Ökonomen werden nicht sehr ernst genommen

Interview mit Hans-Werner Sinn, Handelsblatt, 19.06.2007

Der Chef des Münchener Ifo-Institutes kommentiert die Ergebnisse der Koalitionsrunde, zieht eine Halbjahresbilanz für 2007 mit Blick auf die schwarz-rote Regierungsarbeit sowie die wirtschaftliche Entwicklung - und erklärt, warum es Ökonomen in Deutschland schwer haben.

Handelsblatt: Wie wird sich das Ergebnis der Koalitionsrunde auf den deutschen Arbeitsmarkt auswirken?

Hans-Werner Sinn: Das Schlimmste wurde vermieden. Aber die Ausdehnung des Entsendegesetzes auf weitere Branchen ist keinesfalls gutzuheißen. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen, die es einer organisierten Teilgruppe der Firmen und Arbeitnehmer eines Marktes erlauben, die Lohnkosten der nicht organisierten Konkurrenten zu diktieren, sind nicht kompatibel mit einer Marktwirtschaft.

Wieso sind Sie so sicher, dass Mindestlöhne schaden?

Im großen Stil haben wir die Wirkungen einer solchen Politik nach der deutschen Vereinigung im Osten gesehen. Damals haben die Westgewerkschaften sich mit den Westunternehmen zusammengetan, um dem Osten eine rasche Lohnangleichung aufzuzwingen. Man wollte sich vor der Konkurrenz internationaler Investoren schützen, die sich zu niedrigen Löhnen in Ostdeutschland hätten einnisten können.

Die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt waren verheerend. Die Motivationslage ist heute ähnlich. Mindestlöhne haben etwas Diabolisches, weil sie alle Gutmeindenden ansprechen, in Wahrheit aber genau diejenigen schädigen, denen man helfen möchte. Je höher der Preis für Arbeit ist, desto weniger Jobs gibt es. Deutschland ist bereits das beste Beispiel für die Jobvernichtung durch Mindestlöhne. Wir haben nämlich schon lange einen impliziten Mindestlohn, der aus dem Lohnersatzsystem des Sozialstaates resultiert. Er hat Deutschland zum Weltmeister bei der Arbeitslosenquote der gering Qualifizierten gemacht. Gesetzliche Mindestlöhne würden die Lohnstarrheit nur noch erhöhen und diese Arbeitslosigkeit auf immer und ewig verfestigen.

Sie haben vor der Bundestagswahl 2005 die Kommission beraten, die das Wahlprogramm für Angela Merkel vorbereitet hat. Wie beurteilen Sie, was davon durchgesetzt wurde?

Das Programm war wirklich Klasse. Frau Merkel wollte das Wisconsin-Modell einführen und damit ein Paradigmenwechsel bei der Sozialpolitik herbeiführen. Öffnungsklauseln bei Tarifverträgen sollten gesetzlich verpflichtend gemacht werden, und es sollte mehr Vertragsfreiheit beim Kündigungsschutz der Arbeitnehmer eingeführt werden. Konsequent umgesetzt hätte dies die Arbeitslosigkeit auf mittlere Sicht bis auf einen friktionellen Rest beseitigt – passiert ist in dieser Hinsicht aber nur sehr wenig.

Warum hat Merkel diese Punkte nicht vehementer vertreten? Weil sie klug ist. Weil sie weiß, dass sie damit unter den derzeitigen politischen Verhältnissen nicht durchkommt.

Ist es tatsächlich klug, aus machtpolitischem Interesse entgegen seiner Überzeugungen zu handeln? Was hat sie von den Alternativen? Sie könnte die Koalition zerbrechen lassen. Frau Merkel ist aber eine kluge Frau. Es ist ihr nicht zu verdenken, dass sie ihre Macht erhalten will.

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Es wundert mich, dass Sie so viel Verständnis haben. Für einen Politikberater wie Sie muss es doch frustrierend sein, wenn Ratschläge versanden.

Ein Politiker, der ungeachtet der Gefahr des Wahlverlustes unpopuläre Maßnahmen ergreift, die dem langfristigen Wohl des Volkes dienlich sind, verdient allen Respekt. Aber man darf keine Illusionen haben, solchen Mut zeigen Politiker meistens erst in ihrer letzten Legislaturperiode. Ich kann sie alle verstehen. Gleichwohl kritisiere ich die Politik.

Was schlagen Sie vor, um aus dieser Zwickmühle zu kommen?

Wir müssten vielleicht das politische System ändern. Es wird zu viel gewählt. Eine französische Präsidialdemokratie etwa, wo der Präsident länger im Amt ist, und wo nicht permanent Landtagswahlen sind, versetzt die Politik in die Lage, längerfristige, nachhaltige Maßnahmen zu ergreifen.

Wie gut ist Politikberatung unter den gegeben Umständen in Deutschland möglich, wie ernst werden Ökonomen genommen?

Nicht sehr ernst.

Woran liegt das?

An der Ignoranz der Eliten. Für ökonomisches Denken, das den Naturwissenschaften näher als den Geisteswissenschaften steht, aber doch etwas Eigenes ist, fehlt bei den Eliten weitgehend das Verständnis. In den angelsächsischen Ländern ist das ganz anders. Dort ist die Volkswirtschaftslehre ein Fach, das die meisten Studenten im Laufe ihres Studiums mitkriegen. Die amerikanische Elite kann ansatzweise ökonomisch denken, die englische auch - die deutsche nicht, die französische auch nicht. Deutschland und Frankreich haben hier eine mentale Blockade.

Deswegen tun sich Ökonomen schwer, Ihre Ideen an den Mann zu bringen?

