Hans-Werner Sinn: «Fass ohne Boden»

Der Chef des Ifo Instituts, Hans-­Werner Sinn, über die dramatische Lage im Euroraum, weitere Milliarden­abschreiber der Banken und die Gründe für neue Atomkraftwerke.
Interview mit Hans-Werner Sinn, Bilanz, 07.06.2011, Nr. 11/2011, S. 66-70

BILANZ: Herr Professor Sinn, viele Euroländer sind überschuldet, für Portugal und Irland müssen Rettungspakete geschnürt werden, Griechenland steht zum zweiten Mal innert eines Jahres vor dem Staatsbankrott. Ist die Eurokrise noch zu lösen?

Hans-Werner Sinn: Möglicherweise, aber nicht so, wie es jetzt versucht wird, indem man immer neues Geld dem alten hinterherwirft. Dann ist das ein Fass ohne Boden.

Wie dann?

Man muss sicherstellen, dass in den Problemländern die nötigen Anpassungen geschehen. Besonders in Griechenland. Die müssen runter von ihrem hohen Preis- und Lohnniveau, auch von ihrem realen Lebensstandard. Viele Länder leben noch immer über ihre Verhältnisse. Sie importieren wesentlich mehr, als sie exportieren – die Leistungsbilanzen von Griechenland und Portugal sind zehn bis zwölf Prozent im Defizit. Solange man weiter öffentliche Kredite gibt, müssen sich die Länder nicht anpassen. Ohne Kredit könnten sie die Importe nicht kaufen, und es gäbe kein Defizit. Dann müssten sich die Länder privat verschulden, und die hohen Zinsen würden eine deutliche Abkühlung der Volkswirtschaften bewirken. Man würde billiger und wettbewerbsfähiger. Das ist der einzige Weg.

Also muss Europa den Geldhahn zudrehen?

Ich sage nicht, dass man gar kein Geld geben soll. Aber nachdem die Europäische Zentralbank (EZB) im Geheimen die ersten drei Jahre finanziert hat, sind wir nun schon im zweiten Jahr, in dem die Staatengemeinschaft offene Kredite gewährt. Jetzt ist es Zeit, ein behutsames Ende der Politik einzuleiten. Um einen Kollaps des Wirtschaftssystems zu verhindern, muss man einen Zwischenweg finden zwischen dem Selbstbedienungsladen, wie er heute besteht, und dem sofortigen Zudrehen des Hahns.

Wird es ohne Haircut für Griechenland gehen?

Nein. Die Gläubiger müssen einen Teil der Schulden erlassen, weil Griechenland sie sowieso nicht zurückzahlen kann.

Sie haben einen Austritt der Griechen aus dem Euro gefordert.

Das habe ich nicht. Ich habe die Alternativen wissenschaftlich nebeneinandergestellt. Der Austritt ist unter den verschiedenen schrecklichen Alternativen nur die am wenigsten schreckliche. Das heisst nicht, dass ich die Griechen zum Austritt auffordere. Was sie machen, ist allein ihre Entscheidung.

Ist ein Austritt überhaupt realistisch?

Nicht, solange die Griechen auf Transferzahlungen aus der Staatengemeinschaft hoffen können. Aber wenn die Transfers ausbleiben, dann werden sie den Austritt vorziehen. Die notwendige Abwertung von 20 bis 30 Prozent, um die Unternehmen wieder wettbewerbsfähig zu bekommen, werden sie sicher nicht im Euroraum vollziehen. Das würde die Gewerkschaften militarisieren, weil niemand bereit wäre, mit den Lohnsenkungen zu beginnen. Und es würde die griechische Firmenlandschaft in weiten Teilen zerstören. Eine typische griechische Firma hat ihre Schulden in Euros. Wenn Löhne und Preise fallen, fällt auch der Wert der Aktiva dieser Firma, aber die Schulden bleiben unverändert. Dann ist die Firma schnell überschuldet und geht pleite.

Und wenn die Abwertung ausserhalb des Euro stattfindet?

Dann würden zwar die Aktiva der Firma ebenfalls fallen, gleichzeitig aber auch die Schulden gegenüber den Banken, weil die dann in Drachmen umgetauscht sind. Und damit wäre die Firma aus dem Schneider.

Würden die Griechen dann nicht die Banken stürmen, 
um ihre Euros zu retten, statt dass sie weitgehend wertlose Drachmen bekämen?

Doch, das würden sie. Mit dem Ergebnis, dass die griechischen Banken sofort kaputtgingen. Sie gingen aber bei der Alternative auch kaputt. Denn wenn die Firmen der Realwirtschaft pleite sind, können sie ihre Kredite nicht zurückzahlen.

