Deutschland als Reform-Motor Europas: über Krisen und Chancen

Schwarzmalerischer Titel, hoffnungsvoller Untertitel: H.-W. Sinn legt mit „Der schwarze Juni: Brexit, Flüchtlingswelle, Euro-Desaster – Wie die Neugründung Europas gelingt“ ein Buch vor, das sowohl Untergangsstimmung verbreitet als auch Hoffnung stiftet.
Hans-Werner Sinn

getAbstract, 28. Februar 2018.

Die sich überschlagenden politischen Ereignisse nähren die Zweifel am Fortbestand des europäischen Status quo. Jedoch könnte das Versagen Europas die Aussicht auf grundlegende Reformen auf EU-Ebene verbessern. Die vielen Krisen als Chance? Hans-Werner Sinn, der mit Der schwarze Juni zu den deutschen Finalisten des getAbstract International Book Award 2017 zählt, sieht es so.

Herr Prof. Sinn, Sie haben den Juni 2016 aufgrund einer Kumulation von Ereignissen als „schwarzen Juni“ bezeichnet. Während Brexit- und Flüchtlingskrise weiterhin die Schlagzeilen beherrschen, ist es um die Eurokrise ruhig geworden. Gibt es Entwarnung?

Nein, im Gegenteil. Die Eurokrise wird durch eine gewaltige Ausdehnung der deutschen Haftung und eine Umschuldung Südeuropas zulasten der Bundesbank lediglich übertüncht. Konkret: Durch die EZB-Politik wurde die Bundesbank – die ja dem deutschen Steuerzahler gehört – gezwungen, anderen Ländern der Eurozone bis zum Jahresende 2017 für 907 Milliarden Euro Überziehungskredite zu gewähren, die sogenannten Target-Kredite. Diese Kredite kann die Bundesbank nie fällig stellen, und der Zins wird von der Mehrheit der Target-Schuldner im Eurosystem selbst bestimmt. Derzeit ist er null. Man kann also auch sagen, dass die Bundesbank in diesem Umfang deutsches Vermögen verschenkt. Lange wird das nicht mehr funktionieren.

Die Verhandlungen über den Brexit zwischen Großbritannien und der EU sind festgefahren. Was wird Ihrer Ansicht nach geschehen?

Es rasen hier zwei Züge mit Volldampf aufeinander zu. Ich verstehe nicht, dass die deutsche Politik das Unglück einfach so geschehen lässt und es dem französischen EU-Kommissar Michel Barnier überlässt, den Briten für die Zeit nach ihrem Austritt Handelshemmnisse anzudrohen. Eine solche „Strafaktion“ würde auch Deutschland schweren Schaden zufügen, denn die Briten sind einer unserer wichtigsten Handelspartner. Mit dem Brexit verlieren wir im Übrigen den politischen Schutzschirm der Briten in Form eines stetigen Einsatzes für eine weltoffene EU. Unter diesem Schutzschirm ist es der deutschen Industrie gelungen, ihre dominierende Stellung in der Welt zu erobern.

Die Flüchtlingskrise hat in Deutschland zum Einzug der AfD in den Bundestag und zu einem Rechtsruck geführt. Man diskutiert über eine Obergrenze für Flüchtlinge. Zugleich scheint klar, dass Deutschland aufgrund der demografischen Entwicklung Einwanderer braucht. Wie beurteilen Sie die Aussichten für die deutsche Wirtschaft, wenn die Zuwanderung begrenzt wird?

Eine Zuwanderung aus Ländern mit einem nur geringen Ausbildungsniveau und einer nur wenig entwickelten arbeitsteiligen Kultur hilft der deutschen Industrie nicht. Was sie braucht, ist eine Zuwanderung aus den uns kulturell näherstehenden Ländern Osteuropas, die über ein gutes Schulsystem verfügen, sowie vielleicht auch aus bestimmten asiatischen Ländern.

Großbritannien verlässt die EU, Frankreich hat einen starken Präsidenten und Deutschland eine geschwächte Kanzlerin. Erwarten Sie eine Kräfteverschiebung in Europa?

Ja, die Kräfteverschiebung ist massiv. Nach dem Lissabon-Vertrag kann eine Ländergruppe im Ministerrat nicht überstimmt werden, wenn sie mindestens 35 % der EU-Bevölkerung auf sich vereint. Vor dem Brexit hatten die nördlichen EU-Länder, also Deutschland, Großbritannien, Holland, Österreich, Dänemark, Schweden, Finnland und die baltischen Länder 39 % der Bevölkerung und die mediterranen Länder hatten 38 %. Da beide Gruppen die Sperrminorität hatten, gab es ein Machtgleichgewicht. Nach dem Brexit rutschen die nördlichen Länder auf 30 % herunter und die mediterranen auf 43 % hinauf. Das sagt eigentlich alles. Die Folge ist klar: Die EU droht zu einer Transferunion mit Nord-Süd-Transfers und einer Handelsfestung zum Schutz der nicht mehr wettbewerbsfähigen Industrien Südeuropas und Frankreichs zu werden.

Sie haben in Ihrem Buch einen 15-Punkte-Plan für die Reform Europas vorgeschlagen. Sehen Sie, dass die Politik sich zumindest teilweise in diese Richtung bewegt?

Nein, nicht einmal ansatzweise. Alles geht in die Richtung auf mehr Gemeinschaftshaftung und mehr Umverteilung. Die Umverteilung hält in ganz Südeuropa die in der Euro-Blase überhöhten Löhne aufrecht und verhindert auf Dauer, dass die Industrie wieder auf die Beine kommt. Und die Gemeinschaftshaftung führt zu einer Schuldenlawine, ähnlich wie wir sie in den USA nach den Vergemeinschaftungsaktionen des ersten Finanzministers Alexander Hamilton beobachten konnten. Diese Schuldenlawine hat in den Jahren 1835 bis 1842 nicht weniger als neun von damals 29 Staaten und Territorien in den Konkurs getrieben und nichts als Hass und Streit erzeugt. Die ungelöste Schuldenfrage trug zum Sezessionskrieg bei, der 19 Jahre später ausbrach. Ein höchst beunruhigendes Szenarium, wenn man es auf die heutige Zeit überträgt.

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