was der Parteilose von sich weist. Tatsächlich ist Sinn, der immer wieder auch unbequeme Reformen anmahnt, kein Populist, er ist nur nicht bereit, seine Erkenntnisse dem konsensverliebten Zeitgeist

anzupassen.

Dass Sinns Schlussfolgerungen beim Bürger häufig auf Zustimmung stoßen und er dadurch auch die Politik unter Druck setzt, ärgert offenbar manchen seiner Kollegen, die andere Meinungen vertreten als er, über alle Maßen. Unter der Überschrift „Der falsche Prophet“ ließ das „Handelsblatt“ jüngst fünf Wirtschaftsforscher aufmarschieren, die sich über die „fünf Irrtümer“ des Hans-Werner Sinn ereiferten.

In der beispiellosen Attacke wurden dem Starökonomen von seinen Kollegen Fehlanalysen, Panikmache und die Verwendung falscher Zahlen vorgeworfen. Und einer dieser Kritiker mahnte Sinn gar, künftig solider zu analysieren, denn „es ist schon viel an Ansehen der Volkswirtschaftslehre verspielt worden“.

Die „FAZ“ nahm ihn gegen das „Handelsblatt“ in Schutz

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schickte daraufhin ebenfalls namhafte Ökonomen ins Feld, die Sinn bescheinigten, „der innovativste und einflussreichste Ökonom der letzten zwei bis drei Jahrzehnte in Deutschland“ zu sein. Seinen Kritikern attestierten sie „ein merkwürdiges Verständnis von Ökonomie“ und legten dar, wie voreingenommen und überzogen deren Argumentation war.

Dass sich der erbitterte Ökonomenstreit an Sinn und seinen Thesen entzündet, ist kein Zufall. Der Ifo-Chef ist der prominenteste und einflussreichste Vertreter der klassischen Ordnungspolitik in Deutschland. In seinem erfolgreichsten Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ von 2003 hatte Sinn viele Reformen, die mit der Agenda 2010 später und der Riester-Rentenreform umgesetzt wurden, gefordert. Die Verbesserung der Angebotsbedingungen machte Deutschland, den einstigen „kranken Mann Europas“, wieder wettbewerbsfähig und löste ein Beschäftigungswunder aus.

Selbst die Gewerkschaften trugen damals mit einer moderaten Tarifpolitik den wirtschaftsfreundlichen Kurs mit. Doch mit Ausbruch der Finanzkrise schlug das Pendel zurück. Nun wird dem Staat mehr zugetraut als dem Markt, und der Keynesianismus, der die notfalls mit immer höheren Schulden finanzierte Nachfrage in den Mittelpunkt rückt, erlebt eine Renaissance.

Auch die Politik unter Angela Merkel setzt in der permanenten Krise auf Pragmatismus, ordnungspolitische Leitlinien zählen immer weniger. Dafür sorgt auch Vizekanzler Sigmar Gabriel, der keinen Hehl daraus macht, dass er den von Ordoliberalen dominierten Sachverständigenrat und dessen Jahresgutachten für überflüssig hält.

Marcel Fratzscher ist der neue Liebling der Politik

Der SPD-Chef hat den Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, zu seinem wichtigsten Wirtschaftsberater auserkoren. Fratzscher steht für ökonomische Flexibilität, die man auch als Beliebigkeit bezeichnen könnte. Den Bundesfinanzminister hält der DIW-Chef für zu wenig ausgabenfreudig. Dafür lobt er den Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, für dessen Strategie des ultrabilligen Geldes.

Genau wie Hans-Werner Sinn will auch Fratzscher politischen Einfluss nehmen. Und das gilt vor allem in der Frage der Euro-Rettungspolitik, in der die beiden Forscher entgegengesetzte Positionen vertreten. Und so ist es kein Wunder, dass Gabriels Berater die Gelegenheit wahrnahm, Sinn im „Handelsblatt“ niederzuschreiben.

Was die Attacke auf Sinn so perfide macht, ist die Herabwürdigung seiner Analysen als mangelhaft. Tatsächlich jedoch kommen seine Kritiker nur aufgrund anderer Daten oder veränderter Annahmen zu anderen Schlussfolgerungen. Ökonomie ist keine Naturwissenschaft. Sie arbeitet mit Modellen, die zwangsläufig nie die ganze Realität abbilden.

Dass Fratzscher die Target-2-Salden für unbedenklich hält, liegt vor allem daran, dass er den Austritt eines Euro-Lands oder gar den Zusammenbruch der Währungsunion generell ausschließt. Sinn hingegen hält das Scheitern für ein denkbares Szenario. Und er will mit seinen Warnungen keineswegs Ängste schüren, wie Fratzscher moniert, sondern er plädiert dafür, die Risiken auf praktikable Weise einzudämmen.

Sinn bleibt weiter politisch unkorrekt, zum Glück

Ob man in der Europapolitik eher die Position Sinns teilt oder aber Fratzscher zustimmt, ist weniger eine ökonomische als eine politische Frage. Der Professor aus München pocht auf eine Stabilitätsunion, in der nicht die hiesigen Steuerzahler für die fehlende Ausgabendisziplin anderer Länder zahlen müssen. Der DIW-Chef hingegen hält Merkels Sparkurs für die falsche Strategie im Kampf gegen die europäische Schuldenmisere und propagiert stattdessen schuldenfinanzierte Wachstumsimpulse.

Geradezu irrationale Züge trägt die Debatte über Zuwanderung, die Sinn mit Berechnungen auslöste, in denen er die von Migranten gezahlten Einzahlungen und Sozialabgaben den empfangenen Leistungen gegenüberstellte. Während zuvor eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung zu dem Ergebnis gekommen war, dass jeder hier lebende Ausländer dem Fiskus ein Plus bringt, kam der Ifo-Präsident auf eine negative Steuer-Transfer-Bilanz.

Doch Sinn hat sich keineswegs verrechnet, wie ihm vorgeworfen wird. Er vertritt lediglich die Ansicht, dass eine derartige Rechnung unvollständig ist, wenn den Migranten neben den direkt empfangenen Transfers nicht auch anteilsmäßig die Ausgaben des Staates für Straßen, Polizei oder Verwaltung zugeordnet werden.

Doch weil sich die Bilanz dann ins Negative verkehrte, schwappte eine Welle der Empörung über den Starökonomen. Sinn aber bleibt politisch unkorrekt – zum Glück.