„Am meisten leiden Leute mit bescheidenen Sparbüchern“

Die Gefahren der Inflation werden gern klein geredet, Hans-Werner Sinn (73) tut dies nicht. Der international renommierte Ökonom sagt im grossen Blick-Gespräch, was ihn «massiv beunruhigt» und warum es die normalen Leute besonders hart trifft.

Blick, 15. Januar 2022, Nr. 12, S. 4-5.

Inflation – das Thema ist brandaktuell und kontrovers. Wie bedrohlich ist sie wirklich? Blick hat mit dem deutschen Top-Ökonomen Hans-Werner Sinn (73) gesprochen, einem Kritiker der Verharmlosung. Unterhalten haben wir uns per Video vor dem Bildschirm, aber deshalb nicht weniger lange und leidenschaftlich. Im Hintergrund, natürlich: eine Bücherwand. Davor: ein Ökonom im soliden Dreiteiler.

Herr Sinn, die Zinsen sind auf historischen Tiefständen. Und sie sind ja mehr als blosse Rechengrössen und sagen auch manches über die Gesellschaften und ihr Verhältnis zur eigenen Zukunft aus. Sind Tiefzins-Gesellschaften zukunftsmüde?

Nun ja, ich verstehe Ihren Punkt, rein philosophisch gesehen. Dennoch würde ich aus ökonomischer Perspektive anders argumentieren: Wenn der Zins null ist, wird die Zukunft gleich gewichtet wie die Gegenwart. Und das ist doch eigentlich erstaunlich. Denn in der alten Welt mit Zins war es genau umgekehrt: Dinge in der Zukunft mussten abgezinst werden, waren also im Grundsatz weniger wichtig. In unserer zinslosen Gegenwart hingegen ist die Zukunft sehr präsent, geradezu omnipräsent. Wir sind nicht zukunftsmüde, sondern wenn schon zukunftsfixiert.

Die Zeit hat keinen Preis mehr, damit wurden Geduld und Zuversicht gleichsam wertlos. Sind wir der Zukunft darum vor allem im Modus von Furcht und Angst zugewandt? Es ist ja ständig die Rede vom Ende von allem Möglichen – der Demokratie, des Kapitalismus, der Freiheit, des Menschen, des Planeten.

Ich sehe diese Signale und doch sehe ich die ganze Sache profaner. Der Zins in Europa ist tief, weil die Europäische Zentralbank den Zins gesenkt hat. Sie hat dies getan, um die hoch verschuldeten Staaten des Eurosystems zu retten, deren Wettbewerbsfähigkeit im Euro gelitten hat. Das ist ja auch die These prominenter Ex-Zentralbankgouverneure und Ex-Chefvolkswirte der EZB wie Hervé Hanoun, Nout Wellink, Christian Noyer, Helmut Schlesinger, Otmar Issing oder Jürgen Stark. Die tiefen Zinsen sind kein Schicksal, sie resultieren nicht aus einer abnehmenden Ertragskraft des Realkapitals und sind auch kein Ausdruck des
Weltgeists, sondern ein politischer Entscheid. Es ging darum, marode Staatsfinanzen und alternde Firmen zu stützen, anstatt die «schöpferische Zerstörung» arbeiten zu lassen, wie es der Ökonom Joseph Schumpeter genannt hat.

Bleiben wir also ökonomisch nüchtern. Die EZB versucht seit Jahren, durch Zinsen nahe bei null und den Aufkauf von Staatspapieren eine Inflation zu produzieren. Nachdem sich eine solche im Aktien- und Immobilienmarkt seit längerem zeigt, dürfte sie sich nun auch bei den Preisen normaler Alltagsgüter abzeichnen. Aber plötzlich scheinen die Regierungen Angst vor der Inflation zu haben, die sie selbst schürten.