Ja. Sie müssen ja das ökonomische Einmaleins praktisch in jeder Talkshow neu erklären. Es ist extrem hinderlich bei der Kommunikation, wenn selbst Trivialitäten wie etwa die Aussage, dass niedrigere Löhne mehr Beschäftigung schaffen, noch begründet werden müssen.

Lesen Sie weiter auf Seite 3: Was Ex-Kanzler Schröder dafür kann, dass Ostdeutsche in Österreich Arbeit suchen

Lassen Sie uns noch eine Halbzeitbilanz für 2007 ziehen. Der Arbeitsmarkt entwickelt sich zunehmend gut – und die Politiker klopfen sich auf die eigenen Schulter. Zu Recht?

Schröder hat einiges geleistet, aber davon abgesehen ist wenig passiert. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist sicherlich vor allem dem weltwirtschaftlichen Boom geschuldet. Der Boom ist von einen starken Anstieg der weltweiten Investitionen verursacht,– und wer liefert die Investitionsgüter? Wir. Wir haben derzeit einen so starken Boom in der Welt, wie wir ihn Jahrzehnte nicht hatten. Ja, wenn die Prognosen für dieses Jahr stimmen, hat es seit 1950 noch nie eine Situation gegeben, in der die Weltwirtschaft vier Jahre hintereinander mit etwa fünf Prozent gewachsen ist.

Und 2008?

Der Boom hält an. Was in den USA an Konjunkturdynamik verloren geht, kommt in Europa dazu. Die Zyklen laufen versetzt, Europa ist der Nachzügler, kommt aber mit Macht. Der Aufschwung wird sicherlich in das nächste Jahr tragen, eventuell bis an das Ende des Jahrzehnts.

Die Zyklustheorie – fünf Jahre rauf, fünf Jahre runter – gilt also weiterhin, obwohl wir durch die nahezu parallel aufstrebenden Märkte in China und Indien immer weniger von der US-Wirtschaft abhängen?

Seit 1970 haben wir regelmäßige, zehnjährige Konjunkturzyklen in Deutschland. Ich sehe nicht, warum sich das substanziell ändern sollte. Das Problem daran ist, dass die Leute im fünfjährigen Abschwung denken, es geht permanent in den Keller. Und wenn es fünf Jahre hoch geht, glauben sie, wir wachsen nur noch.

Dass ohnehin der Fünf-Jahres-Rhythmus gilt, klingt nach einem Alibi für die Politik, nichts tun zu können. Sie kann aber das Trendwachstum beeinflussen. Tut sie das?

Was Gerhard Schröder in seiner zweiten Amtsperiode tat, war trendorientierte Politik. Ich weiß zwar nicht, wie viel davon jetzt am Arbeitsmarkt zu sehen ist und wie viel auf den ungewöhnlichen Boom der Weltwirtschaft. Aber Schröder hat einer Million Ostdeutschen und einer Million Westdeutschen die Arbeitslosenhilfe weggenommen. Da mussten sich einige bewegen. Wenn jetzt die Ostdeutschen anfangen, in Österreich zu jobben, liegt das bestimmt an der Agenda 2010.

Und wenn es neue Jobs gibt, hier und da, liegt das zum Teil eben auch an Herrn Schröder. Dass die jetzige Regierung damit viel zu tun haben könnte, glaube ich nicht. Das bisschen Senkung der Lohnebenkosten kann man vergessen. Das hätte sie in dieser kurzen Frist nur mit einem keynesianischen Strohfeuer schaffen können. Es ist gut, dass sie das nicht versucht hat, sondern das Buget konsolidiert hat.

Lesen Sie weiter auf Seite 4: Wieso Peer Steinbrück "seine Sache" gut macht

Welche Bedeutung hat der Sparkurs der Regierung?

Die Budgetkonsolidierung ist die größte Leistung der Koalition.

Das heißt, Peer Steinbrück ist der derzeit erfolgreichste Regierungspolitiker?

Er macht seine Sache jedenfalls gut.

Meinen Sie dies auch in Hinblick auf die Unternehmenssteuerreform?

Ja, die Kernelemente sind richtig. Wenngleich ich mir gewünscht hätte, dass Steinbrück auch den Normaltypus der Investitionen eines deutschen Mittelständlers im Auge hat, der zwischen einer Realinvestition in seinem Betrieb oder einer Finanzanlage am Kapitalmarkt wählt. Wegen der relativ starken Entlastung der Zinserträge wird die Investitionsentscheidung häufig zugunsten der Finanzanlagen ausfallen und dann im kommunizierenden Röhrensystem der internationalen Kapitalmärkte verpuffen. Die Politik hat sich gedanklich zu sehr auf die Wahl zwischen internationalen Direktinvestitionen und deutschen Realinvestitionen konzentriert. Das ist aber nur der kleinere Teil des internationalen Kapitalverkehrs. Auch gefällt mir die Steuer auf Veräußerungsgewinne nicht, weil sie eine implizite Steuer auf einbehaltene Unternehmensgewinne ist und die Renditeansprüche an das mit Eigenkapital finanzierte Realkapital erhöht.

Lässt er sich von populistischen Einzelfällen leiten und hat die Struktur der deutschen Wirtschaft zu wenig vor Augen?

Das sagen Sie jetzt. Nein, die Verzahnung zwischen Finanzarbitrage und Realinvestition wird häufig nur ungenügend gewichtet. Auch die Presse macht immer wieder diesen Fehler.

Steht die falsche Motivation hinter der Reform?

Nein, seien wir froh, dass das geschafft wurde. Die Feinheiten kann man später nachjustieren.

Das Gespräch führte Dorit Heß