Am Rande der Finsternis

Michael Hüther, Süddeutsche Zeitung, 18.10.2016, S. 21

Hans-Werner Sinn sieht schwarz für Europa. Schuld sind der Brexit und die EZB. Doch der Ökonom bietet auch eine Vision – gegen seine Intention.

Hans-Werner Sinn hat in kurzer Zeit ein umfangreiches Buch zum Thema Europa erarbeitet, das mit beachtlicher Detailtiefe aktuelle Herausforderungen durchdringt. Der Titel des Buches „Der schwarze Juni“ lässt aufhorchen und weckt Assoziationen, an den „Schwarzen Donnerstag“, den Beginn des Crashs an der Wallstreet am 24. Oktober 1929 oder an die Terrororganisation „Schwarzer September“, die 1972 den Anschlag bei den Olympischen Spielen in München verübte.

Sinn will uns auf etwas Schlimmes vorbereiten, das kommen mag, und dem er sich mit dem Buch – den Bürgern Europas gewidmet – entgegenstemmen will. Die zentrale These lautet: Die zeitliche Koinzidenz von Brexit-Votum (23. Juni) und Billigung des umstrittenen Anleihenkaufs der Europäischen Zentralbank durch das Bundesverfassungsgericht (21. Juni) begründe vor dem Hintergrund der „Flüchtlingswelle“ und des „Euro-Desasters“ eine Zeitenwende für Europa. Das Schwarz allein reicht als Kolorit nicht aus: „Vor allem aus deutscher Sicht machen sie den Juni zu einem pechrabenschwarzen Monat“.

Bedeutsam ist die Frage, welche europäischen Herausforderungen durch die beiden „Mitsommerereignisse“ eine fundamentale Verschärfung erfahren haben. Dabei trifft man auf viele Argumentationen, die der Autor an anderer Stelle bereits umfassend vorgelegt hat: Kaum ein deutschsprachiger Autor dürfte sich so oft grundlegend zu den Target-Salden, Griechenland im Speziellen und der Euro-Krise im Allgemeinen geäußert haben. Es bleibt jedoch die Frage, ob diese schon vorgetragenen Thesen durch die Juni-Entscheidungen in ein anderes Licht getaucht wurden oder gar eine neue Bedeutung erhielten?

Zunächst: Die fundierte Analyse und die darauf beruhende Kritik Sinns an vielen Entscheidungen im Euro-System lassen die Berücksichtigung anderer Argumente umso schmerzlicher vermissen. Die Motive der EZB zum koordinieren Ankauf von Staatsanleihen (OMT-Programm) kann man berechtigterweise kritisieren und die Folgen ihres Tuns als Menetekel beschreiben, doch man sollte Folgendes ebenso würdigen: Die Existenzgefährdung der eigenen Währung, die im Sommer 2012 an den internationalen Kapitalmärkten Gegenstand großer Wetten war, kann keine Notenbank ignorieren. Dass dann unkonventionell gehandelt wurde, war angesichts der damals gegebenen Bedingungen mit der EZB als einzig handlungsfähiger Institution durchaus angemessen.

Auch die Sorge um die finanzielle Fragmentierung der Euro-Zone als begründete Haltung der EZB muss zumindest eingeordnet werden, wenn man die Motivlage kritisieren will. Schließlich müsste das Deflationsrisiko, das für die EZB das im März 2015 begonnene „Quantitative Easing“ motivierte, überhaupt diskutiert werden. Das Inflationsziel der EZB („unter, aber nahe bei zwei Prozent“) als scholastischen Winkelzug und „semantische Umdeutung des Begriffs der Preisstabilität“ (richtig: Preisniveaustabilität) zu bewerten, geht an der Sache vorbei. Immerhin war es EZB-Direktoriumsmitglied Otmar Issing, der im Jahr 2003 die Reformulierung der Inflationsnorm mit Blick auf Deflationsrisiken und Messprobleme begründete. Effektive Geldpolitik an der Nullzinsgrenze und bei Deflationsgefahren ist kein einfaches Geschäft.