Ich sehe die Angst nicht, im Gegenteil. So mancher hoch verschuldete Staat der Eurozone spekuliert insgeheim auf eine Entlastung durch die Inflation, und die EZB agiert als Erfüllungsgehilfe der Politik und versteift sich aufs Schönreden, bloss um nicht bremsen zu müssen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat an ihrer letzten Pressekonferenz bekräftigt: Die mittelfristige Inflationsrate sei erst im Begriff, sich von unten dem Wert von zwei Prozent anzunähern – und sie sagte dies, obwohl die Inflation der Güterpreise in der Eurozone aktuell bei über fünf Prozent liegt, vor allem aufgrund eines dramatischen Anstiegs der gewerblichen Erzeugerpreise. Das empfinde ich als Realitätsverweigerung.

Die Betonung liegt auf «mittelfristig». Denn die Notenbanken haben sich ja in den letzten Jahren zu echten Spezialisten für semantische Nuancen entwickelt, Sie zeichnen das in Ihrem neuen Buch «Die wundersame Geldvermehrung» detailliert nach. Ursprünglich wollte die EZB maximal zwei Prozent Inflation in Kauf nehmen, doch mittlerweile gilt ein symmetrisches Ziel von zwei Prozent über mehrere Jahre als anzustrebendes Ziel – vor diesem Hintergrund sind auch mal fünf Prozent in einem Jahr durchaus zulässig oder gar erwünscht.

Mit der Verlagerung des Inflationsziels auf die mittlere Frist hat es die EZB geschafft, sich der öffentlichen Kontrolle zu entziehen. Denn es reicht nun, wenn sie selbst die Meinung vertritt, in den Jahren 2023 und 2024 werde die Inflationsrate unter zwei Prozent liegen. Diese Meinung kann im Moment niemand widerlegen. Ihre Meinung, nicht handeln zu müssen, kann sie mithilfe dieses semantischen Tricks begründen. Wir nähern uns hier der Metaphysik.

Wie meinen Sie das?

Wer sagt denn, dass die Inflation nur vorübergehend sei und sich von den Zentralbanken nach Belieben kontrollieren lasse? Was wir wissen: Wir haben derzeit so viel Inflationsdruck wie noch nie seit den 1950er-Jahren. Die Preise der Vor- und Zwischenprodukte liegen in Deutschland 19 Prozent über dem Vorjahreswert, in Spanien gar 30 Prozent darüber. Das muss uns nachdenklich stimmen.

Es gibt allerdings namhafte Ökonomen, die zur Entspannung mahnen. Ihr Argument: Wegen der Corona-Pandemie besteht ein Nachfrage- Überhang, zudem sind die weltweiten Fertigungs- und Lieferketten durcheinandergeraten. Doch werde sich all dies im Lauf des Jahres wieder legen – kein Grund zur Beunruhigung.

Natürlich werden sich die coronabedingten Engpässe wieder auflösen, und natürlich wirkt dies inflationsmindernd, gar keine Frage. Aber wir werden dennoch nicht zu den Inflationsraten vor diesem Buckel zurückkehren, weil es inflationäre Selbstverstärkungseffekte gibt, die wir nicht im Griff haben. Und diese sind nicht beruhigend, sie sind vielmehr massiv beunruhigend.

Welche zum Beispiel?

Die Lohn-Preis-Spirale. Die Gewerkschaften müssen und werden die aktuellen Preisentwicklungen in ihren Lohnverhandlungen berücksichtigen – fünf Prozent Inflation bedeuten einen Kaufkraftverlust der Arbeiter und Angestellten von fünf Prozent. Die im Lauf dieses Jahres verhandelten Löhne werden also um die vergangene Inflation steigen, und das wirkt zumindest für das Jahr 2023 inflationssteigernd. Zweitens beobachten wir heute umfangreiche Hamsterkäufe – erst mal nicht bei den Käufern der Endprodukte, sondern bei den Herstellern. Alle Firmen versuchen, Vorprodukte auf Lager zu kaufen, um Produktionssicherheit zu haben. Das treibt die Güterpreise ebenfalls massiv und regt weitere Hamsterkäufe
an, was wiederum die Inflation treibt.

Das geschieht kurzfristig. Gibt es auch anhaltende längerfristige Trends, die eine Inflation begünstigen?

