Focus online, 21. November 2025.
Der geheime Trump-Putin-Plan sorgt für Empörung. Hans-Werner Sinn nennt ihn „eine gute Nachricht“. Im Interview teilt er dennoch scharf aus gegen Trumps Drohungen, Putins Imperialismus und Europas Schwäche. Und fordert eine europäische Armee.
Der Ökonom und ehemalige Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, zeichnet im Gespräch ein düsteres Bild der europäischen Sicherheitslage – und spart nicht mit klaren Worten: Er fordert eine europäische Armee, hält die USA für zunehmend unzuverlässig und wirft der NATO schwere strategische Fehler vor. Den sogenannten Friedensplan von Trump und Putin bezeichnet er „als überraschend gute Nachrichten“. Den Streit um Begriffe wie „Osterweiterung“ kommentiert er mit dem Hinweis: „Wir sind nicht in der Deutschstunde.“
Focus: Herr Sinn, Sie schreiben, Trump habe das westliche Bündnis infrage gestellt. Wie real ist die Gefahr, dass die USA Europa im Ernstfall nicht mehr verteidigen?
Hans-Werner Sinn: Die Gefahr besteht. Trump hat klar gesagt, dass er die europäischen Länder nicht verteidigen will, wenn sie aus seiner Sicht nicht genug zahlen. Was genug ist, entscheidet er selbst. Der unbedingte Schutz, der jahrzehntelang selbstverständlich war, ist wackelig geworden. Formal stehen die USA zwar zu ihren Verpflichtungen – aber ob das im Konfliktfall gilt, ist völlig offen.
Welchen Ausweg sehen Sie?
Europa muss sich selbst verteidigen können. Auf amerikanische Zusagen sollten wir uns nicht verlassen – das gilt nicht nur für Trump, sondern auch für mögliche Nachfolger.
War Europa zu naiv in der Annahme, Amerika werde immer zuverlässig an seiner Seite stehen?
Früher nicht. Die USA standen klar zu Europa. Aber das hat sich verändert. Der Schutz scheint ihnen inzwischen zu teuer geworden zu sein, obwohl wir viel zahlen. Wir finanzieren schon lange die Stationierung amerikanischer Truppen und mittlerweile zusammen mit ein paar anderen willigen Ländern Europas sämtliche US-Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Amerikaner zahlen keinen Cent mehr.
Würde Trump im Ernstfall mit Europa ähnlich umgehen wie mit Selenskyj: Bedingungen stellen, Druck ausüben, erpressen?
Trump würde die Bedingungen, unter denen er uns dann im Konfliktfall hilft, vermutlich neu verhandeln und uns hohe Zahlungslasten aufbürden. Deswegen müssen wir uns selbst verteidigen können. Wir brauchen weiterhin amerikanische Waffen, aber wir müssen zugleich eigene Systeme aufbauen. Entscheidend ist aber ein militärischer Schulterschluss Europas bis hin zu einer Zusammenlegung aller Armeen zu einer Bundesarmee unter einem gemeinsamen Kommando. Eigentlich brauchen wir einen Bundestaat der willigen Länder, der allein für die Verteidigung zuständig ist und an den die teilnehmenden Länder all ihre Waffen und Truppen übertragen. Der Bundesstaat ist durch ein kleines, streng demokratisch gewähltes Parlament zu kontrollieren. Wenn Putin einer solcherart geschlossenen europäischen Phalanx gegenübersteht, wird er nicht wagen, anzugreifen. Den Bund kann man ähnlich wie den Euro außerhalb der EU in drei Jahren ausverhandeln. Unsere dutzenden Waffensysteme zu modernisieren und zu harmonisieren dauert hingegen Jahrzehnte. Bis dahin ist Putin längst tot und hat umgesetzt, was er im Sinn hatte. Der Bund unterstünde natürlich der NATO, so wie ja auch die 50 Staaten der USA dort nur durch eine Regierung vertreten sind. Die Nato kann im Konfliktfall nicht ohne nationale Zustimmung aktiv werden, der Bund könnte es hingegen schon, weil ihm die Souveränität schon vorher zu übertragen wäre.
Wie realistisch ist so ein „Europäischer Bund“ mit gemeinsamer Armee?
