Wie der Euro zu seinem Namen kam

Dr. Marc Beise, Süddeutsche Zeitung, 26. Dezember 2021.

Geburtstag! Vor 20 Jahren erhielten die Deutschen ein neues Geld. Die Währung war von Anfang an heftig umstritten. Wie der Euro entstand - und was Theo Waigel damit zu tun hat.

Politiker kommen und gehen, und auch für sie gilt die bange Frage: Was bleibt? Was bleibt von dem, was sie schaffen wollten, was sie geschaffen haben? Einer, dessen Werk Jahrzehnte, womöglich Jahrhunderte Bestand haben wird, ist Theo Waigel. Der Mann mit den Augenbrauen, einst CSU-Chef in Bayern und Helmut Kohls Finanzminister in Bonn. Heute ist Waigel 82 Jahre alt, lebt auf dem Familienbauernhof im bayerischen Allgäu und hilft als Anwalt Großkonzernen wie Siemens. Am liebsten aber redet er, aus dem Stand und zu jeder Tages- und Nachtzeit, über den Euro - mit dem ihn tatsächlich eine buchstäblich einzigartige Geschichte verbindet. Nicht Angela Merkel oder Helmut Schmidt, nicht mal Adenauer und Brandt, niemand kann für sich in Anspruch nehmen, den Euro etabliert und vor allem: benannt zu haben. Waigel kann das.

Am 1. Januar 2002 ist der Euro in Deutschland als Bargeld eingeführt worden ist. Fast genau 20 Jahre ist das nun her, Zeit für ein Geburtstagsständchen und einen weiten Blick zurück.

Ideen für eine Gemeinschaftswährung hatte es schon lange gegeben, und je mehr die 1957 in Rom gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu einer auch politischen Union zusammenwuchs, die heute wie selbstverständlich EU heißt, desto regelmäßiger kam das Thema Währung auf die Brüsseler Agenda. Erstmals 1970 wurde im "Werner-Plan" amtlich festgehalten: Binnen zehn Jahren sollte es eine Währungsunion geben, die die immer engeren Wirtschaftskontakte der damals noch sechs EWG-Staaten absichern sollte, damit der sich wechselnde Wert von Mark, Franc, Lira und den anderen nationalen Währungen nicht zu immer neuen Turbulenzen zwischen den Staaten führen konnte.

Der erste Vorstoß zur Währungsunion scheiterte an der Eurosklerose

Das Projekt startete programmgemäß mit einem Europäischen Wechselkursverbund, der sogenannten "Währungsschlange", in die sich die EU-Staaten einreihten, doch die Schlange verlor bald die Orientierung. Die weltwirtschaftlichen Turbulenzen der Siebzigerjahre, Wirtschaftskriege und Ölkrise forderten ihren Tribut, die ersten europäischen Staaten zogen sich aus dem Verbund zurück. Die Gemeinschaft trat auf der Stelle. Statt der Aufbruchstimmung früherer Jahre gab es nun eine gereizte "Nettozahler"-Debatte darüber, wer gibt und wer nimmt. Das Wort der Stunde hieß: Eurosklerose.

Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing, der deutsche Kanzler und der französische Staatspräsident, rafften sich auf, Europa zu retten. 1979 schufen sie das Europäische Währungssystem (EWS), die nationalen Währungen sollten nur noch innerhalb einer vorgegebenen Bandbreite schwanken dürfen, dafür mussten die Notenbanken sorgen. Instrument dafür war eine Verrechnungseinheit namens ECU, ein virtuelles Ding ohne Bezug zum Bürger, auch wenn aus Symbolgründen einige Münzen geprägt wurden. Staaten konnten Staatsanleihen in ECU ausgeben und Kredite in ECU aufnehmen.

1988 dann der nächste Anlauf. Der französische EG-Kommissionspräsident Jacques Delors entwickelte mit einer nach ihm benannten Kommission einen Plan für die Revitalisierung Europas. Wieder dabei: die Idee einer Europäischen Währungsunion. Kurz darauf fiel die Mauer, Europa sortierte sich neu, und es öffnete sich ein kurzes Fenster der Möglichkeiten. Bis heute ist nicht ganz geklärt, ob die gemeinsame Währung wirklich eine ausdrückliche Bedingung Frankreichs war, um der eigentlich unerwünschten deutschen Wiedervereinigung zuzustimmen, aber es war jedenfalls nahe dran.

