Die neuen Eurobonds

Ein Vorschlag der EU-Kommission soll Europas Krisenstaaten helfen, sich zu finanzieren. Doch er ist brandgefährlich.
Hans-Werner Sinn

Die Zeit, 7. Juni 2018, S. 29.

Die Geschichte wiederholt sich. Erst rettet die Europäische Zentralbank (EZB) die überschuldeten Länder des Euro-Raums. Dann muss die Staatengemeinschaft Ersatz leisten und die EZB bei der Kreditvergabe ablösen. So war es schon in den Jahren 2008 bis 2010: Nachdem private Anleger den Krisenländern kein Geld mehr leihen wollten, hatten sie sich mit sogenannten Target-Überziehungskrediten aus dem Verrechnungssystem der europäischen Notenbanken über Wasser gehalten. Schließlich erfand man die Euro-Rettungsschirme, die Deutschland abgetrotzt wurden, um die Notenbanken abzulösen. Und so geschieht es nun wieder. 

Dieses Mal geht es um Papiere, die die EU-Kommission vorgeschlagen hat und die manche als Wunderwaffe preisen, um die Finanzprobleme Südeuropas zu lösen: sogenannte SBBS-Papiere. Durch sie soll die Politik abermals die EZB entlasten. 

Die EZB hat Südeuropa gerettet. Jetzt will die EU die EZB entlasten

Die Entlastung ist notwendig, weil sich die EZB in den letzten drei Jahren durch massenhaften Ankauf von Staatsanleihen der Euro-Länder, das sogenannte quantitative easing, ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt hat und sich irgendwann wieder zurückziehen will. Für das quantitative easing wurde Zentralbankgeld geschaffen. Das hat die Zentralbankgeldmenge im Euro-System innerhalb von drei Jahren fast verdreifacht. Der weitaus größte Teil des neu geschaffenen Geldes (circa zwei Billionen Euro) diente dem Kauf von Staatspapieren. Das ermöglichte es den Staaten, neue Staatspapiere zu verkaufen und sich immer mehr zu verschulden. Außerdem hielt man dadurch die Kurse, zu denen diese Staatsanleihen gehandelt werden, künstlich hoch. Das rettete Banken, die viel Geld in diese Papiere investiert hatten. So wurden Abschreibungen in den Bilanzen der Banken vermieden, die etliche Banken in den Konkurs getrieben hätten. 

Der Grund dafür, dass die EZB jetzt wieder entlastet werden soll, liegt in der Inflationsgefahr und, damit zusammenhängend, in den rechtlichen Problemen umfangreicher Staatspapierkäufe, die mit der Druckerpresse finanziert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem Vorlagenbeschluss an den Europäischen Gerichtshof, der in den nächsten Wochen verhandelt wird, sehr kritisch gegenüber der EZB geäußert und sich auf die Seite der Kläger gestellt. Die Kläger hatten moniert, dass das Kaufprogramm eine Staatsfinanzierung mit der Druckerpresse bedeutet und insofern den Maastrichter Vertrag verletzt (Artikel 123 AEUV). Deutschland hatte dieses Verbot der Monetarisierung der Staatsschulden seinerzeit verlangt, da dem Land die Hyperinflation der Weimarer Republik mit all ihren katastrophalen Folgen noch in den Knochen steckte. 

Das Kaufprogramm zu beenden oder gar rückabzuwickeln würde die Banken und Staaten Südeuropas allerdings in ernste Schwierigkeiten bringen. Deswegen arbeitet man in Brüssel und Frankfurt fieberhaft daran, ein Programm aufzulegen, das die Nachfrage nach den Staatspapieren hoch verschuldeter Euro-Länder verstärkt. Ein solches, eng mit der EZB abgestimmtes Programm hat die EU-Kommission kürzlich unter dem Kürzel SBBS präsentiert. 

Die Abkürzung SBBS steht für Sovereign Bond Backed Securities. Es handelt sich dabei um strukturierte Wertpapiere, die aus einem Bündel von Staatspapieren aller Euro-Länder bestehen und bei dem grundsätzlich jedes Euro-Land in Proportion zu seiner Wirtschaftskraft vertreten ist. Indem Anleger die Bündel kaufen, kaufen sie automatisch die Papiere der schwächeren Euro-Länder mit und verschaffen ihnen einen Marktzugang, der sonst vielleicht nicht vorhanden wäre. 

