Raus aus dem Mittelmaß

Interview mit Hans-Werner Sinn, TOP 100, 2006, S. 37-40

Deutschland heute: Wettbewerb wurde abgeschafft, der Leistungswille ist erlahmt, die Wirtschaft stagniert, Bildungsmängel zeigen sich – Mittelmaß allerorten. Prof. Dr. Hans-Werner Sinn hat da seine eigene Therapie entwickelt, um Patient Deutschland wieder auf die Beine zu helfen. Er fordert nicht weniger als eine große Wirtschafts- und Sozialreform, um nicht zu sagen: eine Kulturrevolution. Wie er die Chancen dafür unter der neuen Regierung sieht, verrät er in einem Interview.

R.H.: Herr Professor Sinn, Sie haben vor zwei Jahren die Frage gestellt „Ist Deutschland noch zu retten?“. Wo liegen aus Ihrer Sicht die wirtschaftlichen Hauptprobleme des Landes, im Bereich der Innovationen oder bei den Lohnkosten?

Hans-Werner Sinn: Die Kosten sind das Hauptproblem. Wir sind ja innovationsstark, obwohl auch da manches noch besser werden kann. 16 Prozent unserer Exporte sind Hightech-Produkte, wie in Amerika auch. Wir haben mindestens 450 Weltmarktführer im Bereich des Mittelstandes, die in ihren Nischen eindeutig die Nummer 1 sind. Wir haben drei Viertel der zwanzig größten Messen der Welt in Deutschland. Unser Land hat schon seine Stärken, die Firmen zeigen das auch: Die Unternehmensgewinne wachsen, der DAX steigt und kriegt langsam wieder Anschluss an den amerikanischen Index. Es ist durchaus so, dass die Firmen die Krise, durch die sie in den vergangenen Jahren gegangen sind, jetzt überwinden, aber die deutsche Volkswirtschaft als Ganzes eben noch nicht. Der Arbeitsmarkt bleibt das Hauptproblem: Die Firmen verbessern sich zum größten Teil deswegen, weil sie sich von ihren Arbeitern trennen.

R.H.: Ist es nicht so, dass die hohen Lohnkosten auch eine Art permanenten Innovationszwang auf die deutsche Wirtschaft ausüben?

Hans-Werner Sinn: Ja, durchaus, aber einen unheilvollen Innovationszwang. Denn es liegt überhaupt kein Wert in einer Innovation, die die Arbeitsproduktivität dadurch steigert, dass sie Menschen durch Roboter ersetzt und diese Menschen anschließend in die Arbeitslosigkeit entlässt. Das ist eine unsinnige Innovation. Sinnvolle Innovationen sind nur solche, die mit Vollbeschäftigung einhergehen.

R.H.: Das ist die Analyse aus volkswirtschaftlicher Sicht, aber entstehen auf der betriebswirtschaftlichen Ebene durch den Innovationszwang nicht eher Vorteile?

Hans-Werner Sinn: Betriebswirtschaftlich ist es immer sinnvoll, den Gewinn zu maximieren. Und dieses Gewinnmaximierungsziel würde in einer funktionierenden Marktwirtschaft auch voll und ganz mit volkswirtschaftlichen Zielen kompatibel sein, aber wir haben keine funktionierende Markwirtschaft. Die Löhne in Deutschland sind künstlich durch nicht wettbewerbliche Elemente über das markträumende Niveau hinaus hochgesetzt worden: durch die Tarifstrukturen, die Kartellgewerkschaften haben durchsetzen können, und durch die Rückwirkungen des Sozialstaats. Dies betrifft insbesondere den Bereich der einfachen Arbeit – und deswegen haben wir genau da eine Massenarbeitslosigkeit. Dass die Firmen mit Innovationen darauf reagieren, bedeutet, dass Schlimmeres verhindert wird, aber es führt keineswegs zum volkswirtschaftlichen Optimum. Das lässt sich nur erreichen, wenn der Arbeitsmarkt flexibel wird, also der Lohn wieder durch Angebot und Nachfrage gebildet wird.

