“Was wir hier machen, ist Harakiri”

 

Gabor Steingarts Morning Briefing, The Pioneer, 19. November 2022, ca. 30 Minuten.

Ist Deutschland noch zu retten? Im Interview mit Michael Bröcker spricht der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Hans-Werner Sinn über den Missstand der deutschen Wirtschaft, die Energiekrise und fordert die Politik auf, auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren.

Michael Bröcker: Herr Sinn, der Sachverständigenrat – die Wirtschaftsweisen – haben vergangene Woche ihr Gutachten vorgelegt. Sie rechnen mit einer milden Rezession, allerdings mit einer anhaltend hohen Inflation. Wie groß ist die Gefahr, dass die Preisexplosion am Ende für diese Volkswirtschaft doch sehr schädlich sein könnte?

Hans-Werner Sinn: Die ist 100 % schädlich, denn wir haben ja eine Preisexplosion. Die Inflation ist nicht langsam unterwegs, sie galoppiert. Und diese Jahresraten übertünchen das Faktum, dass in der Pipeline noch viel mehr Inflationsdruck liegt. Die gewerblichen Erzeugerpreise, die Preissteigerungen auf den Zwischenstufen der Produktion sind zuletzt um 46 Prozent pro Jahr gestiegen. Das ist unglaublich. Die 46 Prozent werden derzeit nicht an die Konsumenten weitergegeben, sie werden in den oberen Handelsstufen abgefedert. Aber empirisch war es bislang so, dass ein Drittel langfristig auf die Konsumenten umgelegt wird und damit warten doch noch mehr als 10 Prozent Inflation in der Pipeline.

Manche Ökonomen sagen, dass wir vor einem Zeitalter der exorbitanten Geldentwertung stehen. Das sind schmerzhafte Wohlstandsverluste für die Firmen, für die Privatleute. Was ist zu tun, damit es dazu nicht kommt? Oder akzeptieren wir diese hohen Zahlen jetzt einfach dauerhaft?

Das sind keine Wohlstandsverluste für die Firmen, die sind die Gewinner des Prozesses. Es sind aber Verluste für all jene Menschen, die vertragsgebundene Einkommen haben.

Viele Firmen können die Preise nur nicht an ihre Kunden weitergeben.

Dann gibt es auch keine Inflation. Wenn Inflation da ist, verändert sich die Verteilung zugunsten der Firmen und zulasten derer, die vertraglich geregelte Einkommen haben. Und das sind die Arbeitnehmer. Gut, es wird Neuverhandlungen von Löhnen geben. Es verlieren aber vor allem die Sparer, die nur nominalwertgesicherte Vermögensansprüche haben, die gespart haben aus ihrem laufenden Einkommen in der Vergangenheit. Wer zum Beispiel Lebensversicherungsverträge geschlossen hat, der ist der Gelackmeierte, der verliert real Konsummöglichkeiten.

Die Verlierer der Inflation sind also gerade diejenigen mit einer hohen Sparquote, die kleinen und mittleren, aber auch diejenigen, die jetzt an den Energie- und Lebensmittelpreisen einen besonders hohen Anteil haben. Müsste man die staatlich jetzt eigentlich anders unterstützen, als man es bisher getan hat?

Also der besondere Anstieg der Lebensmittelpreise ist nicht das, was man als Inflation bezeichnet. Das sind relative Preisänderungen. Mit Inflation ist immer nur der Durchschnitt gemeint. Relative Preisänderungen gibt es auch dann, wenn die Inflation niedrig ist. Es ist nun mal so, dass Lebensmittel und Dienstleistungen, die arbeitsintensiv produziert werden, im Laufe der historischen Entwicklung immer schneller im Preisniveau ansteigen als schnell produzierbare Güter. Denken Sie an Computer, die werden laufend billiger. Das Gefüge der Preise ändert sich sowieso. Aber das ist ein ganz anderes Thema als die Inflationsgefahr.

Sie vertreten auch die These, dass diese Inflationsproblematik mit dem Angebotsschock durch den Ukraine-Krieg und den Energiepreisen nur bedingt zutun hat und wir eigentlich auch vorher schon die Probleme hatten, die zu dieser Preisexplosion geführt haben. Richtig?