Als Hans-Werner Sinn noch für den Euro war

Wie auch immer man die Gespräche, Andeutungen, Memoranden dieser Tage deutet: Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, war, wie er später bestätigte, zu diesem Preis bereit: Er stimmte auf europäischer Ebene der Einführung des Euro zu, ohne vorherige Rücksprache mit dem Präsidenten der Bundesbank, Hans Tietmeyer, dem obersten Wächter über die D-Mark, und auch ohne jeden Versuch, die Deutschen wirklich in die Diskussion über diesen weitreichenden Schritt einzubeziehen. Geschweige denn, sie über eine Volksabstimmung daran zu beteiligen.

Diese Einführung von oben sollte die Akzeptanz der neuen Währung in Deutschland nachhaltig schädigen. Aber man kann wohl sagen: Die Währungsunion, die heute eine Erfolgsgeschichte von historischer Dimension ist, musste durch beherztes Durchregierungen zustande gebracht werden, und sie war über die Beteiligung aller gesetzgebenden Organe vollständig legitimiert. Eine Sternstunde der repräsentativen Demokratie, in der die Gewählten nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, nicht nach dem aktuellen Stand von Umfragen (freilich wird diese Sichtweise nicht von allen Bürgerinnen und Bürgern geteilt).

Jedenfalls stand in den Vertragsentwürfen zur Währungsunion, die in den Neunzigerjahren hin- und herschoben wurden, als Name der neuen Währung ECU, natürlich, denn das war ja die eingeführte Verrechnungseinheit, eine Abkürzung für die englische European Currency Unit, aber französisch auszusprechen, weshalb Paris damit durchaus fein war - während die Deutschen fremdelten. Für Kohl erinnerte der ECU an das Wort Kuh, und Theo Waigel, seit 1989 Bundesfinanzminister und ein heftiger Verfechter einer Gemeinschaftswährung, war von Anfang an klar gewesen, sagt er heute, dass diese technische Abkürzung keine Akzeptanz werde schaffen können: "Wenn ich zu den Deutschen gehen würde und sagen: Tauscht D-Mark gegen ECU, dann kann ich mich gleich ins Exil begeben." Die Anhänger der Mark kannte er gut, als CSU-Vorsitzender musste er sich in Bayern täglich mit ihnen herumschlagen.

Viele Ökonomen wiederum waren grundsätzlich gegen eine Währungsunion zum damaligen Zeitpunkt. Sie beriefen sich unter anderem auf den amerikanischen Wirtschaftsprofessor Robert Mundell, der schon in den Sechzigerjahren die "Theorie optimaler Währungsräume" entwickelt hatte, für die er 1999 den Nobelpreis erhalten sollte. Sie zeigte die Fliehkräfte auf, die ein Währungsverbund mit Ländern, deren Wirtschaft nicht ausreichend harmonisiert ist, aushalten muss.

 

Die Faustregel hierbei lautet: Je höher die ökonomische Integration, je ähnlicher die Arbeitsmarkt-, Steuer- und Sozialpolitik, desto eher kommen die Vorteile einer Währungsunion zum Tragen: kein Wechselkursrisiko, keine Transaktionskosten beim Währungstausch, Motor für mehr Integration. Je geringer die Integration, desto mehr schadet eine gemeinsame Währung, weil sie den Staaten die Chance nimmt, ihre Probleme über den Wechselkurs zu lösen, sondern sie müssen beispielsweise, um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, zu unbeliebten Strukturreformen greifen. Eben deshalb sei es für den Euro noch zu früh, sagten viele Ökonomen; man nannte das die Krönungstheorie: Die gemeinsame Währung solle erst am Ende des Integrationsprozesses stehen.

"Also entschuldige, Jean-Claude, Du bist auch nicht mehr der Jüngste ..."

