Brauchen Wirtschaft und Gesellschaft starke Gewerkschaften?

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftskurier, 14.08.2003, S. 3

Neun Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer nehmen Stellung.

Das Debakel der IG Metall bei der Nachfolge von Klaus Zwickel offenbarte nicht nur den tiefen Graben zwischen Reformern und Bewahrern, zwischen Funktionären und Basis, es lenkte auch die Aufmerksamkeit auf die Gewerkschaftsbewegung; insgesamt. Das Scheitern des Streiks der IG Metall mit ihrer Forderung nach einer 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland wirft eine Reihe von Fragen auf: Erkennen die Funktionäre überhaupt noch die Probleme der Arbeitnehmer vor Ort? Sind Flächentarifverträge in globalisierenden Marktwirtschaften noch sinnvoll? Verfügen Gewerkschaften angesichts notwendiger Reformen und Kürzungen im Sozialbereich über zu viel oder zu wenig Macht? Können Gewerkschaften mit ihren straffen Funktionärsstrukturen Impulse für die Zukunft setzen?

Wir haben in einer "Sommer- Umfrage" Wissenschaftler, Politiker und Arbeitgeber zu einem Statement aufgefordert, ob und warum die Wirtschaft und die Gesellschaft starke Gewerkschaften benötigt. Geäußert haben sich dabei die Wissenschaftler Hans-Werner Sinn, Gerhard Fels und Klaus F. Zimmermann, die Politiker Guido Westerwelle, Laurenz Meyer und Rainer Wend und die Arbeitgeber Dieter Hundt, Marco von Maltzan und Klaus Probst.

Klare Worte fielen von den Wissenschaftlern, die den Gewerkschaftern,4 insbesondere der IG Metall, ein überlebtes Gesellschaftsbild (Umverteilung!) und ein in die Massenarbeitslosigkeit führendes Bremsertum vorwerfen. Nur Modernisierung und Konzentration auf die Bedürfnisse der Beschäftigten könne die Gewerkschaftsbewegung retten. Die Politiker fordern die Bereitschaft zum Wandel und mehr Mitbestimmung für die Basis. Die Arbeitgeber betonen die Bedeutung der Sozialpartnerschaft für den wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands, fordern die Gewerkschaften jedoch auf, sich weg von reinen Tarifstreitern hin zu ganzheitlichen Lösungssuchern in einer globalen Welt zu bewegen.

Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner ifo-Institutes für Wirtschaftsforschung und Professor für Finanzwirtschaften an der LMU München. Der Volkswirt ist auch Leiter des von ihm gegründeten Center for Economic Studies (CES): "Die Gewerkschaftsbewegung in ihrer alten Form hat sich weitgehend überlebt. Die Zeiten, wo die Arbeit immer knapper wurde und wo die Gewerkschaften Lohnerhöhungen heraushandeln konnten, die der Markt mit Verzögerung ohnehin hervorgebracht hätte, sind vorläufig vorbei. Deutschland sieht sich im Gegenteil einer historischen Phase der Lohnmoderation gegenüber, die durch eine wachsende Niedriglohnkonkurrenz aus Asien und Osteuropa gekennzeichnet ist. In dieser Phase können die Gewerkschaften keine gute Figur mehr machen. Es wird zu inneren Zerreißproben zwischen den Traditionalisten, die an der alten Hochlohnpolitik festhalten wollen, und den Modernisierern kommen, die bereit sind, auf die veränderten Gegebenheiten Rücksicht zu nehmen. Wenn die Traditionalisten die Oberhand behalten, wird die Massenarbeitslosigkeit noch schneller zunehmen und Deutschland wird weiter auf der schiefen Bahn bergab gleiten, auf der es sich seit geraumer Zeit befindet."