Ja, sicher. Schauen Sie, ich habe vor zwei Jahren meine Weihnachtsvorlesung über die kommende Inflation gehalten. Das war im Dezember 2020. Ich habe im letzten Jahr 2021 beim Herder Verlag ein Buch zur Inflation herausgegeben: Die wundersame Geldvermehrung. Also die Inflation war im Herbst letzten Jahres schon richtig da und wir haben schon am Ende des letzten Jahres im Dezember einen Zuwachs der gewerblichen Erzeugerpreise von 24 Prozent gehabt – das war der Höchstwert in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Da war von "Gashahn abdrehen" noch nicht die Rede. Die Gaslieferung aus Russland war praktisch unverändert bis hin in den Krieg. Sie brach erst im Krieg ab. Das kann also nicht die Ursache für diese Inflation gewesen sein.

Warum wurde das Thema nicht erhört?

Ja, das fragen Sie mich.

Aber was sind das für Systeme und Mechanismen, dass dieses Inflationsthema, das uns jetzt so umtreibt, über viele Jahre – man muss fast sagen, seit den "whatever it takes"-Aussagen des EZB Präsidenten – einfach negiert wurde?

Viele wollen natürlich auch eine Inflation in Europa. Das darf man ja nicht in Abrede stellen. Frau Lagarde hat, als sie Präsidentin des IWF war, durch ihren Chefvolkswirt Olivier Blanchard das Inflationsziel von 4 Prozent ins Spiel gebracht.

Man sah also vielfach die Inflation als Möglichkeit, die überschuldeten Staaten nun endlich zu retten, indem in der Inflation die Steuereinnahmen und das Sozialprodukt inflationär aufgebläht werden, während die Schulden, die nur nominal definiert sind, zurückbleiben, sodass die Quoten sich alle verbessern. Das ist die heimliche Agenda, die viele im Hinterkopf haben, dass man das europäische Schuldenproblem durch eine Inflation löst. Sagt keiner so offen, aber Frau Lagarde hat das damals als Denkmodell verkünden lassen. Sie muss sich fragen, ob sie dieses Denkmodell heute immer noch in ihrem Kopf hat. Das darf sie natürlich nicht als EZB Präsidentin.

Berechtigte Frage. Es gibt ja Stimmen aus dem EZB Direktorium, dass man darauf achten muss, dass die Rezession im kommenden Jahr nicht über Gebühr kommt und man deswegen schon den Zinsanstieg wieder zurücknehmen muss. Diese Stimmen gibt es jetzt auch und sie vermuten, dass das dann diesen Hintergrund hat?

Das haben Sie jetzt gerade vermutet. Ich enthalte mich da, aber fest steht, dass es eine sachliche Begründung dieser Art in der heutigen Zeit nicht gibt. Es ist nicht so, dass höhere Zinsen eine Rezession erzeugen oder verschärfen. Warum ist das so? Weil diese Rezession angebotsseitig ist. Wir haben grundsätzlich zwei Typen von Wirtschaftskrisen in der Volkswirtschaftslehre, die auch theoretisch und empirisch anhand vergangener Epochen ausführlich untersucht wurden.

Auf der einen Seite gibt es die sogenannte keynesianische Krise. Da fehlt es an Nachfrage. Die Firmen würden gerne liefern, es fehlen aber Kunden. Da kann man dann durch Staatsverschuldung, die durch niedrige Zinsen angeregt wird, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage vergrößern und auch positive Impulse für das kurzfristige Wirtschaftswachstum erzeugen.

Das andere ist die Stagflation. Da fehlt es an Produktionsmöglichkeiten, Produktionskapazität. Das beobachten wir gegenwärtig. Es gibt Kunden genug. Die Firmen wissen gar nicht, was sie tun sollen angesichts dieser vielen Kunden, die Waren haben wollen. Sie können sie nicht beliefern, weil die Vorprodukte fehlen und die fehlen, weil China nach wie vor größtenteils im Lockdown ist, weil es Quarantäne-Maßnahmen gibt und es sich in den Häfen nach wie vor staut.

Die Situation war natürlich im letzten Winter noch viel schlimmer als jetzt. Das löst sich nun langsam. Trotzdem stauen sich die Schiffe vor den chinesischen Häfen, sie können ihre Ladung nicht an Land bringen und sie können keine neuen Waren aufnehmen, die wiederum als Vorleistungen für die deutsche Industrie erforderlich sind. China ist ja nun unser größter Handelspartner und das Land, aus dem wir den Löwenanteil der industriellen Vorprodukte bekommen. Die Chinesen wollen nicht zugeben, dass sie den falschen Impfstoff haben, der nicht funktioniert. Sie machen daher eine ZeroCovid-Politik, das heißt, es darf überhaupt keine Infektionen geben und sie schotten lieber ganze Landesteile ab – zuletzt Shanghai mit 40 Millionen Menschen.

