"Sozialstaat überlebt Globalisierung nicht"

Die Presse (ref. Project Syndicate), 04.03.2006

Gastkommentar von HANS-WERNER SINN

Der Staat sollte schlecht qualifizierte Menschen fürs Arbeiten bezahlen - nicht für die Untätigkeit.

Die Marktwirtschaft ist effizient, aber nicht gerecht. Da sich die Löhne nach dem Gesetz der Knappheit bilden, verdienen manche Menschen nicht genug, um davon auskömmlich zu leben. In Westeuropa hilft der Sozialstaat. Auf dem Wege des Lohnersatzes, also durch Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Frührente, garantiert er ein Existenzminimum. Wenn der Markt kein ausreichendes Arbeitseinkommen bietet, kann man dieses auch ohne Arbeit vom Staat bekommen.

Gut gemeint - aber in hohem Maße für die Massenarbeitslosigkeit verantwortlich, unter der Europa leidet. Der Grund ist simpel. Lohnersatzzahlungen sind Löhne fürs Nichtstun, die einen Mindestlohnanspruch gegen die Marktwirtschaft aufbauen, der von den privaten Arbeitgebern immer öfter nicht befriedigt werden kann.

Arbeitgeber sind keine Altruisten. Sie stellen einen Arbeiter nur ein, wenn der Überschuss der von ihm erwirtschafteten Erträge über seine Lohnkosten positiv und nicht kleiner ist als jener Überschuss, den ein ausländischer Arbeiter oder ein Roboter erzeugen könnte. Und die Arbeiter sind nicht dumm. Sie nehmen einen Job nur an, wenn sie dabei mehr als nur den Lohnersatz verdienen. Daher sind Arbeiter, deren Produktivität keinen Lohn über den Lohnersatzzahlungen rechtfertigt, von Arbeitslosigkeit bedroht.

Dieses Problem ist in Westeuropa altbekannt. Es wurde aber durch den Fall des Eisernen Vorhangs drastisch verschärft. Dieses Ereignis in Kombination mit der Öffnung Chinas brachte plötzlich 28 Prozent der Menschheit in das westliche Marktsystem. Die Integration der asiatischen Tigerstaaten in den 70er und 80er Jahren war schwierig genug. Dass nun die ex-kommunistischen Länder noch hinzukommen, stellt die größte Herausforderung in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts dar.

Durch die Integration dieser Ökonomien sind für die meisten der involvierten Länder Handelsgewinne zu erwarten. Für den Westen ergeben sich aufgrund der heftigen Niedriglohnkonkurrenz enorme Probleme. Finanzkapital und Direktinvestitionen fließen in Billiglohnländer. Die westlichen Ökonomien werden gezwungen, sich auf kapitalintensive Produktion zu spezialisieren, in der weniger Jobs geschaffen werden. Gering qualifizierte Arbeitskräfte wandern in den Westen.

Der Überschuss an gering qualifizierten Arbeitern wird durch diese Entwicklung im Westen immer größer. Dadurch sinkt der Gleichgewichtslohn für einfache Arbeit. Bis das neue Gleichgewicht erreicht wird, werden Jahrzehnte vergehen. Die meisten Leser dieses Artikels werden das nicht mehr erleben. Der Prozess wird jedoch anhaltend sein.

Wären die westlichen Arbeitsmärkte flexibel und würden sie dem Druck nachgeben, könnte die Beschäftigung gering qualifizierter Arbeitskräfte bei fallenden Löhnen erhalten werden. Aber weil die Löhne aufgrund der Lohnkonkurrenz des Sozialstaates starr sind, ist ein Anstieg der Massenarbeitslosigkeit wahrscheinlichste Folge der Globalisierung.

Westliche Politiker reagieren auf den Niedriglohndruck, indem sie das Lohnsystem noch starrer machen. In Deutschland beispielsweise plant man einen gesetzlichen Mindestlohn, wie es ihn in anderen Ländern schon gibt. Aber derartige Maßnahmen verschlimmern die Situation. Die Spezialisierung auf kapitalintensive, arbeitssparende Sektoren wird verstärkt, noch mehr Kapital fließt aus dem Land, und noch mehr Menschen wandern aus dem Ausland zu und verdrängen die Einheimischen in den Sessel, den der Sozialstaat für sie bereit hält. Die Massenarbeitslosigkeit steigt.

Der auf Lohnersatz und Mindestlöhnen beruhende europäische Sozialstaat wird die Globalisierung nicht überleben. Es wird möglicherweise noch weitere zehn oder zwanzig Jahre dauern, bis die Politiker das verstehen, aber am Ende werden sie es verstehen müssen. Man kann den Gang der Geschichte nicht aufhalten.

Die Frage ist, ob dieser Sozialstaat zur Gänze sterben muss. Ein neues sozialstaatliches System, das trotz Faktorpreisausgleich sowohl die sozialen Werte Europas bewahrt als auch Massenarbeitslosigkeit verhindert, beruht auf Lohnzuschüssen statt auf Lohnersatzleistungen. Jeder sollte arbeiten, zu welchem Lohn es auch immer eine Stelle für ihn gibt, und der Staat zahlt zu diesem Lohn im Bedarfsfalle ein zweites staatliches Einkommen hinzu, sodass ein sozial akzeptabler Lebensstandard gewährleistet ist.

Wenn der Staat Menschen fürs Arbeiten bezahlt anstatt fürs Nicht-Arbeiten, wie das heute der Fall ist, implizieren Sozialleistungen auch keinen Mindestlohn. Die Arbeitseinkommen passen sich ungehindert an und schaffen so ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage. Bei niedrigeren Löhnen werden mehr Jobs geschaffen, weil es für die Arbeitgeber profitabler wird, einen größeren Teil der Blaupausen in ihren Schubladen und der Ideen in ihren Köpfen zu realisieren. Armut wird vermieden, weil unqualifizierte Arbeitskräfte zwei Einkommen haben: Eines, das sie selbst verdienen, und eines, das ihnen der Staat bezahlt.

So ein System ist nicht billig, aber das ist das momentane System auch nicht. Heute bekommen Millionen Menschen 100 Prozent ihrer Bezüge ohne Arbeit vom Staat. Im neuen System bezahlt der Staat möglicherweise noch mehr Menschen, aber er muss sie nur noch teilweise bezahlen. Statt eines vollen Einkommens erhalten sie ja nur Zuschüsse zum Lohn.

Welches System billiger kommt, ist eine Frage der Algebra und der Ökonometrie. Nach einer Schätzung des Ifo-Instituts ist ein auf Lohnzuschüssen basierendes System für Deutschland billiger. Auf jeden Fall führt der Wechsel vom Lohnersatz zum Lohnzuschuss nicht nur zu mehr Beschäftigung und einem höheren Sozialprodukt, sondern stellt vor allem sicher, dass weniger Menschen der Würde beraubt werden, die nur ein verantwortungsvolles Arbeitsleben bieten kann.

Copyright: Project Syndicate, 2006. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

Der 57-jährige Hans-Werner Sinn leitet das Münchner Ifo-Forschungsinstitut. Er ist ein pointierter Befürworter des freien Marktes - und Kritiker des herkömmlichen Sozialstaates.

Europas Sozialsysteme werden die Globalisierung nur überleben, wenn sie sich drastisch ändern, so eine seiner Thesen. Der Staat sollte darum Arbeitslosengeld durch Lohnzuschüsse für schlecht qualifizierte Arbeitnehmer ersetzen. [Fabry]