Mundell übrigens empfahl die Währungsunion, und so sahen das auch die Anhänger der Lokomotivtheorie: Die Staaten seien doch schon recht weit integriert, und die gemeinsame Währung werde sie schon zu weiteren Reformen animieren. Bei vielen wog damals der politische Wunsch nach einem einheitlichen Europa stärker als die realen Bedenken. Auch ein scharfsinniger Analytiker wie der spätere Präsident des Ifo-Instituts und lange Zeit einflussreichste deutsche Ökonom, Hans-Werner Sinn, war damals als junger Europäer für den Euro, den er später heftig kritisierte.

Theo Waigel nimmt für sich in Anspruch, als Finanzminister die Währungsunion im Vertrag von Maastricht 1992 krisensicher konstruiert zu haben: Alle Teilnehmerstaaten verpflichteten sich zu einer Finanzpolitik nach deutschem Vorbild, mit Höchstgrenzen fürs jährliche Defizit und für die Gesamtverschuldung. Trotzdem wurde die Skepsis im Volk nicht kleiner, und also fahndete Waigel fast schon verzweifelt nach einem Namen, den die Deutschen akzeptieren konnten. Die Mark zu behalten, hätte den Finnen gefallen und den Dänen, aber nicht den Franzosen. Wie wäre es mit Franken, Erinnerung an ein Reich, das Deutsche und Franzosen noch vereint hatte? Geht nicht, sagte der spanische Premier Felipe González, das hätte dort an den unseligen Diktator Franco erinnert.

"Ich hab mir den Kopf zermartert", sagt Waigel heute: "Herrgott, wie kann man das nennen?" Und dann, in einem lichten Moment an seinem Schreibtisch in der Graurheindorfer Straße in Bonn, sei ihm plötzlich der "Euro" in den Sinn gekommen: Hatte er nicht eine Eurocard in der Brieftasche? Wurde im heimatlichen München nicht der Militärhubschrauber Eurocopter konstruiert? Die ersten vier Buchstaben von Europa, sonderlich einfallsreich war das jetzt nicht, und sicher hatten auch schon andere diese Idee gehabt - aber: "Ich hab ja damals Hunderte von Briefen von Bürgern bekommen, auch mit Vorschlägen für einen Namen des neuen Geldes. Euro war nicht dabei."

Kanzler Kohl war nicht sonderlich beeindruckt: "Das gibt Ärger mit den Franzosen", sagte er nach Waigels Erinnerung: "Aber du kannst ja mal fragen." Also weitere Sondierungen, dann der wegweisende Dezember-Gipfel der Staats- und Regierungschefs 1995 in Madrid, jetzt galt es. Waigel legte seinen Vorschlag auf den Tisch, die Resonanz war verhalten. Der französische Präsident Jacques Chirac brachte ein Referendum der Europäer ins Spiel, Kohl, der um die Sensibilität des Themas bei den Deutschen wusste und wohl fürchtete, das ganze Projekt könne abgelehnt werden, war dagegen. Die Debatte ging hin und her, dann noch mal Wortmeldung Jean-Claude Juncker, der Luxemburger Premier: Euro, pardon Theo, das klinge halt nicht sehr erotisch. Da habe er geantwortet, sagt Waigel: "Also entschuldige, Jean-Claude, Du bist auch nicht mehr der Jüngste, Hauptsache es klingt eurotisch." Am Ende kam es zur Abstimmung: einstimmig für den Euro. So kann's gehen.

1999 wurde der Euro gesetzliche Buchwährung, 2002 kam er als Bargeld zu den Bürgerinnen und Bürgern. Erst die Starter-Kits, um sich an das neue Geld zu gewöhnen, dann die Umstellung auf einen Schlag, dann die Debatte um angeblich großflächige Preissteigerungen: Jetzt galt der Euro als Teuro. Die Griechenland-Krise, die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, die Gründung der AfD durch Euro-kritische Professoren, Morddrohungen gegen Waigel, es ging bewegt weiter. Heute zeigen Umfragen stabile Zustimmung zur Währung. Sie wird nicht verehrt wie die Mark, aber sie ist da und Alltag, die ideologischen Kämpfe werden anderswo ausgetragen.

Theo Waigel darf man sich als glücklichen Menschen vorstellen.

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