Dadurch haben wir ein Problem. Das Problem war zwei Jahre lang besonders groß und hat auch in anderen Ländern der Erde Verknappungstendenzen hervorgerufen. Diese Verknappungstendenzen sind der Auslöser der Inflation, sozusagen das Zündholz. Und das Zündholz erlischt jetzt langsam.

Hoffen wir mal, dass das jetzt mit Corona über diesen Winter dann ein Ende haben wird. Aber der Zunder, der brennt natürlich weiter und der Zunder besteht vor allem in den gewaltigen Nachfrageschüben, die in den letzten Jahren durch staatliche Verschuldungsorgien hervorgerufen wurden, die selbst wiederum induziert wurden und ermöglicht wurden durch eine ganz lockere Geldpolitik.

Letztlich haben die Staaten ihre Papiere verkauft an die Banken und die Banken haben sie postwendend an ihre nationalen Zentralbanken verkauft, die frisch gedrucktes Geld dafür ausgegeben haben. Der Staat hat also CoronaHilfen aus der Druckerpresse bezahlt. In Deutschland und auch in Amerika hat man das gemacht.

Und diese hohe Nachfrage zusammen mit den coronabedingten Angebotsbeschränkungen führt dazu, dass wir heute eine Stagflation haben. Nun muss man in der Stagflation die Nachfrage bremsen. Das hat keine negativen Auswirkungen auf die Produktion, weil sie durch die Angebotsseite beschränkt ist. Wer so argumentiert, dass wir die Zinsen nicht erhöhen dürfen, weil das die Rezession verschärfen würde, liegt falsch, weil er diesen Aspekt nicht bedacht hat.

Herr Professor Sinn, das ist spannend, das muss ich sortieren. Also es gibt nicht, wie in früheren Zeiten, eine Art Stabilisierungsrezession, wie sie einige Ökonomen immer wieder ins Spiel bringen, sondern wir sind in einem Angebotsschock und können das nicht mit Staatsausgaben und Rettungsschirmen beseitigen, sondern verschärfen das Problem. Wir bekommen also schlussendlich beides: eine Rezession und eine dauerhafte Inflation?

Ja sicher. Das ist ja das, was wir jetzt haben.

Aber noch haben wir eine sehr milde Rezession um 0,4 Prozent im Jahr.

Warten Sie mal ab. Die Problematik bleibt ja. Die beiden Pipelines, die wir in der Nordsee haben, sind gesprengt. Wo soll das Gas herkommen? Ich sehe nicht, dass Putin oder ein möglicher Nachfolger auf absehbare Zeit eine fundamentale Kehrtwende machen. Das dauert jedenfalls Jahre, bis sich diese Dinge wieder normalisieren werden.

Und so lange wird die deutsche Wirtschaft angebotsseitig stranguliert sein. Wir haben einfach nicht mehr das Gas, das wir für industrielle Prozesse brauchen. Und die Produktion leidet darunter, weil Gas erstens Prozesswärme erzeugt und zweitens in der chemischen Industrie ein wichtiger Grundstoff für die ganzen chemischen Produkte ist, die auf Kohlenstoff-Basis hergestellt werden.

Herr Brudermüller von der BASF hat gesagt, er muss den Laden dicht machen, wenn das so weiter geht, und hat jetzt Riesen-Investitionen in China angekündigt. Man verlagert energieintensive Produktion aus Deutschland und das ist sehr problematisch. Es kommt hinzu, dass wir ja auch durch administrative Vorgaben – wie das Verbrenner-Verbot – eine Strangulierung der Wirtschaft vornehmen.

Verbote, Verbote, Verbote, ohne dass ein wirklicher Ersatz vorhanden ist.

Und diese Strangulierung bedeutet, dass der Fahrzeugbau sich um ein Drittel reduziert hat. Schon 2018 ist diese CO2- Verordnung erlassen worden, die nur noch 2,2 Liter Diesel Äquivalente pro 100 Kilometer erlaubt hat. Und die ist inzwischen noch verschärft worden. Das kommt faktisch einem Verbrenner-Verbot gleich. Die Automobilhersteller haben gehofft, dass sie mit den Elektroautos groß rauskommen, aber das ist nicht gelungen.