Oh ja. Die Demografie, also die Bevölkerungszusammensetzung europäischer Gesellschaften. Es scheiden immer mehr Menschen aus dem Arbeitsleben aus und werden zu Rentnern, wollen aber – das ist ihr gutes Recht – weiter konsumieren. Sie verbrauchen ihre Ersparnisse oder besorgen sich das Geld über politische
Prozesse von anderen Leuten, die welches haben. Solcher Konsum ohne Produktion treibt die Preise, zumal die arbeitende Bevölkerung ja aufgrund rückläufiger Geburtenraten zugleich schrumpft.

Die Nachfrage nach Konsumgütern übersteigt das Angebot.

Man kann auch sagen, die Sparquote nimmt ab. Aber das läuft auf dasselbe hinaus. Und wir dürfen die grüne Revolution nicht vergessen, die beschlossene Sache ist: Man will aus den billigeren fossilen Energiequellen aussteigen und in die teureren grünen einsteigen. Dieser Prozess ist im Gang. Die ganze Industriegesellschaft verdankt sich ja seit dem 18. und 19. Jahrhundert im Grunde neu erschlossenen fossilen Energiequellen – und diesen Umstand wollen die europäischen Länder nun in einem gigantischen politischen, gesellschaftlichen und unternehmerischen Kraftakt in nur zwei bis drei Jahrzehnten zurückdrehen bzw. überwinden. Diese Revolution hat – ob sie nun gelingt, weil auch andere Erdteile mitmachen, oder misslingt, weil wir Europäer weiterhin allein auf weiter Flur bleiben – auf jeden Fall enorme Kostensteigerungen der europäischen Energie zur Folge.

Den entscheidenden Punkt für eine sich verstärkende Inflation haben wir dabei noch gar nicht angesprochen: den Geldüberhang. Gegenüber 2008, dem Jahr der Finanzkrise, als die Wirtschaft mit genügend Liquidität ausgestattet war, besteht mittlerweile eine vom EZB-System geschaffene Zusatzliquidität von 5000 Milliarden Euro. 5000! Das meiste Geld wird von Banken, Unternehmen und Privaten gehortet. Sollte ein grösserer Teil davon in den Geldkreislauf gelangen, dürfte die Inflation schnell anziehen.

Das ist die grosse Gefahr und zugleich die grosse Unbekannte. Aus den 5000 Milliarden könnten die Geschäftsbanken durch den Geldschöpfungsmultiplikator sogar ganz legal 20'000 Milliarden Euro an Bankkrediten schaffen. Angesichts dieser Geldmenge wäre eine unglaublich hohe Aufblähung des Preisniveaus möglich. Ich sage bewusst «möglich», nicht «zwingend». Denn letztlich weiss niemand, was mit diesem Geld geschehen wird – auch die Notenbanken nicht.

Haben denn die Notenbanken realistische Optionen, die riesige Geldmenge durch den Verkauf von Aktiven wieder zu reduzieren?

Das können die Notenbanken kaum. Denn sie können ja nicht einfach die Zinsen anheben, ohne die Geldmenge zu verändern. Da der Geldüberhang von 5000 Milliarden zu 4000 Milliarden durch den Kauf von Staatspapieren entstand, würde es nicht reichen, Refinanzierungskredite an die Banken zu verteuern und
zurückzuziehen. Vielmehr müssten die Staatspapiere selbst zurückverkauft werden. Diesen Rückverkauf könnte man nur vermeiden, wenn die Zentralbanken selbst Kredite bei den Banken aufnehmen würden, was aber rechtlich ganz und gar nicht geht. Sie können nicht hoch verzinsliche Kredite aufnehmen und selbst den Staaten niedrig verzinsliche Kredite in Form des Haltens der Staatspapiere gewähren. Das wäre eine krasse Verletzung des Verbots der Staatsfinanzierung, das im Maastrichter Vertrag verankert ist.

Nobelpreisträger Milton Friedman hat einmal die Idee von Helikoptergeld ins Spiel gebracht: also von frisch gedrucktem Geld, das unter die Bürger verteilt wird. Wenn nun Staaten Schuldtitel vergeben und die staatlichen Notenbanken diese Titel in Windeseile aufkaufen, um die Staaten mit frischer Liquidität auszustatten, und wenn die Staaten dieses Geld ihren Angestellten und staatlichen Transferempfängern zukommen lassen – wenn all dies zutrifft, haben wir dann die spekulative Idee des Helikoptergelds in Europa nicht längst umgesetzt?