Für wie gefährlich halten Sie die Lage in Portugal und Irland?

Portugal hat wie Griechenland ein riesiges Spar- und Budget¬defizit. Die Horrorzahlen sind vergleichbar gross. Irland ist ein ganz anderer Fall. Irlands Leistungsbilanz wechselt gerade von minus zu plus. Ausserdem fallen dort die Preise und Löhne ¬bereits erheblich, was nötig ist, um das Land wieder wettbewerbsfähig zu machen und die Importe zurückzudrängen.

Um Irland machen Sie sich also keine allzu grossen Sorgen?

Doch, weil dort die Schulden durch die Bankenkrise und die anschliessende staatliche Rettungsaktion am grössten sind. Aber Irlands Wirtschaft ist abgesehen vom Bankensystem gesund.

Wird es auch im Fall von Portugal und Irland in ein paar Monaten ein zweites Rettungspaket brauchen?

Das würde mich nicht wundern. Aber Irland könnte sich selber retten. Wenn man die sehr niedrigen Lohnsteuer- und Mehrwertsteuersätze auf das deutsche Niveau erhöhen würde, dann hätte ¬Irland keine Finanzprobleme mehr. Und das könnte man problemlos tun.

Zugespitzt: Die Südstaaten verprassen das Geld, und Deutschland zahlt dafür. Warum lässt sich Deutschland darauf ein?

Weil es zu spät ist. Bislang hat die EZB 340 Milliarden Euro Kredite gegeben. Dahinter steht letztlich die Deutsche Bundesbank. Jetzt können die EZB und die Bundesbank nicht mehr. Deshalb will die EZB jetzt, dass der europäische Rettungsfonds ESM sie ablöst. Vorgesehen ist ein Kreditpotenzial von noch einmal 700 Milliarden. Und es ist absehbar, dass auch dieses Geld frühzeitig verbraucht sein wird und man dann um noch mehr Geld bitten wird. Deutschland kommt da nicht mehr raus, weil man schon so viel Mittel investiert hat – und weil vorher ja auch schon privates Geld geflossen ist.

Also wirft man jetzt gutes Geld dem schlechten hinterher?

In der Tat. Der Euro wird von der Währungs- zur Transferunion. Und dieser Prozess wird immer so weitergehen. Die ¬Politiker werden jedes Mal sagen: Wenn ich jetzt noch einmal neues Geld gebe, bin ich erst mal wieder für zwei, drei Jahre ¬gerettet, und wer weiss, ob ich danach überhaupt noch im Amt bin. Damit wird in Europa eine gewaltige Schuldenspirale in Gang gesetzt, welche die zukünftigen Generationen massiv ¬belastet und ihren Lebensstandard reduziert.

Wie kann man dieser Spirale entrinnen?

Nur indem man eine Krisenprozedur vereinbart, die sicherstellt, dass die Krisenstaaten nicht so einfach an das Geld rankommen. Das ist aber eben der «Casus Knaxus». Die deutsche Regierung hat letztes Jahr gesagt, die Banken müssen beteiligt werden, es muss einen Haircut geben, es braucht eine Insolvenz¬ordnung. Wo ist das alles geblieben? Die Bundesregierung könnte diese Forderungen jederzeit durchsetzen, schliesslich ist es ja ihr Portemonnaie, das aufgemacht werden soll. Und damit könnte man den Prozess noch unter Kontrolle bringen.

Es fehlt also der politische Wille.

Der Wille oder die Kraft.

Wie lange können das die deutschen Politiker ihren Wählern noch verkaufen?

Das weiss ich nicht, ich bin ja kein Hellseher. Aber wenn die deutschen Wähler verstünden, was da läuft, würden sie wahrscheinlich schon jetzt nicht mehr mitmachen. Denn der Grossteil der gewährten Kredite ist ja gar nicht bekannt. Und viele machen sich nicht klar, um welche Summen es geht. Begreifen die Menschen wirklich den Unterschied zwischen einer Milliarde und einer Billion? Und dass eine Billion Schulden das ¬Lebensglück ihrer Kinder gefährdet?

Immer wieder wird das Argument bemüht, Deutschland profitiere von der EU so stark, dass sich diese Milliardentransfers lohnten.