Eine Besonderheit der SBBS-Papiere besteht darin, dass ein Käufer dieser Papiere nicht einfach anteilig Eigentümer aller im Bündel vertretenen Papiere wird. Nein, es ist viel komplizierter. Er kann aus einer Reihe neu geschaffener, mit Rangstufen versehener Anspruchstitel wählen, die ihn berechtigen, an den Zins- und Tilgungsrückflüssen aus den Staatspapiere beteiligt zu werden. Allerdings versehen mit unterschiedlicher Sicherheit. Die Rangstufen ähneln jenen, die man von Hypotheken in Deutschland kennt. Wird eine mit Grundschulden belastete Immobilie zwangsversteigert, erhält erst der Gläubiger mit der höchsten Rangstufe sein Geld, dann der mit der nächsten und so weiter, je nachdem, wie viel Geld insgesamt verfügbar ist. 

Bei den SBBS-Papieren soll es drei gestaffelte Rangstufen geben: die erste und sicherste nennt man Senior-Tranche, die zweite Mezzanine-Tranche und die dritte Junior-Tranche. Wer sich an der Junior-Tranche beteiligt, muss gute Nerven haben, denn den Letzten beißen die Hunde. 

Anteile der jeweiligen Tranchen werden in Form der SBBS-Wertpapiere am Markt verkauft. Senior-Papieren wird eine kleine Rendite versprochen, die aber mit hoher Wahrscheinlichkeit gezahlt wird. Junior-Papieren winkt eine hohe Rendite. Doch wird die nur realisiert, wenn alle Staaten solvent bleiben und ihre Kredite tatsächlich zurückzahlen. Mezzanine-Papiere liegen dazwischen. Fallen bei irgendeinem der gebündelten Staatspapiere Rückzahlungen aus, dann trifft der Ausfall zunächst die Junior-Papiere, bis sie keinerlei Wert mehr haben. Wenn der Ausfall größer ist als der gesamte Anspruch, den die Junior-Papiere verkörpern, sind auch die Mezzanine-Papiere betroffen. Nur im Extremfall einer Insolvenz mehrerer Staaten würden auch die Inhaber der Senior-Papiere nicht alles Geld zurückbekommen. 

Allgemein nennt man solche strukturierten Wertpapiere ABS-Papiere (Asset Backed Securities). ABS-Papiere, die aus Darlehensansprüchen gegen wenig solvente Hausbesitzer zusammengemischt waren –das Stichwort lautet Subprime –, standen im Mittelpunkt der amerikanischen Finanzkrise. Vor zehn Jahren hätte sie die Finanzwelt beinahe in den Abgrund gerissen. Der Großinvestor Warren Buffett nannte die ABS-Papiere damals „Massenvernichtungswaffen“. 

Die EU-Kommission will die Papiere natürlich nicht als Massenvernichtungswaffen einsetzen, sondern, um auch den weniger soliden Staaten Europas die Chance zu geben, ihre Staatspapiere zu niedrigen Zinsen zu verkaufen, also günstig Kredit zu bekommen. 

Den Weg dazu sieht sie darin, die Papiere regulatorisch zu privilegieren. Während ABS-Papiere heute von den Regulatoren als risikobehaftet angesehen werden und deshalb von den Banken mit teurem Eigenkapital unterlegt werden müssen, sollen die Banken die neuen SBBS-Papiere ohne Eigenkapitalunterlegung schrankenlos halten dürfen. Ähnlich ist das heute schon bei den Staatspapieren der Euro-Länder der Fall, wenn sie einzeln gekauft werden. Zum Ärger vieler Ökonomen können auch sie gehalten werden, ohne dass Banken für sie Eigenkapital, also Sicherheiten, hinterlegen müssen. Dieses Privileg wird vermutlich zu einer gewissen Marktnachfrage führen und damit auch weniger solide Euro-Länder in die Lage versetzen, Käufer für ihre Staatspapiere zu finden. 