Ökonomisch gesehen ist dies Helikoptergeld. Natürlich nicht physisch, aber praktisch schon. Man könnte auch sagen: Es ist Staatsfinanzierung durch die Notenbank, die eigentlich gemäss Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union verboten ist. Der französische Sachverständigenrat, der die Regierung berät, hat auch schon die Idee aufgebracht, die EZB möge jedem EUBürger 1000 Euro aushändigen, um die Wirtschaft bzw. die Inflation anzukurbeln. Und das ist nun noch skandalöser. Denn die Verantwortlichen des EZB-Systems wurden nicht vom Souverän gewählt. Sie dürfen eine solche Verteilungspolitik überhaupt nicht betreiben.

Aber ganz realistisch: Wurden Notenbanken nicht eigentlich gegründet, um die Staaten zu finanzieren, also deren Löcher zu stopfen?

Die Potentaten von einst brauchten mehr Geld für ihren Hofstaat und haben gezögert, den Zehnten zu erhöhen, weil es unmittelbare Proteste der Untertanen nach sich gezogen hätte. Also verfielen sie auf die Idee, mehr vom Geld zu drucken, um damit ihren Hofstaat zu bezahlen. Diesen Missbrauch des Münzrechts hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, und genau er hat stets von neuem Inflationen hervorgerufen. So gesehen sind wir in der EU heute nicht viel weiter als im Feudalismus.

Im Gegenteil: Die Staatsverschuldung ist in Demokratien sogar demokratisch abgesegnet. Die Bürger verhalten sich ruhig, die Regierungen haben erst mal nichts zu befürchten.

Das ist pointiert formuliert, aber es stimmt. Was für eine Ironie.

Der Rückverkauf der Staatspapiere liess die Kurse dieser Papiere fallen. Was sind die Folgen?

Dann steigen die Zinsen für Staatspapiere – und die sind ja für die Staaten eben nicht tragbar, wenn dafür nicht ein grosser Teil des Steueraufkommens draufgehen soll. Und der Wertverlust der Staatspapiere brächte wiederum die Bilanzen der Geschäftsbanken durcheinander, weil die ähnliche Papiere halten. Es zeigte sich dann, dass viele Wertansätze in den Bilanzen Luftbuchungen waren. Es käme zu riesigen Abschreibungsverlusten auf Staatspapiere, die manche der Banken unmöglich stemmen könnten. Und aus all diesen Gründen werden die Eurostaaten darauf drängen, dass dies nicht geschieht.

Und in den USA?

Die Amerikaner haben noch die Erfahrungen der 1970er-Jahre in den Knochen – viel Inflation bei stagnierender Wirtschaft, also Stagflation. Dieses Szenario wollen sie auf jeden Fall vermeiden, deshalb agiert die Federal Reserve Bank etwas mutiger als die EZB und hebt die Zinsen an. Aber auch ihr sind Grenzen gesetzt.

Wie würden Sie die aktuelle Situation möglichst anschaulich beschreiben?

Die Notenbanken sind wie ein Auto mit schlechten Bremsen, das den Berg hinunterfährt. Man will nicht bremsen, weil dann das Auto noch mehr ins Schlingern geriete. Zugleich erkennt man mit Schrecken, dass die Kurven immer schwieriger werden.

Und die große Frage ist: Schafft man es am Ende ohne Bremsen, oder kommt es doch zum gewaltigen Bremsmanöver?

Genau.

Sind denn die Notenbanken nicht unabhängig?

De jure schon, aber de facto nicht – die Gouverneure werden von der Politik ernannt und hoffen im Anschluss an ihr Mandat auf eine politische Karriere.

Hoffen die Regierungen insgeheim darauf, die Staatsschulden durch Inflationierung abzubauen?

Bestimmte Äusserungen lassen darauf schliessen, dass manche Regierungen es so wünschen.

Das klingt erst mal manierlich. Aber was ist eigentlich der Unterschied zwischen Inflation und Steuer für den Bürger und Steuerzahler?