Volkswagen war der Vorreiter, aber diese Strategie hat in China nicht funktioniert und sie hat in Deutschland nicht funktioniert. Das meistverkaufte Elektro-Auto ist der Tesla und der Fiat 500 auf Elektrobasis. Und wo kommt Volkswagen? Herr Diess wurde deswegen entlassen. Diese Strategie ist nicht so einfach.

Wir strangulieren durch die politischen Vorgaben in Brüssel das Herzstück der deutschen Industrie, nämlich die Automobilindustrie, und dürfen uns nicht wundern, wenn die Reise nach unten geht.

Wir haben, und das kann man ja auch empirisch ganz klar sagen, seit 2018 eine Trendumkehr bei der Industrieproduktion erlebt und wir sind dort schon seit 2018 in der Rezession. Und das hat nichts mit Corona zu tun. Die CoronaEinbußen wurden schon alle wieder kompensiert. Der Trend geht hier nach unten und das ist eine extrem bedrohliche Entwicklung. Denn – Gabor Steingart hat das mal treffend gesagt – die Industrie ist der glühende Kern unserer Volkswirtschaft. Und darauf basiert im Grunde der ganze Wohlstand.

Wir haben Einnahmen und können uns Importgüter leisten, die unseren Wohlstand schaffen. Dieses Modell ist gefährdet im Moment. Das kann man nur in aller Deutlichkeit betonen. Und zu den selbst auferlegten Beschränkungen kommt jetzt noch die Energiekrise mit Russland hinzu.

Also was wir hier machen, ist Harakiri.

Die Strangulierung ist die eine Sache, da bin ich bei Ihnen. Auch bei den Industriestrompreisen waren wir schon vor der Krise Europameister. Und was aus der EU kommt, ist oft nicht gerade ermächtigend für eine freie Entfaltung der Wirtschaft. Aber die Strategien der Industriekonzerne, muss man fairerweise sagen, waren auch sehr einseitig. Sie basierten eben auf günstiger Energie aus einer Quelle, nämlich russischem Gas, und oft auch auf einer Technologie, nämlich Verbrenner und wenig Elektro. Insofern ist vielleicht auch die Automobilindustrie mit selbst an dem Schuld, was sie jetzt im weltweiten Wettbewerb erleiden muss.

Ja, sicher. Wir haben zu wenig diversifiziert. Wir haben uns bei den Energieimporten zu sehr auf russisches Gas verlassen. Das war sicher nicht in Ordnung. Aber dass die Politik die Verbrenner verbietet, das konnte man nun nicht vorhersehen. Und man kann nicht behaupten, der Trend weltweit ginge durch Marktprozesse Richtung Elektroauto. Das sind keine Marktprozesse, sondern das sind politische Vorgaben, die sehr plötzlich zustande kamen.

Aber das eine klimafreundlichere Produktion in einer weltweiten Drucksituation in den letzten Jahren längst entstanden ist, das konnte jeder CEO sehen.

Sicher, aber so einfach ist das eben auch nicht mit der Klimafreundlichkeit der Elektroautos. Der Energiemix wird in den nächsten Jahren erst nochmal viel schmutziger, als er vorher war. Und die Bilanz schlägt per Saldo überhaupt nicht für die Elektroautos. Es ist viel zu kurz gedacht sich auf das Auto zu beschränken. Das CO2 entsteht im Kraftwerk und auch die Batterien der Elektroautos, die in China gefertigt werden, werden besonders CO2 intensiv produziert, da China einen noch viel schmutzigeren Energiemix hat als wir Europäer. Also so einfach ist die Rechnung nicht.

Und im Übrigen: Die Brennstoffe, die wir jetzt in Europa nicht mehr verbrauchen, bleiben nicht etwa in der Erde, in Saudi-Arabien oder sonst wo, sondern gehen an anderer Stelle in den Himmel, weil sie zu fallenden Preisen an andere Länder der Welt verkauft werden. Inklusive China und anderen asiatischen Länder, die wie der Teufel wachsen und immer mehr VerbrennerAutos auf den Markt bringen und auch selber fahren.