Die EU-Kommission behauptet, ihr Vorschlag beinhalte keine Vergemeinschaftung von Risiken. Diese Behauptung ist schief – wenn nicht unwahr. Denn die Privilegierung der SBBS-Papiere durch die Regulatoren im Verein mit der Schaffung eines großen und damit liquiden Marktes für einheitlich gestaltete Wertpapiere bedeutet sehr wohl Vorteile für Staaten mit geringer Bonität zulasten von Staaten mit hoher Bonität. Indem die besseren Papiere mit den schlechteren Papieren in fester Proportion zusammengebunden werden und das Volumen der normalen Märkte für diese Papiere reduziert wird, geht die bisher vorhandene hohe Nachfrage für „sichere“ Staatspapiere zurück, und die bisherige Abneigung gegenüber „unsicheren“ Staatspapieren verliert sich ein Stück weit. Das reduziert die Zinsunterschiede zwischen guten und schlechten Papieren, belastet Länder mit guter Bonität durch höhere Zinsen und entlastet solche mit schlechter Bonität durch niedrigere Zinsen. 

Problematisch ist, dass die ohnehin überschuldeten Staaten durch diese Zinssenkungen ermuntert werden, sich noch mehr zu verschulden. Das hilft ihnen zwar im Moment, doch wird damit eine wichtige Bremse der Kapitalmärkte beschädigt, die verhindert, dass Volkswirtschaften auf dem Wege der Verschuldung zu viel Fahrt aufnehmen, inflationär überhitzen und beim Platzen von Blasen in Schwierigkeiten geraten, weil ein höheres Preisniveau in der Währungsunion zwangsläufig zu einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit führt. Diese Bremse wird normalerweise durch die Furcht der Anleger vor dem Verlust ihres Geldes aktiviert. Die SBBS blockieren aber diese Bremse. Genau deshalb sind sie eine Gefahr für die Stabilität Europa. 

Es gibt zudem noch einen anderen Weg, über den Risiken sozialisiert werden. Die Kommission hat nämlich Experten befragt. Und die allermeisten von ihnen befürchten, dass der Markt kaum Interesse am Erwerb der sogenannten Junior-Tranche haben wird. Als zu groß wird offenbar die Wahrscheinlichkeit empfunden, dass irgendwelche Staaten der Euro-Zone pleitegehen, was bei den Junior-Papieren unweigerlich zu Ausfällen führt. Insofern sei es kaum vorstellbar, dass private Zweckgesellschaften, die ohne staatliche Garantien arbeiten, diese SBBS-Papiere auflegen würden, lassen die Fachleute wissen. Tatsächlich sagten neun von zehn Experten, die eine Meinung äußerten, dass die Zweckgesellschaften öffentliche Einrichtungen sein müssten. Einer meinte, dass auch eine öffentlich-private Partnerschaft möglich sei. 

Es reicht allmählich mit den Taschenspielertricks

Daher weht also der Wind! Am Markt geht man offenbar davon aus, dass die europäischen Steuerzahler für die Zweckgesellschaften geradestehen, die diese Papiere strukturieren. Und dass sie gegebenenfalls auf dem Junior-Schrott sitzen bleiben. Dieser Erwartung wird sich die Politik nicht widersetzen können. 

Die EU-Kommission selbst bleibt bei der Beschreibung der Zweckgesellschaften, die die SBBS-Papiere strukturieren, mehr als vage. Und dies, obwohl diese Gesellschaften doch von zentraler Bedeutung für den Vorschlag sind und obwohl die Kommission 151 Seiten eng bedrucktes Papier auf den Tisch legt, die sich mit lauter Nebensächlichkeiten beschäftigen. Die Vergemeinschaftung sei „vom Konzept her“ nicht vorgesehen, lautet das in den Texten immer wieder auftretende Mantra. Wenn diese Vergemeinschaftung aber schließlich doch kommt, weil das System sonst nicht funktionieren würde, dann ist zu befürchten, dass die Verantwortlichen sich in Entschuldigungen flüchten. Das habe man nicht vorhersehen können und auch nicht beabsichtigt, wird es später heißen. Nein, was hier vorbereitet wird, sind Eurobonds durch die Hintertür und sonst gar nichts. Es reicht allmählich mit den Taschenspielertricks. 

Helmut Kohl hatte in seiner Rede zur Einführung des Euro im Bundestag im Jahre 1998 gleich zweimal identisch gesagt: „Nach der vertraglichen Regelung gibt es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedsstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers.“ Er hat, wie viele, die ihm geglaubt haben – beispielsweise der Verfasser dieses Textes – die politischen Mechanismen einer Währungsunion unterschätzt. Nur eine mündige Öffentlichkeit kann jetzt noch dafür sorgen, dass die Politik wahrhaftig bleibt. 

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