Eindringliche Warnung vor der Transferunion

Hans-Werner Sinn mit einem Vortrag in der Reihe „Varieties of Europe" zu Gast in Göttingen.
Hans-Werner Sinn

Göttinger Tageblatt, 7. Juli 2017

Aus Talkshows ist Hans Werner Sinn mehr als bekannt: Seit Jahren gibt der deutsche Ökonom den wirtschaftspolitischen Mahner. Mittlerweile leitet er zwar nicht mehr das renommierte Münchener ifo-Institut für Weltwirtschaft. Sei­ner Rolle ist er aber treu geblieben, wie sich bei einem Vortrag in Göt­tingen gezeigt hat.

„Varieties of Europe“ haben Göt­tinger Ökonomen ihre Veranstal­tungsreihe getauft, bei der sie der­zeit verschiedene Varianten euro­päischer Wirtschaftspolitik diskutie­ren - wobei schon Sinns Beschreibung der Gegenwart pessi­mistisch ausfiel: EU und Eurozone durchleben eine fundamentale Kri­se - Massenarbeitslosigkeit, eine perspektivlose Jugend und hohe Staatsschulden prägen das Gesche­hen in Südeuropa. „Dort liegen die Nerven blank", sagt Sinn.

Vor allem die Gemeinschafts­währung Euro macht er dafür ver­antwortlich: „Helmut Kohl war ein großer Staatsmann, aber die D­-Mark wegzugeben, war nicht rich­tig", sagt Sinn - um in knappen Sätzen zu erklären, warum der Euro die heutige Krise verursacht habe. Einerseits hätten sich Länder wie Spanien und Griechenland hoch verschulden können, weil die Gemeinschaftswährung ihnen niedrige Zinsen garantiert habe - was in Spanien in einer Immobi­lienblase und in Griechenland in einem aufgeblähten öffentlichen Dienst resultiert sei.

Und andererseits fehle den Kri­senstaaten durch die Währungs­union die Möglichkeit, ihre Wäh­rung abzuwerten, um Exporte an­zukurbeln und Importe zu brem­sen. Zwar steht Sinn mit dieser Diagnose nicht allein - das, was sich ihm zufolge derzeit als euro­päische Lösung herauskristallisiert, kritisiert er aber scharf: „Macron, Renzi, Tsipras, die wollen alle eine Haftungsunion", sagt Sinn. Er be­fürchtet, dass deren Staatsschulden weiter steigen würden. Und weil so letzendlich Deutschland auch für griechische Schulden haften wür­de, sagt er: „So wird der Steuer­zahler zum Gläubiger Griechen­lands."

Kritik an Zentralbank

Zugleich kommt auch die europäi­sche Zentralbank bei Sinn nicht gut weg, denn in der gegenwärtigen Niedrigzinspolitik sieht er einer­seits einen Versuch, indirekt Staats­papiere zu kaufen - was Sinn trotz anderslautender Gerichtsurteile für verboten hält. Und außerdem sei die gegenwärtige EZB-Politik ein Versuch, die Schulden wegzuinfla­tionieren, worunter wiederum be­sonders deutsche Sparer und Gläu­biger leiden würden.

Angesichts solcher Entwicklun­gen propagiert Sinn eine andere Herangehensweise: Die skizzierte Haftungsunion lehnt er vehement ab, will stattdessen „No-Bail-Out­-Klauseln" nach amerikanischem Vorbild: Dort sei es der Regierung in Washington prinzipiell verboten, überschuldeten Bundesstaaten Kredit zu gewähren. Stattdessen gebe es geordnete Ab­läufe für einen Staatsbankrott - die Sinn auch für Europa fordert, um Investoren von leichtsinniger Kre­ditvergabe abzuhalten. Zudem will Sinn eine „atmende Währungsuni­on", aus der strauchelnde Staaten zeitweise austreten können, um von niedrigeren Wechselkursen zu profitieren. Dass „das Thema von deutschen Parteien komischerweise nicht diskutiert wird", hält Sinn für fatal: Längst verschöben sich die Machtgleichgewichte in der EU, durch den Brexit drohe eine Mehrheit der staatsausgaben­freundlichen Südeuropäer im EU­ Ministerrat zustande zu kommen. Die seien einerseits gegen Freihandel, was Deutschen Interessen ge­genüberstehe. Und andererseits ebne die innereuropäische Macht­verschiebung den Weg für die von Sinn gefürchtete "Transferunion", wie sie Sinn zufolge der französi­sche Präsident Emanuel Macron anstrebt - und wo Deutschland zum Zahlmeister zu werden drohe. „ Die Deutschen brauchen eine ei­gene Agenda für Europa", sagt Sinn deshalb.

Das Interview führte Christoph Höland.

Nachzulesen unter: www.goettinger-tageblatt.de