Ein Netto-Effekt ist nicht vorhanden, wenn wir hier auf Elektroautos umsteigen. Das ist eine Milchmädchenrechnung, die die Zusammenhänge auf den Weltmärkten nicht bedenkt.

Wenn wir in Deutschland CO2 einsparen wollen, dann geht das eigentlich nur über einen Weg: Wir müssen die Braunkohle in der Erde lassen, denn die liegt bei uns selber. Wenn wir diese Braunkohle nicht fördern, dann geht der dort gebundene Kohlenstoff auch nicht in die Luft. Doch für alle fossilen Brennstoffe, für die es Weltmärkte gilt: Wenn wir nicht kaufen, dann fließt es einfach anderswo hin und wird da verbrannt.

Herr Professor Sinn, Sie werden ja auch gerne mal als apokalyptischer Ökonom bezeichnet. Es ist gerade wenig Konstruktives bei Ihnen zu hören, weil Sie ein Szenario aufmachen, das wirklich negative Effekte zusammenbringt. Wir haben über die Staatsausgaben, über die Zinspolitik und über die Regulierung in der Energiewende gesprochen - wo ist Ihr Hoffnungsschimmer für ein neues Geschäftsmodell Deutschland?

Ja, der Hoffnungsschimmer kann nur sein, dass wir mit diesem Dirigismus au~ören und uns wieder stärker auf marktwirtschaftliche Instrumente verlassen, damit die Kräfte der Wirtschaft sich selber entwickeln können. Wenn irgendwo ein Missstand ist, dann kann man das nicht durch Ordnungsrecht bekämpfen. Das ist ein juristischer, aber kein ökonomischer Ansatz. Stattdessen muss man das durch eine Bepreisung der Externalitäten machen. Das ist auf jeden Fall der bessere Weg, denn wir können nicht alles verbieten. Wir verbieten die Verbrenner, wir verbieten die Atomkraftwerke, wir verbieten die Kohlekraftwerke? Wie soll es denn dann gehen? Und zum Schluss schaltet uns Putin das Gas ab.

Wir müssen, bevor wir etwas verbieten, erst mal das Neue schaffen, was funktionsfähig ist.

Und wenn das dann parallel geschaffen ist, dann können wir umsteigen. Aber wir können nicht aufgrund irgendwelcher Fantasien und Träumereien einfach mal Systeme abschalten. Und die Apokalypse, von der Sie reden, ist nicht Hans-Werner Sinn, sondern die Realität im Moment. Es ist ja geradezu schrecklich, wenn man sieht, welche Fehlentwicklungen die deutsche Energiepolitik hier durch die Entscheidungen der letzten zehn Jahre eingeleitet hat.

Das heißt, Sie halten auch die energiepolitischen Ziele dieser Regierung – 80 % Erneuerbare bis 2030 – für naiv und blauäugig, weil Wind und Sonne nicht ansatzweise das liefern können, was wir für den glühenden Kern der Volkswirtschaft brauchen, nämlich die Industrie.

Ja, so ist das. Schauen Sie mal, wir haben also rechtsverbindlich erklärt, dass wir bis 2045 den CO2 Ausstoß auf Null reduzieren. Basis für diese Rechnung ist immer auch der Vergleich des Jahres 1990. Im Vergleich zu 1990 haben wir bereits einen Rückgang um 40 Prozent geschafft. Das waren 32 Jahre. Und jetzt haben wir noch 23 Jahre und wollen die anderen 60 Prozent schaffen. Ich frage mich, wie das in so kurzer Zeit gehen soll? Es ist utopisch, weil für die 40 Prozent, die wir in 32 Jahren schon geschafft haben, der Untergang der DDR-Industrie geholfen hat. Sonst hätten wir das nicht geschafft. Wollen wir noch eine zweite Industrie untergehen lassen?

Ich bin sehr für grüne Politik. Wir müssen was machen. Das Klimathema ist existent, aber europäischer Unilateralismus hilft hier gar nicht. Wir müssen das mit den anderen koordinieren. Und wir können uns keine utopischen Ziele setzen, sondern müssen realistische Ziele haben, die man auch erreichen kann. Diese Ziele sind aus den Träumereien von Politikern entstanden, die mit der Realität unserer Wirtschaft nicht viel gemein haben.

Was wäre Ihre Alternative, um diese Angebotssituation abzumildern? FrackingGas, doch alle Atomkraftwerke noch deutlich länger laufen lassen?

