Auf letztem Loch

interview | Hans-Werner Sinn Der Präsident des ifo Instituts über die Fehler und Versäumnisse in der Euro-Schuldenkrise.
Wirtschaftswoche, 06.06.2011, Nr. 23, S. 26

Herr Professor Sinn, in Athen stocken die Reformen, der IWF zögert mit der nächsten Kredittranche, die Europäische Zentralbank (EZB) wehrt sich gegen jeglichen Schuldenschnitt. Was geht jetzt noch?

Griechenland ist überschuldet und zu teuer. Wenn man dem Land Schulden erlässt, würde das für eine Weile helfen, aber an der fehlenden Wettbewerbsfähigkeit nichts ändern. Dazu braucht es eine Abwertung um 20 bis 30 Prozent gegenüber seinen Partnern im Euro-Raum. Die kriegt man nur hin, wenn man den Geldhahn allmählich zudreht. Was definitiv nicht hilft, ist, immer mehr Geld in das Land hineinzupumpen und den Griechen dann zu sagen, sie sollen es nicht nehmen. Dann gibt es die nötigen Anpassungen nie.

Die EZB schließt eine Umschuldung weiterhin aus.

Griechenland ist seit über einem Jahr pleite. Es kann seine Schulden nicht zurückzahlen. In dieser Situation muss irgendwer auf Ansprüche verzichten. Das kann nicht nur der Steuerzahler sein. Auch die Banken und Versicherungen müssen mitmachen. Sonst kommen sie nie zur Raison.

Warum sperrt sich die EZB so sehr gegen einen Schuldenschnitt?

Das kann sich die EZB aus eigenem Interesse heraus nicht erlauben. Ihr Eigenkapital liegt bei knapp elf Milliarden Euro. Ein Schuldenschnitt von beispielsweise 40 Prozent würde bedeuten, dass sie auf die 45 Milliarden griechischer Staatspapiere, die sie angeblich besitzt, 18 Milliarden Euro abschreiben müsste. Dann wäre die EZB technisch pleite.

Sie könnte auf die Reserven der nationalen Notenbanken zurückgreifen.

Ja, natürlich. Das wird passieren. Dennoch würde ein solcher Vorgang durchaus Zweifel an der Stabilität des Euro und der Funktionsfähigkeit der EZB wecken. Ich verstehe, dass die EZB das vermeiden will. Es geht aber um mehr.

Wie frei kann die EZB in dieser Krise eigentlich noch agieren?

Die EZB ist durch die Ausleihungen im Rahmen des Target-Systems und durch den Aufkauf von Staatsanleihen schon so weit Partei geworden, dass sie jetzt die Staatengemeinschaft dazu drängt, die Finanzierung der Defizite in den Krisenländern mit öffentlichen Krediten fortzuführen. 68 Prozent der Kredite, die im Rahmen der Geldschöpfung der EZB entstanden sind, bestehen inzwischen gegenüber Portugal, Italien, Griechenland und Spanien. Nur noch 32 Prozent der von der EZB durch Kredit finanzierten Zentralbankgeldmenge oder 180 Milliarden Euro entfallen auf die restlichen Länder des Euro-Raums, obwohl diese 82 Prozent der Wirtschaftsleistung der Euro-Zone stellen. Wenn das Tempo der Kreditverlagerung in die Krisenländer, das durch die Target-Salden gemessen wird, zuletzt etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr, beibehalten wird, ist die EZB in zwei Jahren am Ende. Dann kann sie das Geld, das sie in den GIPS-Ländern zusätzlich druckt, um deren Importrechnung zu bezahlen, in den anderen Euro-Ländern nicht mehr einsammeln und muss eine Inflation der Geldmenge in Kauf nehmen. Das ist der Grund, weshalb die EZB so vehement darauf drängt, dass jetzt der Luxemburger Rettungsfonds - sprich: der Steuerzahler - die Finanzierung der GIPS-Länder übernimmt. Sie pfeift auf dem letzten Loch.

Aus Rücksicht auf die EZB sollen die Steuerzahler über immer neue Rettungspakete das Drama weiter finanzieren?

Was die EZB hier tut, sehe ich mit großer Sorge. Es geht nicht an, dass die EZB eine fiskalische Kreditvergabe, die 2009 auf dem Höhepunkt der Krise berechtigt war, jetzt so fortsetzt. Wenn sie das will, bräuchte sie eine andere demokratische Legitimation und Zusammensetzung des Zentralbankrates, denn dieser ist für geldpolitische Entscheidungen zuständig, nicht für fiskalische. Ich kann auch den Ministerpräsidenten von Luxemburg nur begrenzt akzeptieren...

...Sie sprechen von Jean-Claude Juncker, zugleich Präsident der Euro-Gruppe.

Die luxemburgischen Banken haben eine Bilanzsumme in Höhe des 18-Fachen des Luxemburger BIPs. In Deutschland haben wir nur das Zweieinhalbfache. Der Vertreter eines solchen Landes kann nicht für Europa sprechen und den Steuerzahlern sagen, sie müssten bitte einen Bail-out des Bankensystems vornehmen. Er ist viel zu sehr Partei. Luxemburg ist mit Finanzinstitutionen überfüllt, ein Schiff, das bis zum Himmel mit Containern voll beladen wurde und bei der kleinsten Turbulenz umkippen kann.