Heute nicht sonderlich. Aber was soll die Frage? Ich gebe ja eine Empfehlung ab und mache keine Prognose. Sowohl die Französische Revolution als auch zweihundert Jahre später die deutsche Vereinigung wurden kurz bevor sie stattfanden auch nicht als realistisch angesehen. Sollte Russland das Baltikum angreifen, würden sich die Länder Europas mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem solchen Bund zusammenfinden. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit für einen russischen Angriff nur zehn Prozent betragen sollte, wäre das Grund genug, die Zusammenlegung der Armeen schon jetzt zu betreiben. Wir alle könnten dabei viel Geld einsparen und trotzdem viel Sicherheit gewinnen. Historisch gab es solche Pläne bereits – Adenauer und später Kohl wollten die Zusammenlegung der Armeen als Lehre aus dem zweiten Weltkrieg. Sie hatten vollkommen Recht.
Europa hat rund zwei Millionen Soldaten und damit mehr als Russland. Dennoch sagen Sie, dass die EU wenig handlungsfähig ist. Zeichnen Sie Russland nicht stärker als es ist?
Nein, viele zeichnen die NATO stärker als sie ist. Über die Truppenstärken weiß man nicht wirklich bescheid. Die meisten Daten sind geheim. An Russland haben sich schon viele die Zähne ausgebissen. Russland ist keine Wirtschaftsmacht, aber eine große Militärmacht. Es wäre verantwortungslos zu behaupten, Russland könne Europa nicht gefährlich werden. Die Drohnenkriegsführung zeigt, dass billige russische Drohnen eine extreme Abwehr außer Gefecht setzen können.
Warum ist die EU aus Ihrer Sicht kaum verteidigungsfähig?
Die Soldaten sind auf viele Einzelstaaten verteilt, manche haben keine Armee, andere stehen sich wie Türkei und Griechenland eher feindlich gegenüber. Die Fragmentierung macht Europa schwach.
Dafür gibt es die NATO.
Die NATO hat keine direkte Durchgriffskraft auf die nationalen Streitkräfte. Europas Kleinstaaterei erinnert an das deutsche Kaiserreich, das Napoleon im Handstreich einnahm. Ohne ein einheitliches Kommando nützen die ganzen Waffen nicht viel.
Und warum hat Deutschland nicht schon früher aufgerüstet?
Das sind Versäumnisse der Ära Merkel. Merkel suchte die Verständigung mit Russland. Das war richtig. Falsch war, dass sie die Bundeswehr darüber verkommen ließ.
Sie sagen, der Krieg hätte verhindert werden können. Welche Fehler haben EU und USA Ihnen zufolge gemacht?
Russland ist eine imperialistische Nation, und Putins Angriffskrieg ist völkerrechtswidrig. Das steht außer Frage. Aber um geschichtliche Prozesse zu verstehen, muss man Ursache und Wirkung betrachten, ohne sie sofort moralisch zu bewerten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991ging Russland in den Konkurs und lag am Boden. Putin hielt 2001 eine Rede im Bundestag: Er warb für eine Freihandelszone mit Europa, von der Russland, aber auch Westeuropa enorm profitiert hätte. Putins Hand hätte man damals ergreifen müssen. Dann hätten wir einen wesentlich besseren Frieden verhandeln können, als heute selbst die größten Optimisten für möglich halten. Die NATO nahm Putin damals nicht ernst und betrieb die Osterweiterung. Als 2008 beschlossen wurde, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, kam das aus russischer Sicht einer Kriegsvorbereitung nahe. Die Ukraine gehörte neben Weißrussland und Russland zu den drei Gründungsmitgliedern der GUS, der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, die die Nachfolgeorganisation der UdSSR war. Und Sewastopol war der einzige eisfreie Seehafen dieses Bündnisses. Hätte Russland akzeptieren können, dass dieser Hafen in die Hände der USA fiel? Nein, das zu glauben wäre naiv. Der Ukraine-Beschluss der NATO hat Russland veranlasst, den Krieg vorzubereiten. Das entschuldigt den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht, aber es erklärt ihn.
Der Begriff Osterweiterung wird von vielen kritisch gesehen, als ein Narrativ Russlands, denn die baltischen Staaten hätten ja selbst um die Aufnahme gebeten. Sie sehen das anders?