Der Staat ist ein grosser Inflationsgewinner, weil er ein grosser Schuldner ist und weil sein an Nominalwerten orientiertes Steuersystem bei Inflation überproportional viel Geld in seine Kassen spült. Auch gewinnt er, weil die Inflation neue Möglichkeiten für Geldschöpfungsgewinne der ihm gehörenden Notenbanken schafft. Man spricht zu Recht von der «inflation tax».

In einem inflationären Umfeld sind also die Gläubiger die Verlierer und die Schuldner die Gewinner. Was heisst das konkret?
Leute, die ein Leben lang gearbeitet haben, sich der Pensionierung nähern und einen nominalgesicherten Vermögensbestand haben, verlieren am meisten. Sie erhalten keine Lohnerhöhung mehr und sie sind nicht in Realwerte wie Immobilien
oder Aktien investiert, die die Inflation teilweise auffangen.

Also der kleine Mann und die einfache Frau von der Strasse?

So ist es. Das konnte man schon in der Hyperinflation im Deutschland der 1920erJahre beobachten: Am meisten leidet das Kleinbürgertum, also Leute mit bescheidenen Sparbüchern und Versicherungsverträgen, aber keinem Realkapital. Am Ende haben sie vor 100 Jahren alles verloren. Und diese Ohnmacht – mitanzusehen, wie alles den Bach runtergeht – hat diese Menschen verbittert und radikalisiert. Wir haben heute andere Verhältnisse, keine Frage. Aber die soziale Unrast wird im Falle einer länger anhaltenden Inflation ebenfalls zunehmen, mit unabsehbaren Folgen für die politischen Prozesse.

Und wer profitiert von der Inflation, neben den hoch verschuldeten Staaten?

In erster Linie all diejenigen, die Kredite aufgenommen haben, um in Realkapital zu investieren, also in Immobilien oder Aktien. Die Preise von Immobilien und Unternehmensaktien steigen für gewöhnlich mit der Inflation. Es kommt hinzu, dass die meisten Unternehmen bei Banken verschuldet sind – das kommt ihnen
zusätzlich zugute.

Kommen wir auf die Schweiz zu sprechen. Müssen wir uns mittelfristig Sorgen machen, wenn die Inflation im Euroraum steigt – trotz Investorenflucht in den Schweizer Franken?

Nein. Die Schweiz ist das einzige Land innerhalb des Eurogebiets, in dem keine nennenswerte Inflation der Erzeugerpreise stattfindet. Der Franken wertet ständig auf, er ist sehr begehrt. Die Kaufkraft bleibt stabil. Sie sind in der Schweiz in einer beneidenswerten Lage. Und wenn allzu viel Fluchtkapital in die Schweiz kommt, ist das auch nicht wirklich ein Problem. Die Schweizerische Nationalbank kann einfach Franken drucken und sie den Anlegern hinhalten – sie kann im selben Umfang ein internationales Vermögensportfolio zusammenkaufen, ähnlich wie die Norweger dies mit ihren Öleinnahmen machen.

Also sollte sich die Nationalbank in eine Art Schweizer Staatsfonds verwandeln? Sie druckt Franken, so wie die Norweger Öl schürfen, kauft damit Vermögenstitel und schüttet einen Teil des Gewinns an die Schweizer Bürger aus …

Ich verstehe den Konjunktiv nicht. Das ist doch seit Jahren die Strategie der SNB.

Sie schüttet einen kleinen Teil der Gewinne an die Kantone aus, ansonsten aber bleibt eben Preiswertstabilität das höchste Ziel. Geldpolitik und Fiskalpolitik werden in der Eidgenossenschaft fein säuberlich auseinandergehalten. Sollte sich dies ändern?

Es gibt das, was geschieht, und es gibt die Art und Weise, wie man darüber redet. Die SNB hat Vermögensaktiva von rund 800 Milliarden Franken, sie ist de facto ein Staatsfonds. Aber es ist bestimmt nicht an mir, der SNB irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Davor hüte ich mich, die SNB macht einen hervorragenden Job. Und zum Glück hat die Schweiz eine eigene Währung.