Also wenn wir das auf deutschem Boden liegende Erdgas, das durch Fracking gefördert werden kann, benutzen, dann können wir 14 Jahre lang ohne das russische Gas auskommen. Das verschafft uns schon einmal eine erhebliche Verschnaufpause.

Ferner müssen wir neue Pipelines bauen, nach Norwegen, nach England und nach Nordafrika. Da liegt auch viel Erdgas, um Ersatz zu schaffen. Wir müssen also angebotsseitig die Situation verbessern, denn man mache sich auch eines klar: Wir können nicht alleine mit dem Wind- und Sonnenstrom agieren, weil der viel zu wechselhaft ist.

Der Wind- und Sonnenstrom braucht immer eine regelbare Energie, wenn die Wettersituation ungünstig ist, zum Beispiel wenn wir in die Dunkelflaute kommen – das muss immer gegenläufig variiert werden. Dafür brauchen wir am besten das Gas, es geht auch mit Kohle und mit Atomkraft bei den längeren Wellen. Aber Kohle ist ja noch schmutziger als Gas und Gas stand insgeheim im Zentrum der grünen Strategie. Das heißt also, man hat es nicht an die große Glocke gehängt, weil man ja sauber sein wollte, aber man wusste genau: Ohne ganz viele Gaskraftwerke kriegen wir den grünen Strom überhaupt nicht sinnvoll in das Netz integriert. Und jetzt fehlt das Gas und das Gas muss wieder her.

Wenn das Gas nicht über andere Quellen und zwar zu vernünftigen Preisen organisiert wird, dann sehe ich schwarz für die weitere Wirtschaftsentwicklung. Das muss die dringende Aufgabe sein.

Dazu gehört natürlich auch, dass man die Atomkraftwerke anlässt. Die drei bestehenden und die drei, die letztes Jahr abgeschaltet wurden, die sind ja auch noch da. Das würde schon mal helfen. Diese sechs Atomkraftwerke zusammen haben 20 Prozent mehr Strom erzeugt als alle Photovoltaik-Anlagen in Deutschland zusammen.

Der Glaube, wir könnten mit dieser grünen Energie schnell einen Ersatz schaffen, ist geradezu abwegig.

Häufig wird ja auch nur der Strom als Bezug genommen, der aber nur ein Fünftel des gesamten Energieverbrauchs ausmacht.

Der Wind- und Sonnenstrom hat am Endenergieverbrauch der Bundesrepublik Deutschland derzeit nur einen Anteil von 7,5 Prozent. Und wir wollen in diesen kurzen Zeitspannen, in 23 Jahren, bis auf 90 Prozent kommen, sodass wir mit Talsperren und Biogas bei insgesamt 100 Prozent sind. Das geht überhaupt nicht. 23 Jahre sind so schnell weg, das ist vollkommen unmöglich zu realisieren.

Also bitte keine Träumereien mehr, sondern bitte wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren und einmal genau überlegen, was nun geht und was nicht geht.

Ich will zum Abschluss noch mal zur Finanzpolitik zurückkehren, Herr Professor Sinn. Hier habe ich das Gefühl, wir sind auf einer Rutschbahn, auf der man eigentlich nicht mehr nach oben kommt, weil man eben nicht gegen das Wasser nach oben klettern kann.

Schon jetzt übersteigen die inoffiziellen Schulden im Bund, die Sondervermögen, die offizielle Kreditaufnahme um mehr als das Fünffache. Da ist Christian Lindner ein einsamer Rufer, denn auch in der Ökonomen-Zunft gibt es eigentlich kaum jemanden, der davor warnt, dass diese Schuldenaufnahme ein echtes Problem für diese Volkswirtschaft ist.

Woran liegt das? Da denke ich an Ihre alte Diskussion über die Target-Salden im europäischen Bankensystem. Das sind Themen, die brisant sind, aber die scheinbar keinen so richtig umtreiben.

Ja. Dinge müssen von einer gewissen Einfachheit sein, damit man sie öffentlich diskutieren kann. Nicht alle Themen sind medial geeignet, manches ist zu sperrig. Und gerade bei den sperrigen Themen lassen sich natürlich wundervolle Gewinne erzielen von den Insidern, die die ganze Komplexität beherrschen. Also was die Neuverschuldung betrifft, die in den Sondervermögen versteckt wird, da teile ich vollkommen Ihre Auffassung.

