Unser Euro? Mein Europa!

Die Debatten über die Zukunft Europas und des Euro werden immer heftiger geführt. Hans-Werner Sinns profunde ökonomische Analysen bietet wertvolle Kurskorrekturen für Wirtschaft und Politik – wie der folgende Auszug aus seiner Autobiographie belegt.
Hans-Werner Sinn

Tichys Einblick, 16. Juni 2018.

Viele deutsche Politiker, zumal solche, die persönlich für die Weichenstellungen der jüngeren Vergangenheit verantwortlich sind, behaupten, der Euro sei eine Erfolgsstory für Deutschland. Sie stilisieren Deutschland zum großen Profiteur des Euro, weil die Konjunktur prächtig läuft, während andere Länder in der Krise sind, weil Deutschland beim Exportüberschuss Weltmeister ist und weil seine Arbeitslosigkeit gering ist. Und sie fügen an, Deutschland sei so reich, dass man den anderen Ländern der Eurozone unter die Arme greifen müsse, damit sie wieder auf die Beine kommen. Das klingt nach einer guten Gesinnung. An der Realität orientiert und verantwortungsbewusst ist eine solche Sicht nicht. Jene, die sie vertreten, übersehen nämlich zentrale Aspekte:

Erstens übersehen sie, dass Deutschland nach der Einführung des Euro zunächst in eine gewaltige Wirtschaftskrise mit mehr Arbeitslosigkeit geriet, als man in Frankreich oder Italien selbst auf dem Höhepunkt der Krisen dieser Länder verzeichnete. Lange Zeit trug Deutschland sogar die rote Laterne des europäischen Wachstumszugs, eine Problemlage, die erst durch die schmerzlichen und sehr verdienstvollen Reformen der Regierung Schröder, die Agenda 2010, überwunden wurde. Noch bis weit in die 2000er-Jahre hinein gab es kein europäisches Land, das langsamer wuchs als Deutschland.

Zweitens übersehen die Euro-Bejubler, dass Deutschland seit dem Jahr 1995, als die Zinsen für Südeuropa nach der Verkündung des Zeitplans für die Euroeinführung in Südeuropa rapide zu sinken begannen, beim BIP pro Kopf deutlich zurückfiel. Während es damals hinter Luxemburg unter jenen Ländern, die heute den Euro haben, auf dem zweiten Platz lag, bekleidet es nach aktueller Datenlage (2016) den sechsten Platz. Temporär lag es zwischenzeitlich sogar auf dem achten.

Drittens übersehen die Euro-Euphoriker, dass die prächtige Exportkonjunktur auch eine Kehrseite hat. Diese Konjunktur ist nämlich zum einen durch die Unterbewertung des Euro hervorgerufen, die ihre Ursache in der Geldschwemme hat, die die EZB verursachte. Zum anderen ist sie das Ergebnis einer Unterbewertung der deutschen Güter innerhalb der Gruppe der Euroländer, die selbst die unmittelbare Implikation der vom Euro in Südeuropa hervorgerufenen inflationären Kreditblase ist.

Die Kehrseite besteht deshalb darin, dass Deutschland für seine Importgüter vergleichsweise viel bezahlen muss. Die Verteuerung der Importgüter hat die Entwicklung der Realeinkommen gedämpft und so den Lebensstandard der allgemeinen Bevölkerung geschmälert. Nur den Exportsektor zu betrachten und sich daran zu laben, Deutschland sei Exportweltmeister, ist eine die Realität sehr verkürzende Sicht der Dinge, die einer ökonomischen Analyse nicht standhält.

Deutschland hätte die gleiche Exportentwicklung auch mit der D-Mark realisieren können

Viertens übersehen die Euro-Verteidiger, dass Deutschland auch mit der D-Mark jederzeit in der Lage gewesen wäre, die gleiche Exportentwicklung wie mit dem Euro zu realisieren, wenn die Bundesbank ähnlich, wie es die Schweizer Notenbank mit dem Franken tat, mit selbst gedruckten D-Mark auf den Devisenmärkten interveniert hätte. Das ist das Argument, das Kai Konrad verwendet hatte. Wie schon erläutert, hätte die Bundesbank dann statt der ziemlich wertlosen Target-Forderungen marktfähige ausländische Vermögenstitel erhalten, und es wäre auch nicht nötig gewesen, die Staaten Südeuropas durch Hergabe deutscher Immobilien und Industriewerte gegenüber der ganzen Welt zu entschulden.