R.H.: In Ihrem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ sprechen Sie von einer Kulturrevolution, die notwendig wäre, die eine ähnliche Dimension haben müsste wie die Thatcher-Ära in England. Was sollte in Deutschland denn ähnlich gemacht werden, was anders?

Hans-Werner Sinn: Ich würde höhere soziale Standards setzen als die Engländer. Aber richtig ist es, den Sozialstaat so zu ändern, dass man fürs Mitmachen statt fürs Wegbleiben zahlt. Richtig ist auch, dass man stark auf eine Privatisierung der Rentenversicherung geht, obwohl ich da nur eine Teilkapitaldeckung im Riester- Sinne erwägen würde. Das Riester-Sparen ist also noch zu verfestigen und auszubauen. Entscheidend wird es sein, wenn wir von Thatcher reden, die Macht der Gewerkschaften zu beschränken, so dass die Betriebe wieder mehr Autonomie bekommen und dass die Belegschaft sich gegebenenfalls auch gegen die Meinung der Gewerkschaft mit ihren Lohnvorstellungen durchsetzen kann. Das verlangt Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, das verlangt auch eine erhebliche Begrenzung - wenn nicht eine Abschaffung - des gesetzlichen Kündigungsschutzes à la Österreich oder Dänemark. Und wir brauchen die Möglichkeit, ältere Arbeitnehmer zu integrieren, indem wir ihnen die Weiterarbeit trotz Frührente erlauben. Die gegenseitige Ausschließlichkeit zwischen Arbeit und Rente ist ein Unding. All das würde den Arbeitsmarkt flexibler machen und würde Jobs schaffen, und zwar in gigantischem Umfang. Es wäre wirklich eine Revolution auf dem Arbeitsmarkt, die dann einsetzen würde, mit wirtschaftswunderähnlichen Effekten. Und die Konsequenz daraus wäre neues wirtschaftliches Wachstum und neue Prosperität für das Land.

R.H.: In ihren Büchern kritisieren Sie vehement, dass der Staat mit seinen Lohnersatzleistungen als Konkurrent zum Arbeitmarkt auftritt. Warum ist das auch Ihrer Sicht so fatal?

Hans-Werner Sinn: Es ist richtig, dass der Staat denen hilft, die von ihrer Hände Arbeit nicht leben können. Aber heute macht er das, indem er sagt, ihr kriegt von mir das Geld, wenn ihr nicht arbeitet. Und das führt zur Massenarbeitslosigkeit, weil der Staat dadurch Lohnansprüche aufbaut, die die Unternehmen nicht mehr befriedigen können. Man muss das Geld fürs Mitmachen zahlen, also keinen Lohnersatz sondern Lohnzuschüsse. Die Devise muss sein, jeder muss arbeiten, zu welchem Lohn auch immer, und wenn er von diesem Lohn nicht leben kann, dann zahlt ihm der Staat noch etwas hinzu.

R.H.: Die wirtschaftlichen Probleme in Deutschland sind nicht nur hausgemacht, sondern auch verursacht und beschleunigt durch globale Prozesse. Was sind die wichtigsten Herausforderungen, auf die Deutschland reagieren muss?

Hans-Werner Sinn: Es ist die Globalisierung mit einer Niedriglohnkonkurrenz aus Asien, es ist der europäische Binnenmarkt, es ist der Euro, der und Deutschen die Zinsvorteile genommen hat, es ist die Osterweiterung der EU und es ist die deutsche Vereinigung. Das alles sind gewaltige Umwälzungen, die in den letzten 16 Jahren passiert sind. Und die erfordern substanzielle Reaktionen und Änderungen im Inneren. Ohne diese Änderungen wird es negativ ausgehen für Deutschland, mit entsprechenden Reaktionen auf die Herausforderungen kann man alles ins Positive wenden.

R.H.: Sehen Sie, dass sich Deutschland mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel nun auf dem richtigen Weg befindet?

Hans-Werner Sinn: Die wesentlichen Dinge sind noch nicht berücksichtigt, aber eines ist sicherlich in der Ankündigung da, das ist der Kombilohn oder die aktivierende Sozialhilfe. Je nachdem wie das wirklich umgesetzt wird, könnte das einen erheblichen Beitrag zur Gesundung des deutschen Arbeitsmarkts leisten.

