Neue Geld-Zentralverwaltung

Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 5. März 2012, Nr. 10, S. 42.

Mit der Notenpresse pumpt die Europäische Zentralbank frisches Geld in Länder, die freiwillig keine Kredite mehr erhalten würden. Sie verhindert damit die Wiederbelebung des privaten Kreditmarkts, untergräbt den Reformdruck, benachteiligt die Sparer und bürdet den Steuerzahlern neue Risiken auf.

Für den Einsatz der dicken Bertha wird EZB-Präsident Mario Draghi von den Finanzmärkten bejubelt, weil er damit den lateineuropäischen Ländern den Zugang zu einer langfristigen Notenbankfinanzierung eröffnet hat, ohne dass neue Staatspapiere gekauft werden mussten. Die Krisenländer erhalten noch mehr frisches Geld, ihnen werden noch geringere Sicherheiten abverlangt, und vor allem dürfen sie sich das Geld viel länger leihen. Während die EZB den Banken vor der Krise für maximal drei Monate Kredit gewährte und der frühere EZB-Präsident Jean-Claude Trichet die Ausleihfrist dann auf ein Jahr erhöhte, gibt Draghi nun eine Billion Euro mit einer Laufzeit von drei Jahren. Damit ist das EZB-System zum Ersatz-Kapitalmarkt geworden.

Trotz des Jubels befindet sich die EZB indes auf einer schiefen Bahn, denn kein System überlebt ein Regime der lockeren Budgetbeschränkungen, bei dem staatliche Instanzen die tatsächlichen Knappheiten der Ökonomie dauerhaft mit der Notenpresse übertünchen. Die EZB treibt Europa mit dieser Politik in die Inflation oder in eine Transferunion, mindestens verzerrt sie die Allokation der Ressourcen.

Gegen den Strom

Die EZB versucht, den schier unermesslichen Kredithunger der Volkswirtschaften in der Peripherie und neuerdings auch Frankreichs und Italiens mit Refinanzierungskrediten zu stillen. Mit der Notenpresse pumpt sie die Spargelder, die über den Interbankenmarkt freiwillig nicht mehr von Deutschland dorthin fließen wollen, gegen den Strom weiter nach Lateineuropa. Der mediterrane Lebensstandard wird so weiterfinanziert, und zudem wird den begünstigten Ländern die Möglichkeit gegeben, sich von ihren deutschen und holländischen Gläubigern unabhängig zu machen.

Mittlerweile sind netto 800 Milliarden Euro an öffentlichem Kredit vom Nordosten in den Südwesten der Euro-Zone geflossen, und genauso viel Geld ist zur Schuldentilgung und zum Güterkauf zurückgekommen. Das ist der Target-Kredit, über den ich in dieser Zeitschrift vor einem Jahr das erste Mal berichtet hatte. Zerbricht der Euro, hat man die 800 Milliarden erst einmal in der Kiste.

Mit der Notenpresse ließ sich das Leben in der Peripherie weiter finanzieren, als sei nichts gewesen, und die notwendigen Anpassungsmaßnahmen wurden auf Jahre verzögert. Bis auf Irland gibt es bis zum heutigen Tage nirgends auch nur die Spur einer Preissenkung relativ zu den Wettbewerbern im Euro-Raum, die die unerlässliche Voraussetzung für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Defizitländer ist.

Der Geldsegen half den Banken in der Peripherie, ungeachtet der Krise ihrer Kunden, immer wieder neue Partys zu feiern. Er wurde aber zunehmend zu einem Problem für die deutschen Banken und Versicherer, weil deren Geld nun nicht mehr gebraucht wurde. Die Druckerpresse mutierte vom Nothelfer zum Konkurrenten, der das Wiederaufleben des privaten Kreditmarktes verhinderte, weil er den Südländern Konditionen bot, mit denen die deutschen Finanzinstitute nicht mehr mithalten konnten.

Den Nutzen hatten bei uns die Häuslebauer, denen die deutschen Institute ihre Kredite nun ersatzweise anboten. Doch die deutschen Sparer gehörten zu den Leidtragenden dieser Entwicklung, weil sie keine adäquate Verzinsung mehr erhielten. Die Lebensversicherer mussten sogar ihre Garantieverzinsung senken.

Vor allem aber müssen die deutschen Sparer nun sehr viel mehr Risiko tragen, denn hinter den Ersatzforderungen, die ihre Finanzinstitute gegen die Bundesbank erhielten, stehen zunehmend bloße Ausgleichsforderungen gegen das EZB-System, die niemals fällig gestellt werden können. Die Altersversorgung der Deutschen hängt heute im Umfang von 500 Milliarden Euro an einer offenen Forderung gegen ein System, das nicht mehr existieren würde, wenn sie es nicht selbst mit ihren vielfältigen Rettungsversprechen stützen würden.

Es ist davon auszugehen, dass auch die dicke Bertha den Bestand an offenen Forderungen der Deutschen gegen das Euro-System weiter erhöhen wird. Ich bin gespannt, ob die deutschen Sparer auch dann noch mit den Finanzmärkten zu feiern bereit sind, wenn sie merken, dass es ihre eigenen Ersparnisse sind, die man da gerade verjubelt.

Dauerhafter Schutz

Möglicherweise werden sich aber die Target-Forderungen nach dem März wieder verringern, weil dann der ESM gegründet wird. Damit wird dem störrischen Privatkapital ein dauerhafter Geleitschutz für den Weg in den Süden gegeben, und die Druckerpressen werden entlastet. Grund zur Beruhigung ist das freilich nicht, denn es sind ja auch dann die deutschen Sparer selbst, die den Geleitschutz organisieren und die dabei entstehenden Risiken tragen müssen.

Auch wenn der Euro nicht zerbricht, ändert die Euro-Zone auf jeden Fall ihr Gesicht. Mit EZB und ESM verfügt sie nun über zwei mächtige Institutionen, die Ersparnisse dorthin lenken, wo sie eigentlich nicht mehr hin wollen. Damit mutiert das Euro-System zu einer Art Zentralverwaltungssystem, in dem nicht der Vergleich der Ertragskraft, sondern politisches Gutdünken über die Verteilung des gesellschaftlichen Produktionsfonds entscheidet. Wohin das führt, hat Deutschland schon einmal ausprobiert.

"Die EZB-Politik treibt Europa in die Inflation - oder in eine Transferunion"

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