Fünftens übersehen sie, dass deutsche Haushalte im europäischen Vergleich nicht sonderlich reich sind. Genau dies war ja das Ergebnis bei den offiziellen Umfragen der Notenbanken des Eurosystems, und es überraschte nicht wenige. So lag das durchschnittliche deutsche Haushaltsvermögen nach der Umfrage aus dem Jahr 2013 bei 195.000 Euro, während französische Haushalte auf 233.000 Euro, italienische auf 275.000 Euro und spanische gar auf 291.000 Euro kamen. Wenn es um die Frage geht, in welchem Umfang Deutschland zur Lösung der Finanzprobleme der südeuropäischen Staaten beitragen sollte, kann man diese Zahlen nicht außer Acht lassen. Angesichts dieser Grundproblematik kann man die Vorstellung, die manche Politiker hegen, Deutschland sei nicht nur ein Euro-Profiteur, sondern könne Südeuropas Probleme durch immer neue Umverteilungsmaßnahmen lösen, in das Reich der Utopien verweisen.

Im Übrigen sind es ziemlich gefährliche Utopien, weil sie unser Land noch stärker als ohnehin auf einen Weg bringen würden, den zu verlassen später mit großem politischen Ärger, wenn nicht gar ernsthaften Konflikten zwischen den Ländern einherginge. So sehr ich der Meinung bin, dass die europäische Integration auf dem Gebiet des Freihandels voranschreiten sollte, so wenig halte ich von der europäischen Rettungsarchitektur und den weitergehenden Vorstellungen, wie sie dazu etwa in Brüssel, Luxemburg und Paris entwickelt werden. Und das tue ich nicht in erster Linie, weil ich sehe, dass Deutschland der Hauptleidtragende sein wird, sondern aus der tiefen Überzeugung, dass eine Transferunion und Vergemeinschaftungsregime, die die Entscheidungsträger von der Haftung für ihre Handlungen befreien, in Europa niemals funktionieren werden.

Ein historisches Beispiel als Warnung vor der Vergemeinschaftung von Schulden

Wir Europäer sollten von den USA lernen und die dort gemachten Fehler vermeiden. Der erste US-amerikanische Finanzminister Alexander Hamilton hatte 1791 die Schulden der Einzelstaaten, die sich vor allem infolge des Unabhängigkeitskriegs gegen die Briten angesammelt hatten, zu Bundesschulden gemacht und sie damit vergemeinschaftet. Hamilton hoffte so auch, die noch junge Nation auf einen Weg zu größerer Einheit zu bringen. Eine zweite Vergemeinschaftungswelle gab es dann 1813 beim zweiten Krieg gegen die Briten. Die Hoffnung auf die Gemeinschaftshaftung beruhigte die Gläubiger zunächst und senkte die Zinsen. Zugleich ermunterte sie die Einzelstaaten, sich immer mehr zu verschulden. Die Staaten investierten ihr geliehenes Geld dann zwar auch in Infrastruktur und schufen so neue Jobs. Doch wurde ebenfalls eine große Menge des geliehenen Geldes falsch investiert, so zum Beispiel beim aufwendigen Bau von Kanälen, die sich wegen der Eisenbahnen bald als überflüssig erwiesen. Von 1835 bis 1842 gerieten neun von damals 29 Staaten und Territorien in den Konkurs, weil sie sich angesichts der durch die Gemeinschaftshaftung künstlich verringerten Zinsen total übernommen hatten. Die Bundesregierung in Washington hatte, gestützt auf die anderen Staaten, anfangs noch versucht, zu helfen. Doch war dieser Verbund selbst zu schwach, als dass er die Lasten hätte übernehmen können. Das Resultat war eine gewaltige Finanzkrise, die Hass und Zwietracht säte. Statt als Zement für den neuen Staat zu wirken, wie Hamilton es erhofft hatte, entwickelte sich die Vergemeinschaftung der Schulden zum Sprengstoff.