Die EZB warnt, ein Schuldenschnitt könnte zu einem Stillstand des Interbankenmarktes führen, wie nach der Lehman-Pleite. Teilen Sie diese Befürchtung?

Neben Luxemburg könnten einige französische Banken, die in Griechenland besonders exponiert sind, tatsächlich in Schwierigkeiten kommen. Unter Umständen auch einige andere Finanzinstitutionen. Aber die Staaten haben doch ausreichend Vorkehrungen getroffen, sie zu retten. Für Luxemburg müsste und könnte man ein Sonderprogramm auflegen. Wir können nicht den Lebensstandard ganzer Völker, die über ihre Verhältnisse leben, über Jahre hinaus mit immer mehr neuem öffentlichem Kredit aufrechterhalten, um Europas Banken zu retten. Die direkte Rettung der Banken ist immer der billigere Weg.

Was dann?

Ich vermisse in der öffentlichen Diskussion den Hinweis darauf, was passiert, wenn wir mit den Rettungspaketen so weitermachen wie bisher. Dann bleiben nämlich die gigantischen Leistungsbilanzdefizite der Südländer aufrechterhalten, und mit jedem Jahr wächst die Auslandsschuld dieser Länder um etwa 100 Milliarden Euro. Die Rettungspakete verschieben das Problem nur in die Zukunft und machen es dabei noch größer. Politiker, die das beiseitewischen und sich nun mit immer mehr neuem Geld bis zur nächsten Wahl retten wollen, handeln verantwortungslos. Ein Ende mit Schrecken wäre jetzt besser als ein Schrecken ohne Ende. Was wir von der Politik hören, sind Worthülsen, Versprechungen und Beschwörungen, die keiner mehr ernst nimmt.

Wie hoch ist denn die Rechnung für den deutschen Steuerzahler bislang?

Die Verpflichtungen der Euro-Länder belaufen sich auf knapp 1500 Milliarden Euro, das maximale Verlustrisiko für den deutschen Steuerzahler liegt derzeit bei knapp 400 Milliarden Euro. Wohlgemerkt: das maximale. Wie hoch die Ausfallwahrscheinlichkeiten sind, weiß keiner.

Was also schlagen Sie vor?

Der Konkurs Griechenlands ist ein Fakt. Die Märkte haben dies erkannt und bewerten zehnjährige griechische Staatsanleihen mit 58 Prozent des Nennwerts. Mit einem entsprechenden Abschlag sollte man alle Griechenland-Papiere belegen, sobald sie fällig werden. Das wäre der Haircut. Daneben muss Griechenland seine Wettbewerbsfähigkeit wieder herstellen, um sein Leistungsbilanzdefizit abzubauen. Das geht nur über eine reale oder offene Abwertung. Irland kommt auf diesem Weg sehr gut voran. Nur dort tut sich wirklich etwas. Aber in Griechenland ist eine reale Abwertung immer noch nicht zu erkennen.

Wäre die Rückkehr zur Drachme eine Alternative?

Ohne Abwertung kommt Griechenland nie wieder auf die Beine. Dazu gibt es keine tragbare Alternative. Im Euro-Raum ist das aber eine gefährliche Operation. Etwa das, was in Deutschland mit den Brüningschen Notverordnungen erzwungen wurde. Von 1929 bis 1933 fielen die Preise in Deutschland um 23 Prozent und die Löhne um 32 Prozent. Die politischen Konsequenzen sind bekannt. Träte Griechenland aus, wären zwar die Banken sofort insolvent. Die müsste man dann retten. Doch käme das Land danach sofort wieder auf die Beine, statt einem Siechtum von einer Dekade entgegenzusehen. Dass dann die Staatsschulden relativ zum BIP steigen, ist zwar richtig, doch ist das bei einer Abwertung im Euro-Raum genauso, wenn auch zeitlich verzögert. Die Schulden muss man zum Teil erlassen, so oder so.

Besteht dann nicht die Gefahr, dass sich die Märkte auch auf Länder wie Portugal oder Irland einschießen und letztlich der ganze Euro-Raum erodiert?

Einen direkten Ansteckungseffekt gibt es im Bankensektor. Das bekommt man aber in den Griff. Dass es darüber hinaus auch einen Imitationseffekt geben soll, etwa nach dem Motto: ich gehe pleite, weil mein Nachbar pleite ist, diese Befürchtung halte ich für ziemlich übertrieben. Der wichtigste Ansteckungsweg läuft über die Staatsbudgets, weil sich einige Staaten dazu verpflichten, die anderen zu retten. Dies lässt die Staatsverschuldung ausufern und verstetigt die Ungleichgewichte in Europa. Darin liegt die langfristig größte Gefahr für Europa, und darüber reden die heute verantwortlichen Politiker nicht.

Der Euro sollte den Währungsraum einen. Entwickelt er sich nun zum Spaltpilz?

Wenn zum Schluss ein Teil der Bürger Europas Vermögensverluste erleidet, weil ein anderer die Kredite nicht zurückzahlt, dann stiftet das Unfrieden. Man kann der Politik nur raten, jetzt rechtzeitig den Ausstieg aus all diesen Programmen zu organisieren und zur Normalität zurückzukehren.

Sinn, 63, ist seit 1999 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung und Ordinarius an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Handschuch, Konrad
Fischer, Malte