Sie schreiben in Ihrem Buch: «Die Staaten müssen wieder lernen, sich das Geld, das sie ausgeben wollen, von den Bürgern zu holen, statt es zu drucken.» Das Zauberwort heisst also Kostenwahrheit. Aber wer will denn wirklich Kostenwahrheit?

Ich hoffe doch: die meisten Bürger.

Das bezweifle ich. Mit Illusionen lebt es sich leichter – gerade wenn es um das Eingemachte geht. Verstehen Sie sich selbst eigentlich als ökonomischer Aufklärer?

Ja, sicher. Auch als Forscher und Brückenbauer. Man muss Forschung so betreiben, dass sie von vielen verstanden werden kann und nicht nur von Ökonomenkollegen.

Welche Rolle spielt die Wahrheitsorientierung in der Ökonomie und im Journalismus?

Ich mag es gar nicht, wenn die Argumente so zurechtgezimmert werden, dass dadurch bloss eine vorgefasste Meinung begründet wird. Das geschieht zuweilen in der Ökonomie wie in anderen akademischen Disziplinen auch, und es geschieht im Journalismus die ganze Zeit. Stattdessen muss man den Sachverhalt kühl betrachten, verstehen und dann so darstellen, wie er ist, auch wenns wehtut. Vor
allem muss man bereit sein, seine Meinung zu ändern, wenn sich die Informationen über die Realität ändern.

Sie klingen etwas desillusioniert.

Keineswegs. Ich pflege auch hier den kühlen Blick. Die Orientierung an der Wahrheit, also die Erkenntnissuche, muss jeder gesellschaftlichen Debatte und politischen Entscheidung vorangehen – sonst verhalten wir uns ja wie Kinder, die nur hören wollen, was ihnen in den Kram passt.

Es ist Mode geworden zu sagen: Auch wer die Wahrheit für sich in Anspruch nimmt, bemäntelt damit nur seine eigene ideologische Position. Die Voraussetzung dieser Denkart hört sich tolerant an, ist aber ziemlich krass: Alles ist Ideologie.

Es mag ja sein, dass es solche Leute gibt, die das behaupten. Aber es gibt ja die empirische Evidenz. Am Ende geht es um nachprüfbare Argumente. Man kann nicht einfach irgendwelche Behauptungen in die Welt setzen und sich um deren Begründung foutieren.

Im Silicon Valley tragen manche Unternehmer stets Jeans, T-Shirt und Sneakers. Sie hingegen tragen immer Anzug und Weste. Ist dies ein bewusster Entscheid, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Inhalte statt auf das Äussere zu lenken?

Ich muss Sie korrigieren: Die Weste trage ich vor allem, wenns kalt ist.

Okay. Aber wie stehts um den Bart, der zu Ihrem Markenzeichen geworden ist?

Der Bart ist so alt wie meine Ehe. Meine Frau mochte den. Ich trage ihn seit den frühen 1970er-Jahren.

Sie haben Ihrer Frau damals gelobt, fortan stets Bart zu tragen?

So dramatisch war es nicht. Aber es stimmt schon, ich bin den Präferenzen meiner Frau gefolgt. Sie sah mich mal mit einem Bart, der zufällig entstanden war, und der sagte ihr zu.

Sie wollen nicht wirken wie ein Seemann oder ein Pastor? Sie strahlen dadurch etwas Väterliches, Beruhigendes, ja Grundsolides aus.

Es ist schön, wenn Sie das sagen. Aber in der Zeit nach 1968 ging der Bart, wie ichihn trug, ziemlich gegen den Strich. Der stand nicht für Solidität, sondern eher für Sturm und Drang. Auch wenn ich Ihre Uminterpretation mag, innerlich ist von dem Sturm und Drang auch nach einem halben Jahrhundert noch einiges geblieben.

René Scheu ist Philosoph, Blick-Kolumnist und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP). Für Blick führt er regelmässig vertiefte Gespräche mit interessanten, manchmal polarisierenden, immer anregenden Persönlichkeiten. Hans-Werner Sinn gehört zum akademischen Beirat des IWP.

Nachzulesen auf www.blick.ch.