Wie der britisch-amerikanische Historiker Harold James von der Princeton University schrieb, trug die über viele Jahre schwelende Schuldenproblematik maßgeblich zum Sezessionskrieg bei, der von 1861 bis 1865 dauerte und der mehr als einer halben Million Amerikanern das Leben kostete. Natürlich hatte dieser Krieg viele Ursachen, unter denen die Sklavenfrage die wichtigste war (bei der es im Übrigen auch nicht nur um Humanität ging, sondern vor allem um die billigen Arbeitskräfte, die der Konkurrenz im Norden nicht zur Verfügung standen). Doch der nicht enden wollende Streit um die Schulden verschärfte die Spannungen zwischen den Einzelstaaten noch weiter. Erst nach dem Sezessionskrieg nahmen die USA von der Idee der Gemeinschaftshaftung bei den Schulden endgültig Abschied. Diese Entscheidung spreizte die Zinsen auf Staatspapiere der Einzelstaaten im Hinblick auf die unterschiedlichen Konkurswahrscheinlichkeiten aus und verhinderte damit Schuldenexzesse, die zu Wirtschaftsblasen führten. Das hat der amerikanischen Föderation bis zum heutigen Tage Stabilität gewährt.

Die Stabilität Europas würde durch eine Verteidigungsunion gestärkt – nicht durch eine Transferunion

Damit der Euro und Europa ein ähnliches Maß an Stabilität entwickeln, muss auch der Alte Kontinent von der Idee der Gemeinschaftshaftung bei den Schulden schnellstmöglich Abschied nehmen. Nun könnte man sagen, wenn die Gefahr einer Schuldenlawine aufgrund einer Gemeinschaftshaftung so groß ist, dann solle man die Finanzmittel von vornherein schenken, also eine Transferunion errichten. Aber das wäre im Ergebnis nicht minder schlimm, denn eine solche Transferunion würde ganz Südeuropa in die gleiche Situation bringen, in der sich heute schon der italienische Mezzogiorno oder Südspanien befinden. Wer eine Euro-Transferunion propagiert, die große finanzielle Mittel umverteilt, muss wissen, dass er die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der Empfängerländer perpetuiert, weil er die durch die Euro-Kreditblase künstlich erzeugten Lohnsteigerungen dauerhaft absichert. Die Empfängerländer bleiben in einem solchen Szenarium dauerhaft zu teuer, um als Industriestandort reüssieren zu können. Sie benötigen die Transfers ohne Unterlass, wie Drogenabhängige, die nicht mehr von der Sucht loskommen. Der italienische Mezzogiorno ist dafür ein mahnendes Beispiel. Er kommt schon länger als ein halbes Jahrhundert nicht vom Fleck, weil seine Löhne von den Gewerkschaften des Nordens mitbestimmt werden und der italienische Sozialstaat die entstehende Arbeitslosigkeit finanziert. Die europäische Transferunion, die besonders in Frankreich und Südeuropa so populär ist, lehne ich daher auf das Schärfste ab.

Europa, wie ich es mir vorstelle und wünsche, darf im Übrigen nicht zum Spielball der Supermächte werden. Deshalb habe ich in meinen Büchern und vielen Zeitungsartikeln immer wieder die Schaffung einer europäischen Armee und die Wiederbelebung der 1954 an der französischen Nationalversammlung gescheiterten Westeuropäischen Union (WEU) gefordert. Glücklich bin ich deshalb, dass bei der Abfassung dieser Zeilen, am 13. November 2017, von 23 EU-Ländern tatsächlich eine Vereinbarung zur Schaffung einer solchen Verteidigungsunion zustande kam. Schade ist zwar, dass Dänemark, Irland, Malta und Portugal dabei die Trittbrettfahrerposition einnehmen wollen, doch ist diese Vereinbarung ein hoffnungsvoller Schritt in die richtige Richtung. In meinen Büchern und Beiträgen zu Europa habe ich ebenfalls immer wieder recht differenziert skizziert, wie »Mein Traum von Europa« aussieht. Ich möchte das hier nicht im Detail wiederholen, doch davor warnen, allein nur die Westintegration Deutschlands voranzutreiben.

