Der Job-Gipfel

Hans-Werner Sinn

Streitgespräch zwischen Gustav Horn und Hans-Werner Sinn, Stern, 17.03.2005, 55

Regierung und Opposition suchen nach Wegen aus der Krise. Welche Rezepte greifen? Zwei der profiliertesten deutschen Wirtschaftsforscher streiten im stern darüber, ob die Löhne der Arbeitnehmer sinken müssen oder der Staat noch mehr Schulden machen soll

Herr Horn, der Kanzler will die Wirtschaft ankurbeln und die Rekordarbeitslosigkeit senken. Was würden Sie ihm raten, wenn er Sie anruft?

HORN: Dass er unbedingt ein Konjunkturprogramm auflegen muss. Das geht am besten, wenn er den Kommunen Geld gibt. Jeder Bürgermeister hat unzählig viele Projekte in seiner Schublade liegen. Wenn die verwirklicht werden, dann kommt das kleineren und mittleren Firmen zugute und gibt den Impuls, den die Konjunktur jetzt dringend benötigt.

Nach dem Telefonat will sich der Kanzler absichern und ruft auch noch bei Herrn Sinn an und fragt: Was halten Sie von einem Konjunkturprogramm?

SINN: Nichts. Wir haben gerade einen konjunkturellen Boom. Im Boom soll man sparen und sich nicht verschulden.

 

Deutschland hat fünf Millionen Arbeitslose und nur ein Prozent Wachstum. Wie können Sie da von einem Boom reden?

SINN: Sorry, unser Trendwachstum ist nur ein Prozent, und da liegen wir drüber. Alles ist relativ. Die Weltwirtschaft boomt wie seit 28 Jahren nicht mehr, und der Export hat mächtig angezogen. Besser wird's nicht. Dass unser Wachstum so mickrig ist, liegt wahrlich nicht an der Konjunktur, sondern an strukturellen Problemen.

Herr Horn, leben wir wirklich in einem Boom?

HORN: Wenn das ein Boom ist, möchte ich keine Rezession erleben.

SINN: Ich auch nicht. Das ist ja genau der Punkt.

HORN: Ich habe ein anderes Bild. Was 2001 als Konjunkturkrise begann, hat sich durch Vertrauensverluste verfestigt und ist zu einer strukturellen Nachfragekrise geworden.

Wie ist die Arbeitslosigkeit denn nun genau entstanden?

HORN: Der Aufbau der Arbeitslosigkeit geschah in Schüben. Diese Schübe sind eben genau die Konjunkturkrisen, über die ich rede.

SINN: Die Arbeitslosigkeit nimmt seit 30 Jahren trendmäßig zu, und um den Trend schlängelt sich die Konjunktur. Der Trend muss durch Arbeitsmarktreformen gebrochen werden. Die konjunkturelle Schlängelei ist zweitrangig.

HORN: Ich bin nicht grundsätzlich gegen jede Strukturreform, die Herr Sinn vorschlägt. Nur kann man damit das Problem nicht lösen. Denn die Arbeitslosigkeit, die wir haben, ist letztlich nicht auf fehlende Anreize zur Arbeit zurückzuführen, sondern auf die schlechte gesamtwirtschaftliche Politik.

SINN: Die Stellen fehlen, weil Gewerkschaften und Sozialstaat die Löhne zu rabiat hochgetrieben haben.

Wie bitte?

SINN: Der Effekt der Gewerkschaften ist klar. Der Sozialstaat hat über den Lohnersatz gewirkt. Ein Sozialhilfe- oder Hartz-IV-Empfänger ist nur bereit, zu einem Lohn zu arbeiten, der mindestens so hoch ist wie das, was er vom Staat fürs Nichtstun bekommt. Wenn der Lohn für das Nichtstun höher ist als seine Produktivität, dann kann der Arbeitssuchende nicht beschäftigt werden. Denn der Arbeitgeber ist kein Wohltäter und bezahlt nicht mehr, als er an Arbeitsleistung zurück bekommt. Die Sozialhilfe bestimmt den Mindestlohn, und der ist bei gering Qualifizierten zu hoch.