Die Vorstellung, dass die Deutschen in besonderer Weise vom Euro profitiert hätten, ist falsch. Das sagen Leute, welche die wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht verstehen. Wir haben unter dem Euro sehr viel Kapital exportiert. Das wurde bei uns im Land nicht mehr investiert, was eine Flaute verursachte. Die Flaute bewirkte eine Massenarbeitslosigkeit und die wiederum eine Lohnzurückhaltung, wodurch die Exportwirtschaft wettbewerbsfähiger wurde. Das hat uns geholfen, aber noch lange nicht zu Gewinnern gemacht. Gewonnen haben die Südstaaten, die dank dem deutschen Kapitalexport einen gewaltigen Wirtschaftsboom durchlebten. 1995 hatte Deutschland in Europa das dritthöchste Bruttoinlandprodukt pro Kopf, heute liegt es auf Platz zehn. Unter dem Euro hatte Deutschland bis zur Krise das zweitniedrigste Wachstum aller Länder.

Aber in der Finanzkrise wurde Deutschland zur Konjunkturlokomotive.

Das liegt daran, dass seit der Finanzkrise das deutsche Sparkapital von den Banken nicht mehr hemmungslos in der weiten Welt verteilt, sondern hierzulande investiert wird.

Welche Zukunft hat der Euro noch?

(lange Pause) Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder die Spannungen werden so gross, dass er zerbricht. Oder der Euroraum wird eine Transferunion mit einem Finanzausgleichssystem, das die Unterschiede in den Lebensverhältnissen einebnet.

Das wäre in den Nordstaaten doch politisch nicht durchsetzbar.

Momentan nicht.

«Scheitert der Euro, scheitert Europa», hat Bundeskanzlerin Angela Merkel gesagt. Hat sie recht in dieser Konsequenz?

Nein. Man kann den Euro auch vorzeitig beenden, ohne dass Europa scheitert. Aber wenn man es so weit kommen lässt, dass sich dieser gewaltige Schuldenberg aufbaut, dann scheitert ¬Europa. Damit sage ich nicht, dass man den Euro scheitern lassen darf. Er ist unverzichtbar für die weitere Integration Europas.

Wird er gegenüber dem Franken weiter an Wert verlieren?

Ja. Wobei der Schweizer Franken schon so stark ist, dass er nicht mehr viel stärker werden kann. Und gegenüber dem US-Dollar wird sich nicht viel ändern. Da kämpfen zwei Schwachwährungen gegeneinander.

Der IWF spielt beim Rettungsschirm eine wichtige Rolle, er übernimmt ein Drittel der Anleihen. Inwieweit schwächt Dominique Strauss-Kahns Rücktritt die Handlungsfähigkeit des IWF?

Strauss-Kahn wird in Griechenland verehrt, denn er hat massgeblich dazu beigetragen, dass diese Rettungspakete so geschnürt wurden. Sein Nachfolger wird wohl nicht mehr so grosszügig sein – ausser er kommt wieder aus Frankreich. Frau Lagarde kandidiert ja.

In Italien könnte die nächste Immobilienblase platzen, heisst es. Wie sehen Sie die Gefahr?

Wenn wir Glück haben, bekommt Italien noch eine Soft Landing hin. Aber Italien hatte eine Preissteigerung, die beängstigend ist. In Griechenland, Portugal, Irland, Spanien oder den USA sind ähnliche Immobilienblasen mit einem lauten Knall geplatzt.

Was passiert, wenn in Italien Ähnliches geschieht?

Dann wird dort nicht mehr investiert, und Italien kann sein Leistungsbilanzdefizit nicht mehr finanzieren. Dieses ist zwar nicht so gross wie in Portugal oder Griechenland, aber Italien hat so viele Staatsschulden wie Deutschland. Italien kann keiner retten. Italien muss sich selber retten.

Wie anfällig ist die Finanzindustrie derzeit angesichts dieser drohenden Gefahren?

Sie ist anfällig. Die europäischen Banken sind noch immer unterkapitalisiert. Und sie haben noch grosse unaufgedeckte Verluste in ihren Bilanzen. Die Griechenlandpapiere etwa stehen da teilweise noch zu Werten vom Juli 2008. Es drohen weitere Milliardenabschreibungen. Und solche Fehlbewertungen werden auch durch die Stresstests nicht berührt.

In der Schweiz wird in diesem Zusammenhang eine verstärkte Eigenmittelhinterlegung für die Banken diskutiert. Würde sich der Finanzplatz mit einem Alleingang schaden?

Kaum. Weil ja dann jeder weiss, dass Schweizer Banken dank zusätzlichen Eigenmitteln sicherer sind, können sie sich auch billiger refinanzieren. Das kompensiert den Nachteil mehrheitlich.