Unverändert gilt: Das beachtliche finanzielle Risiko liegt in dem Austritt von Krisenländern oder gar dem Zerfall der Währungsunion. Es ist in der erheblichen Gläubigerposition der Bundesrepublik begründet, die den deutschen Steuerzahler betrifft. Daran hat das Karlsruher OMT-Urteil nichts geändert. Das erscheint nur in einem anderen Licht, wenn man die Erwartung, die eigene kritische und ablehnende Position zur OMT-Politik – wie von Sinn vor dem Gericht eingängig erläutert – werde sich durchsetzen, zur Referenz nimmt. Dann war das Urteil eine persönliche Enttäuschung, es läutet aber keine europäische Zeitenwende ein.

So hängt die Stimmigkeit der zentralen These des Buchs an der Analyse des Brexit-Votums. Sinn bietet dazu Informationen über die Motive der Briten, über die Erfahrungen mit den Migrationswellen aus dem Commonwealth in den 1950er- und 1960er-Jahren sowie deren Folgen, ebenso über die Sorgen hinsichtlich der Einwanderung aus Osteuropa und nun die Flüchtlingsmigration. All das ist erhellend, bleibt aber doch eklektisch. Zum Verständnis des Votums gehörten ebenso die extreme regionale Streuung der Einkommen, die wirtschaftlich herausragende, politisch isolierte Stellung Londons, die lediglich rudimentären Kenntnisse der Briten über die EU oder die extrem schwache Entwicklung der Löhne seit 2010.

Nicht überraschend folgt die von Sinn empfohlene Verhandlungsstrategie für die EU gegenüber Großbritannien dem Primat der Ökonomie über die Politik. Hier wird ein Pragmatismus geübt, der Anreize für Trittbrettfahrer setzt, weitere Austritte motiviert und so die EU existenziell gefährdet, die nach Sinn per Saldo wirtschaftlich segensreich wirkt. Dabei gerät der Autor, der sonst zu Recht die langfristigen Folgen politischer Kurzsichtigkeit betont, mit sich selbst in Widerspruch. Und die bedrohliche These, Großbritannien werde einen Neuaufbau der Industrie erleben, verkennt die Voraussetzungen: räumliche Verdichtung, Netzwerke und Verbund aus Industrie und Dienstleistungen. All das fehlt dort, der Anteil der Industrie an der Gesamtwirtschaft ist weniger als halb so groß wie in Deutschland. Entscheidend für die Argumentation des Autors ist, ob man den Brexit als EU- oder als Großbritannien-Problem mit – zweifellos erheblichen – europäischen Folgen bewertet. Bedenkt man die seit Langem laufende, von Lügen gespickte Kampagne gegen die EU, die unglaubwürdige Haltung von David Cameron und die massive Medienkampagne für den Brexit, dann sind die 48,1 Prozent für den Verbleib in der EU beachtlich hoch. Wenn nun der Brexit die Zeitenwende für die EU eingeläutet haben soll, bleibt die Frage, ob die EU bei einem Bremain keinen Reformbedarf gehabt hätte. Hängt die Zeitenwende an den zwei Prozent der britischen Wähler, die das Ergebnis gedreht hätten? Wohl kaum.

So hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck: Es bietet viel Spannendes, doch keine kohärente Geschichte. Die Vision für Europa gewinnt das Buch auch ohne Bezug zum „pechrabenschwarzen“ Juni 2016 in den Vorschlägen zur Neujustierung der EU. Interessant und diskussionswürdig sind die Vorschläge zur Steuerung der Migration, zu europäischen Netzen, für ein Subsidiaritätsgericht und zur Verteidigungsgemeinschaft. Deutschland sollte hier sicherlich seiner Führungsrolle gerecht werden. Doch rabenschwarz ist die Lage schon deshalb nicht, weil das die institutionellen Fortschritte der vergangenen Jahre verkennte und einseitig die negativen Aspekte betonte. Wenn man durch das Buch darauf stößt, gewinnt es – freilich gegen seine Intention – kräftig hinzu.