R.H.: Wie bewerten Sie die Steuerpolitik der Bundesregierung, geht das in die richtige Richtung?

Hans-Werner Sinn: Ja, da habe ich gewisse Hoffnungen. Für 2008 soll ja eine Steuerreform vorbereitet werden, der Sachverständigenrat hat gerade seine duale Einkommenssteuer vorgestellt, das ist deckungsgleich mit dem Modell des IFO-Instituts, da bin ich guter Hoffnung, dass sich etwas bewegt.

R.H.: Sie haben in Ihrem Buch vor zwei Jahren ein 6 plus 1 Punkte-Programm für den Neuanfang vorgeschlagen und führen dort als ersten Schritt die Rückkehr zu 42-Stunden-Woche an. Wird sich das durchsetzen?

Hans-Werner Sinn: Ja, natürlich. Im öffentlichen Dienst werden noch Abwehrschlachten geführt, aber in der Privatwirtschaft haben viele Betriebe ihre Arbeitszeiten schon verlängert. Ich glaube, die Verlängerung der Arbeitszeit ist eine Art Königsweg, um einen ersten Schritt in Richtung Verbilligung der deutschen Arbeit zu machen. Die Bruttolöhne radikal kürzen kann ja nun keiner. Man kann nur langsam wettbewerbsfähiger werden, etwa indem der Produktivitätsfortschritt nicht verfrühstückt wird, sondern den Unternehmen gelassen wird. Das würde Anreize schaffen, die deutschen Arbeiter wieder einzustellen. Und was kurzfristig am einfachsten ist und auch relativ schmerzlos geht, ist länger zu arbeiten für das gleiche Geld. Das Schöne daran ist, dass dann auch der Kapitalstock länger arbeitet: Die Kapitalnutzungszeiten pro Tag verlängern sich, und es gibt einen unmittelbaren Wachstumsschub für das Land.

R.H.: Ein weiterer Punkt Ihres Programms für den Neuanfang ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, ist das durch die Rente mit 67 nun abgehakt?

Hans-Werner Sinn: Die Rente mit 67 ist ein seit langem notwendiger und überfälliger Schritt, es ist zu begrüßen, dass das gemacht wurde. Es bringt aber noch nicht wirklich die Lösung des Rentenproblems. Wir brauchen viele kleine Schritte, die sich in der Summe dann ergänzen, und die Rente mit 67 ist einer davon.

R.H.: In ihrem neuen Buch „Die Basar-Ökonomie“ kritisieren Sie Oskar Lafontaine, der die Exportkraft der deutschen Wirtschaft als ein Zeichen dafür sieht, dass Deutschland kein Kostenproblem hat. Sie hingegen sprechen von einem „pathologischen Exportboom“. Warum sehen Sie die Exportstärke Deutschlands so kritisch?

Hans-Werner Sinn: Ich sehe sie nicht an und für sich kritisch. Natürlich ist es gut, wenn man Wertschöpfung im Export hat. Nur muss man sehen, dass dahinter die Vernichtung der arbeitsintensiven Binnensektoren stand. Angesichts der hohen Lohnspanne zwischen Deutschland und den internationalen Niedriglöhnern sind die arbeitsintensiven Sektoren in Deutschland besonders schnell kaputt gegangen und die dort beschäftigten Menschen und das dort beschäftigte Kapital wurden freigesetzt und drängten notgedrungen in die kapitalintensiven Exportsektoren, wo man mit den hohen Löhnen am ehesten noch zurecht kam. Eine marktwirtschaftliche Reaktion auf die internationale Niedriglohnkonkurrenz hätte aber in einer Lohnsenkung im Inneren bestanden, so weit, dass Arbeitslosigkeit vermieden worden wäre. Und bei niedrigeren Löhnen wäre der arbeitsintensive Sektor natürlich größer gewesen und es hätte weniger Sektorwanderung in den Exportsektor stattgefunden. So dass wir zwar weniger Exporte gehabt hätten, aber mehr Beschäftigung und ein höheres Sozialprodukt.