Die USA sind mit über 14 Billionen Dollar verschuldet, das ¬Finanzministerium kann seine Rechnungen nur noch dank Notmassnahmen bezahlen. Tickt hier die nächste Zeitbombe?

Das Land hat ein Problem etwa in der Preislage von Spanien – beide haben ein Leistungsbilanzdefizit von fünf Prozent des BIP, beide leben über ihre Verhältnisse. Amerika macht jedes Jahr 800 Milliarden neue Auslandschulden.

Was werden die Folgen sein?

Die Amerikaner kauen die Nitro-Kapsel, indem sie das Land mit Geld überschwemmen, um die Schulden wegzuinflationieren, und gleichzeitig eine gewaltige Fiskalpolitik betreiben, um die Nachfrage anzukurbeln. Das ist zumindest die richtige Politik: Ein Land, das wie die USA in der Liquiditätsfalle ist, muss Budgetdefizite fahren und die Geldmenge vergrössern, bis das Geld den Leuten zu den Ohren rauskommt.

Reicht das?

Ich weiss es nicht. Entweder bekommen die USA jetzt noch die Kurve oder eben nicht. Wenn nicht, besteht die Gefahr, dass dasselbe passiert wie in Japan. Dass das Land in eine Defla¬tionsspirale absackt, die sich selbst verstärkt und aus der es kaum wieder herauskommt. So oder so droht den USA ein verlorenes Jahrzehnt.

Droht in China ein Crash?

Das ist unklar. Jeder sagt, die Wirtschaft dort sei überhitzt, aber die Inflationszahlen sind mit fünf Prozent doch recht manierlich. Im letzten Boom waren sie sehr viel höher.

Also wird China die Konjunkturlokomotive der 
Weltwirtschaft bleiben?

China hat einen gewaltigen Nachholbedarf. Jetzt ist erst der Küstenstreifen entwickelt. Man kann in den nächsten Jahrzehnten Streifen um Streifen weiter in den Westen des Landes wandern. Bis das ganze Land industrialisiert ist, werden noch Jahrzehnte vergehen.

Wie sehen Sie die wirtschaftliche Perspektive der Schweiz?

Positiv. Die Schweiz profitiert davon, dass rund um die Welt neue Krisenherde entstehen – das Kapital drängt deshalb ins Land. Das ist nachfragewirksam, auch wenn der Effekt durch den steigenden Franken etwas gebremst wird. Aber es ist immer besser, wenn Kapital in ein Land hinein- und nicht hinauswill.

Sie gelten als ein Verfechter der Kernkraft. Auch noch 
nach Fukushima?

Ja. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass man die unsicheren Kraftwerke abschalten und durch sichere ersetzen sollte. Die neuen Kraftwerke in Flamanville und Olkiluoto sind nach menschlichem Ermessen sicher. Sie haben doppelte Druck¬behälter, vielfach redundante Sicherungssysteme und beherrschen sogar die Kernschmelze.

Ein Neubau wird politisch nicht durchsetzbar sein. 
Auch die Schweiz hat den Ausstieg aus der Kernenergie ¬beschlossen.

Was soll denn die Alternative sein? Fossile Brennstoffe sind auch gefährlich. Wenn Sie 50 Kilometer neben einem Kohlekraftwerk leben, bekommen Sie dreimal mehr Radioaktivität ab, als wenn Sie 50 Kilometer neben einem Kernkraftwerk leben. Denn der Kohlenstaub, der in die Luft geht, ist ja von Natur aus radioaktiv. Schauen Sie, fossile Brennstoffe machen immer noch 85 Prozent unserer Energie aus. Wind- und Sonnenstrom liegen dagegen in Deutschland im Promillebereich – und das, obwohl wir Weltmeister bzw. Vizeweltmeister in diesen Stromkategorien sind. Da kann man auch mit der blühendsten Fantasie nicht daran glauben, dass sie die fossile Energie ersetzen können. Das kann nur die Kernkraft. Ohne sie ist die Wende zu einer klimafreundlichen Energiepolitik beendet.

Kaum eine Stimme hat in Deutschland so viel ¬Gewicht in Wirtschaftsfragen: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn (63) ist Präsident des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und Direktor des Center for Economic Studies (CES) der Ludwig-Maximilians-Universität – beide in München. Als pointierter Mahner vor wirtschaftlichen Fehlentwicklungen hat der -ordoliberale Ökonom immer wieder Aufsehen erregt. In ¬seiner Freizeit ist Sinn Hobbygärtner und -fotograf.