Und was würden Sie dagegen tun?

SINN: Die Zuverdienstmöglichkeiten beim Arbeitslosengeld II müssen ausgeweitet werden. Dann kann der Lohn der gering Qualifizierten sinken. Und bei niedrigeren Löhnen gibt es für sie mehr Stellen. Deutschland braucht ein System der persönlichen Lohnzuschüsse, in dem Geringverdiener zwei Einkommen haben: Eines aus ihrer Arbeit und einen Zuschuss vom Staat. Es ist besser, die Arbeit als die Nichtarbeit zu bezahlen.

HORN: So handeln Sie sich doch nur neue Probleme ein. Sie müssen bis weit in die Reihen der normal Beschäftigten hinein die Löhne subventionieren. Außerdem würde es die Entwicklung unserer Wirtschaft in den nächsten Jahren nur behindern, wenn wir in die weltweite Niedriglohnkonkurrenz eintreten. Deutschland muss den Wettbewerb um die besten Innovationen suchen.

SINN: Das eine schließt das andere nicht aus!

HORN: Der Staat kann das Geld aber nur einmal ausgeben!

Herr Sinn, würde Ihr Konzept nicht bis zu zehn Millionen Menschen zu Subventionsempfängern machen?

SINN: Nein, 6,5 Millionen, und das wird billiger statt teurer. Jeder Einzelne würde ja nicht zu hundert Prozent unterstützt werden, sondern immer nur zu einem bestimmten Anteil. Im übrigen wäre es besser, zehn Millionen Arbeitende zu 50 Prozent zu unterstützen als fünf Millionen Arbeitslose zu hundert Prozent. Von der Finanzierung des Nichtstuns müssen wir Abstand nehmen.

HORN: Sie gehen davon aus, so die Beschäftigung insgesamt steigern zu können.

SINN: Ja. Die Rückkehr zur Vollbeschäftigung ist möglich, nur nicht bei der alten Lohnpolitik.

HORN: Da sind wir am Punkt: Was ist der Faktor, der die Arbeitslosigkeit hervorruft? Sind es tatsächlich die Löhne? Da ist in den siebziger Jahren bis Anfang der achtziger Jahre überzogen worden, auch waren die Lohnerhöhungen in Ostdeutschland nach der Vereinigung zu hoch. Seit 1995 aber sind die Löhne in Deutschland so schwach gewachsen wie in keinem anderen größeren Industrieland außer Japan.

SINN: Es kommt nicht auf das Wachstum der Löhne, sondern ihre Höhe an. Die Lohnkosten für Industriearbeiter sind nach Norwegen immer noch die höchsten auf der ganzen Welt. Deutschland hatte mit seiner im internationalen Vergleich aggressiven Lohnpolitik eine miserable Beschäftigungsentwicklung. Holland dagegen hat durch Lohnzurückhaltung nach dem Wassenaar-Abkommen von 1982 ein Beschäftigungswunder erlebt

Inzwischen ist aber auch Holland in Not.

SINN: Nicht wirklich. Beim Pro-Kopf-Einkommen hat uns Holland überholt.

HORN: Holland ist ein kleines Land und kann deswegen kein Beispiel für Deutschland sein, weder im Guten noch im Schlechten. In Deutschland spielt wie in den USA, Großbritannien oder Frankreich der Binnenmarkt eine wesentlich größere Rolle als der Außenhandel. Für eine große Volkswirtschaft kann Lohnzurückhaltung keine Lösung sein, denn sie führt zu einem Ausfall von Nachfrage.