Es ist an der Zeit, das Verhältnis zu Russland auf eine neue Basis zu stellen, um das Potenzial für den Handel mit diesem ressourcenreichen Land auszuschöpfen und eine stabile Basis für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Russland ist ein militärisch mächtiges Land. Es bedroht die Europäische Union im Osten. Doch ist Russland Teil Europas und muss im allseitigen Interesse der europäischen Völker in eine neue Friedens- und Handelsunion integriert werden, die die Europäer untereinander aushandeln, ohne sich dabei von außen stören zu lassen. Auch auf die osteuropäischen EU-Länder sollte sich der Blick der Deutschen richten, denn sie gehören zum selben Kulturkreis wie Deutschland. Viele von ihnen sind Teil dessen, was die Briten seit jeher als Mitteleuropa bezeichnen.

Deutschland ist nicht nur kulturell, sondern auch wirtschaftlich auf das Engste mit den osteuropäischen Ländern verwoben. Es war in den Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dort der bei weitem größte Direktinvestor. Auch deshalb liegt es nicht im deutschen Interesse, der französischen Idee eines Europa der zwei Geschwindigkeiten zu folgen. Das Ergebnis eines solchen Ansatzes wäre nämlich die Schaffung eines neuen Grabens an der Ostgrenze unseres Landes. Der polnische Ratspräsident Donald Tusk hat dazu treffend gesagt, er halte von dem Europa der zwei Geschwindigkeiten nichts, denn das habe es bereits bis 1989 gegeben.

Ein Europa gleichberechtigter Vaterländer

Hinter der französischen Idee steckt der Wunsch, die Eurozone, die ja im Wesentlichen den Mittelmeerraum und die deutschsprachigen Länder umfasst, zu mehr Staatlichkeit zu verdichten. Deshalb der Vorschlag, ein Eurozonenbudget mit einem Finanzminister und einer eigenen Steuerhoheit sowie einem Sozialfonds zur Mitfinanzierung der Arbeitslosigkeit in Südeuropa einzurichten. Dieser Vorschlag läuft aber im Endeffekt darauf hinaus, die lateinische Münzunion des 19. Jahrhunderts, diesmal mit Deutschland als Zahlmeister, zu wiederholen, also jene von Frankreich gegründete Währungsunion, die die Mittelmeerstaaten umfasste und zerbrach, nachdem Italien und Griechenland damit begonnen hatten, ohne hinreichende Deckung auf Münzen der Union besicherte Banknoten auszugeben. Es ist verständlich, dass Frankreich nach Wegen sucht, sein Hinterland in Südeuropa mit Geld aus dem Norden zu stützen und damit sowohl die Absatzmärkte für seine Produkte als auch die Kredite zu sichern, die die französischen Banken dort vorrangig ausgaben.

Doch hat Deutschland in den ost- und nordeuropäischen Ländern, die nicht zum Euroraum gehören, eigene wirtschaftliche und kulturelle Interessen und Verbindungen. Deswegen habe ich nie etwas von den Versuchen der EU gehalten, die Regierungen Osteuropas an den Pranger zu stellen. Auch über die Demokratien Südeuropas ließe sich einiges zusammentragen. Nein, so lässt sich Europa nicht stabilisieren. Die deutsch-französische Achse, die die Stabilität der kontinentalen Nachkriegsordnung garantiert, ist und bleibt für mich ein unverzichtbarer Teil des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland. Ungeachtet aller Differenzen bei der Eurorettung muss diese Achse halten. Sie darf aber nicht zur Abtrennung Ost- und Nordeuropas führen, wie es die Konsequenz einer Stärkung des Zusammenhalts speziell nur im Euroraum wäre.

Das Europa, das mir vorschwebt, ist das Europa gleichberechtigter Vaterländer aus Ost und West, Nord und Süd, die miteinander Handel treiben, ihre Grenzen untereinander öffnen und gemeinsame Projekte von internationaler Bedeutung, allen voran die Verteidigungsunion, betreiben. Von diesem Europa hat jeder etwas. Es ist aber kein Europa mit einem Umverteilungssystem à la Spanien oder einem Zentralstaat wie in Frankreich. Ein solches System würde der Vielfalt der Völker nicht gerecht und liefe Gefahr, seine Daseinsberechtigung nur noch daraus zu ziehen, dass eine Bevölkerungsmehrheit eine Minderheit zur Kasse bittet. Ein solches Europa wäre dem Zerfall geweiht.

Leicht gekürzter Auszug aus:

Hans-Werner Sinn, Auf der Suche nach der Wahrheit. Autobiografie. Herder, 2018:

Nachzulesen auf www.tichyseinblick.de.