Die große Kapitalflucht aus Südeuropa und der Konnex zur Lehman-Pleite

Europas pandemiebedingte Wirtschaftskrise ist bloß die Fortsetzung der schon seit 2008 schwelenden Eurokrise.
Hans-Werner Sinn

Gastkommentar, Die Presse, 30. Juli 2020, S. 22.

Die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich auf einen großen, 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds zur Hilfe der von der Corona-Epidemie am härtesten getroffenen EU-Mitgliedstaaten geeinigt.

Doch schälte sich während der langwierigen Verhandlungen über das Paket immer mehr heraus, dass Europas pandemiebedingte Wirtschaftskrise eine Verlängerung der schon seit der Lehman-Pleite im Jahr 2008 schwelenden Eurokrise ist.

Im Kern ist diese Krise eine Wettbewerbskrise aufgrund falscher relativer Preise, die durch die inflationäre Überteuerung der Länder Südeuropas ausgelöst wurde, die wiederum auf die Kapitalschwemme zurückzuführen ist, die der Euro diesen Ländern bescherte. Die Überteuerung war das Ergebnis einer Blase, die mit der Lehman-Krise platzte.

Investieren im Norden

Nach dem Platzen der Euroblase kam es schon mehrfach zu Phasen einer intensiven Kapitalflucht aus dem Mittelmeerraum nach Deutschland, die die sogenannten Target-Salden im internationalen Verrechnungssystem der Eurozone hochschnellen ließ. Eine weitere Phase, die alle früheren in den Schatten stellt, wurde nun durch das Virus ausgelöst.

Die Target-Salden messen Nettoüberweisungen im Euroraum. Ausländische Kreditgeber aus aller Welt verlangten die Tilgung ausstehender Kredite im Mittelmeerraum, anstatt sie weiterzurollen, und investierten das Geld im Norden der Eurozone, vor allem in Deutschland. Aber auch südeuropäische Anleger schichteten ihre Anlagen von den Mittelmeerländern nach Deutschland um und überwiesen entsprechende Geldbeträge. Beides zwang die Bundesbank, bei der Erfüllung der Überweisungsaufträge für nun schon eine Billion Euro offene Kreditpositionen im Eurosystem aufzubauen. Der Anstieg der deutschen Target-Forderungen war mit 114 Milliarden Euro allein im März 2020 der bislang bei Weitem größte monatliche Anstieg seit der Einführung des Euro.

Bei zwei anderen Höhepunkten der Eurokrise, im September 2011 und im März 2012, war der deutsche Target-Saldo ebenfalls aufgrund einer Kapitalflucht stark angestiegen, doch ging es damals "nur" um 59 Milliarden Euro bzw. 69 Milliarden Euro. Im April und Mai dieses Jahres beruhigte sich der Kapitalmarkt etwas, doch im Juni schoss diedeutsche Target-Forderung abermals um 84 Milliarden hoch. Von Februar bis Juni 2020 war sie um 174 Milliarden Euro gestiegen und erreichte zuletzt mit einem Wert von 995 Milliarden Euro den Höchststand in der Geschichte des Euro.

Spiegelbildlich dazu hatte sich in der gleichen Zeitspanne die italienische Target-Schuld um 152 Milliarden und die spanische um 84 Milliarden Euro vergrößert, was Ende Juni Werte von 537 bzw. 462 Milliarden Euro implizierte. Das waren in der Summe 999 Milliarden Euro. Diese Zahl und die deutsche Zahl liegen so dicht unter der Grenze von einer Billion Euro, dass man sich nur darüber wundern kann, welche geheimen Kräfte im Hintergrund die Notbremse gezogen haben. Die Anleger flohen aus Spanien und Italien, weil sie diese Länder nicht mehr sicher wähnten, und sie konnten fliehen, weil die Notenbanken dieser beiden Länder den Banken Ersatzliquidität aus den nationalen Druckerpressen gewährten.

Dazu gehörte zum einen die Liquidität aus verschiedenen Wertpapier-Kaufprogrammen der EZB wie etwa den Käufen im Rahmen des Pandemic Emergency Purchasing Programme (PEPP) und dem schon des Längeren bestehenden Asset Purchasing Programme (APP) sowie auch die beschlossene temporäre Erhöhung dieses Programms wegen der Krise. Diese sahen eigentlich symmetrische Käufe durch alle Notenbanken des Eurosystems und die EZB vor, doch tatsächlich wurden italienische Papiere weit überproportional erworben.

Zum anderen stammt die Ersatzliquidität aus einem über 500 Milliarden Euro schweren Sonderprogramm im Rahmen der Targeted Longer-term Refinancing Operations (TLTROs), das den Banken der Eurozone Mitte Juni zur Verfügung gestellt wurde. Mit einem Zinssatz von minus einem Prozent waren die Bedingungen, unter denen die TLTROs gewährt wurden, extrem günstig. Sie waren so günstig, dass viele Banken das Geld liehen und postwendend zum Einlagenzins von minus 0,5 Prozent bei ihrer eigenen Zentralbank anlegten. Das verschaffte ihnen einen unmittelbaren Arbitrage-Gewinn, der einer offenen Subventionierung durch das Eurosystem gleichkam.

Ein erheblicher Teil des Kreditgeldes wurde jedoch benötigt, um die Abflüsse aufgrund der Kapitalflucht zu kompensieren. Vielleicht wurde es auch nur verwendet, um private ausländische Kredite abzulösen, die weniger günstig waren. In diesem Fall wären die Kredite aus der nationalen Druckerpresse nicht nur als Fluchthilfe zu kategorisieren, sondern als Mittel, das private Kapital durch Unterbietung der Konditionen in die Flucht zu schlagen.

System nicht im Gleichgewicht

Wie dem auch sei: Die Ereignisse zeigen in aller Deutlichkeit, dass das Eurosystem weit von einem inneren Gleichgewicht entfernt ist. Den harten Kern des Ungleichgewichts erkennt man durch einen Blick auf die Produktion im verarbeitenden Gewerbe, das besonders unter der Überteuerung litt, weil es sich im Gegensatz zu den Binnensektoren dem internationalen Wettbewerb stellen muss. In Italien lag die Produktion bereits vor der Coronakrise um 19 Prozent unter dem Vor-Lehman-Niveau, in Spanien um 21 Prozent. In der Coronakrise ging die Reise weiter bergab, und zwar auf minus 35 bzw. minus 34 Prozent.

Das Fiasko soll durch den Wiederaufbaufonds bekämpft werden, aber mit Geld kann man das Problem der falschen relativen Güterpreise im Eurosystem nicht lösen. Das geht nur über offene oder reale Abwertungen. Doch darüber will niemand reden. Hoffen und beten ist die dominante politische Strategie in Europa.

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