Wir haben allein 200 Milliarden für die Subventionierung der Energiekäufe vorgesehen. Und wenn das gleichmäßig verteilt wird auf die Jahre 2023 und 2024, dann sind das jeweils 2,5 Prozent Defizit für das Bruttoinlandsprodukt.

Aber diese 2,5 Prozent tauchen in der Rechnung überhaupt nicht auf und werden gar nicht ausgewiesen, weil sie aufgrund von Kreditermächtigungen, die im Jahre 2022 bereits verbucht werden, getätigt wurden.

Das heißt, Herr Lindner kann sich hinstellen und sagen: Wir haben hier die schwarze Null erfüllt. Und in Wahrheit hat er zweieinhalb Prozent Defizit. Aus anderen Sondervermögen – das hat der Stabilitätsrat berechnet – haben wir nochmal 1,25 Prozent Defizit. Das macht über den Daumen gepeilt 3,75 Prozent
Defizit fürs nächste Jahr.

Erlaubt sind nach dem Grundgesetz nur 0,35 Prozent Defizit. Das heißt also: Das tatsächliche Defizit ist mehr als zehnmal so groß wie das, was ausgewiesen wird. Diese Schummelei und diese Taschenspielertricks müssen aufhören.

Ich meine, ich möchte Herrn Lindner nicht kritisieren, er ist noch der Vernünftigste unter denen, die diese ganzen Ausgaben-Orgien mit Schulden finanzieren wollen. Aber auch er hat sich mit seinem Sondervermögen in diesen Rechen-Trick einspannen lassen, den ihm die Juristen hier entwickelt haben.

Aber es geht nicht ums Juristische, es geht ums Ökonomische, auch wenn das juristisch alles in Ordnung ist. Diese Zusatzverschuldung ist Öl auf das Feuer der Inflation.

Aber Herr Sinn, ist es nicht so, dass inzwischen fast eine Mehrheit der Meinungist, dass diese Schuldenbremse die Volkswirtschaft nachhaltig stranguliert und nicht etwa eine expansive Ausgabenpolitik?

Ja, den Eindruck konnte man gelegentlich haben. Also sagen wir mal, bei den Ökonomen, die ich als wichtige Figuren in diesem Land im Kopf habe, ist das definitiv nicht der Fall.

Okay. Sie haben 2003 ein wunderbares Buch geschrieben. "Ist Deutschland noch zu retten?" hieß es. Man könnte denken, denselben Titel könnten Sie heute noch mal neu auflegen, nur mit anderen Inhalten, oder?

Ja, wir waren damals der kranke Mann Europas: Wir hatten diese exorbitanten Lohnsteigerungen im Vergleich zu den Wettbewerbern und durch die Osterweiterung. Durch den Fall des Eisernen Vorhangs war eine neue Wettbewerbssituation entstanden und es ging uns wirklich schlecht.

Schröder hat das damals mit seinen Reformen, die eine Lohnspreizung nach unten ermöglichten, behoben und hat geradezu ein Beschäftigungswunder auf dem Arbeitsmarkt erzeugt. So etwas Ähnliches bräuchten wir jetzt auch. Aber heute sind die Kosten nicht das Problem, vor allem eben bei der Energie. Die Energiepreise sind aus dem Ruder gelaufen, weil wir zu abhängig geworden sind und uns aus ideologischen Gründen aus der Kernkraft verabschiedet haben. Übrigens als einziges Land auf der Erde. Alle anderen, die sich temporär mal verabschiedet hatten, sind alle zurück.

Wir sind der Geisterfahrer auf der Autobahn. Wir behaupten, die anderen würden in die falsche Richtung fahren. Dabei sind wir das einzige Land, das in unsere Richtung fährt. Diese Art von Träumerei, die dieses Land erfasst hat, muss ein Ende haben. Wir müssen pragmatischer in dieser Krise handeln und dann auch nicht Dinge kaputt machen, die eigentlich noch funktionieren.

Danach kann nichts mehr kommen, würde Gabor Steingart sagen. Herr Professor Sinn, ich bedanke mich für dieses Gespräch und freue mich auf das nächste.

Das Interview führte Michael Bröcker.

Nachzulesen auf www.thepioneer.de.

Online im Pioneer-Newsletter erschienen unter dem Titel "Energiewende: Wir sind der Geisterfahrer auf der Autobahn", 18. November 2022.