Was soll diese moralisierende Semantik? Wir sind nicht in der Deutschstunde. Die NATO hatte beschlossen, sich bis zur Ostgrenze der Ukraine auszudehnen, übrigens unter Missbilligung Frankreichs und Deutschlands, die wenigstens erreichen konnten, dass der feste Termin im Beschlusstext gestrichen wurde. Das ist doch nun mal ein Faktum.
Manche Experten sagen, Putin hätte die Ukraine sowieso angegriffen.
Das glaube ich nicht. Mit einer engen wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Russland und Europa ohne die NATO-Osterweiterung hätte man den Krieg sicherlich verhindern können. Natürlich ist Putin immer ein russischer Imperialist gewesen. Aber er gehörte im Kreml damals nicht zu den Imperialisten, sondern wie es Horst Teltschik, Kohls Kanzlerberater schreibt, zu den Westlern, die alles daransetzten, Russland wirtschaftlich mit Westeuropa zu vereinen. Die russische Führung war gespalten. Putin ist erst dann in das Lager der Imperialisten gewechselt, als die NATO ihre Osterweiterung betrieb. Das war in der Zeit zwischen 2001 und 2008, dem Jahr des NATO-Beschlusses. Danach bereitete Russland den Krieg vor.
Wie bewerten Sie die Berichte über einen Trump-Putin-Friedensplan, der weitgehende Zugeständnisse der Ukraine abverlangt? Und was bedeuten sie für Europas Sicherheit?
Das sind überraschend gute Nachrichten. Aber wir müssen erst einmal sehen, ob die Russen überhaupt zustimmen und ob der Plan für die Ukraine annehmbar ist. Nach dem, was man hört, sollen sie ihre Armee halbieren, ohne einen formellen Friedensvertrag zu bekomme. Die Ukraine beklagt, dass der Plan über die Köpfe der Europäer hinweg entwickelt wurde. Das bestätigt, wie wichtig es ist, dass Europa sich politisch-militärisch zusammenschließt. Ohne einen solchen Zusammenschluss spielen die Großmächte auch weiterhin Ping-Pong mit uns.
Sie bezeichnen Trumps Auftreten als „Mafia-Gehabe“.
Trump verhandelt über europäische Köpfe hinweg und spielt mit Putin Schach über die Welt. Zugleich verlangt er von uns viel Geld für die amerikanischen Waffen. Das dürfen wir nicht akzeptieren, zumal die USA über die NATO den ganzen Mist mitzuverantworten haben.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage sprechen Sie von einem Verlust der Sicherheitsillusion. Trifft Sie das persönlich?
Sehr. Ich bin ein großer Amerikafreund, habe dort gelebt und Amerika immer als Befreier erlebt. Die Wiedervereinigung verdanken wir den USA. 1990 wehten in Princeton an öffentlichen Gebäuden deutsche Fahnen – das war bewegend. Heute redet Trump davon, die Europäer hätten den Amerikanern die Arbeitsplätze geraubt und würden sich wie „Aasgeier“ verhalten. Das ist eine völlig neue Realität und ein herber Verlust.
Trauen Sie Trump zu, die globale Finanzordnung zu erschüttern?
Amerika trägt seit Jahrzehnten, spätestens seit 2008 eine latente Finanzkrise mit sich herum. Die Nettoauslandsschuld liegt bei rund 91 Prozent des BIP – ein internationaler Spitzenwert, mal abgesehen von ein paar ganz kleinen Ländern. Deutschland, Japan und China haben stattdessen eine erkleckliches Nettoauslandsvermögen. Die USA haben lange über ihre Verhältnisse gelebt und brauchen heute 13 Prozent ihres Staatsbudgets für die Zinsen auf Staatspapiere, so viel wie für die Verteidigung. Deutschland braucht nur etwas mehr als zwei Prozent. Amerika pfeift auf dem letzten Loch. Trumps Berater Steve Mirren empfahl im vergangenen Herbst sogar, kurzfristige Staatspapiere in hundertjährige Papiere umzuwandeln – zu schlechten Konditionen für die Käufer. Das käme einem Schuldenschnitt gleich.
Steuert uns Trump mit seiner Zollpolitik erneut in eine Weltwirtschaftskrise?
Im Frühjahr sah es eher danach aus. Jetzt haben sich die Märkte stabilisiert, der Dollar fällt nicht weiter, die Aktienkurse sind sogar wieder gestiegen. Aktuell sehe ich die große Weltwirtschaftskrise nicht.
Das Interview führte Hannah Peterson.
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