SINN: Falsch. Die Lohnzurückhaltung erhöht die Anreize für Investitionen. Und Investitionen bedeuten Nachfrage nach den Leistungen der Bauindustrie, nach Maschinen usw. An diesen Investitionen fehlt es bei uns. Trotz des Booms der Weltwirtschaft schrumpften die Investitionen letztes Jahr um 0,9 Prozent, während sie früher bei ähnlichen Konjunkturaufschwüngen der Welt um acht Prozent stiegen

HORN: Bei uns mangelt es an privater Nachfrage. Die Kapazitäten sind unterausgelastet. Deswegen investieren die Unternehmer auch nicht.

Für den Lohn eines ungelernten deutschen Arbeiters kann man in Indien zwei Ingenieure anstellen. Wie stark müssten denn nach Ihrer Logik die Löhne sinken, damit wieder in Deutschland investiert wird, Herr Sinn?

SINN: Wir können so viel teurer bleiben, wie wir besser sind, aber eben nur so viel. Indien ist weit, und wir haben erhebliche Standortvorteile in Deutschland durch unser überlegenes Rechtssystem, die bessere Infrastruktur und den zentralen Standort in den Märkten Europas.

HORN: Hört, hört!

SINN: Der Hinweis auf Indien ist ein Totschlag-Argument. Die deutschen Lohnkosten liegen bei 27 Euro pro Stunde, die schwedischen liegen bei 23 Euro, die englischen und französischen bei 20 Euro. Das sollte uns zu denken geben. Ich empfehle aber nicht, die Löhne fallen zu lassen. Vielmehr sollten wir für mehrere Jahre auf die Verteilung des Produktivitätszuwachses verzichten und so die Wettbewerbsposition der deutschen Arbeitnehmer verbessern.

Im Klartext: Sie fordern Nullrunden.

SINN: Ein Ausgleich für die Inflation ist vielleicht noch möglich.

Herr Horn, womit könnten Arbeitnehmer bei Ihnen rechnen?

HORN: Die Lohnentwicklung sollte sich an dem Zuwachs an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ausrichten.

Konkret: Welche Lohnsteigerungen halten Sie für sinnvoll?

HORN: Bis zu drei Prozent, je nach Branche.

Solche Tariferhöhungen können die Gewerkschaften zur Zeit doch gar nicht durchsetzen.

HORN: Sie haben Recht: Die Lohnentwicklung ist den Tarifparteien völlig entglitten.

Fordern Sie, dass der Staat in die Tarifverhandlungen eingreift?

HORN: Nein, aber er ist gefordert alles zu tun, um die Wirtschaftsentwicklung wieder auf einen besseren Pfad zu bringen, damit diese Lohnkonkurrenz aufhört.

Herr Sinn, halten Sie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für überflüssig?

SINN: Nein. Aber es muss dem Einzelbetrieb möglich sein, untertariflich zu arbeiten, wenn die Mehrheit der Belegschaft das will.

HORN: Da droht doch eine ewige Abwärtsspirale: Wenn es dem Unternehmen einmal schlechter geht, dann heißt es: Runter mit den Löhnen! Wo bleiben die Anreize für Innovationen? Bei Ihrem Modell kann jeder Unternehmer seinen Ideenmangel über niedrigere Löhne abfedern.

SINN: Ihre lohngetriebenen Innovationen können sie behalten. Wir haben Fabriken geschaffen, in denen Roboter werkeln, und draußen stehen die Leute vor den Werktoren. Die hohe Produktivität der Betriebe entsteht durch Entlassungen. So steigt die Produktion pro Arbeiter, der noch drin ist; aber die Produktion pro Mensch, der in Deutschland lebt, fällt.

Könnte die Europäische Zentralbank (EZB) durch Zinssenkungen der deutschen Konjunktur aufhelfen?

HORN: Sie könnte noch einen Schritt nach unten machen, aber das ist nicht das Hauptproblem. Die EZB hat zu spät und zu schwach auf den wirtschaftlichen Einbruch 2001 reagiert.

SINN:Ein bisschen Inflation in Europa wäre in dieser Lage nicht schlecht. Wenn die Mieten, Preise und Löhne in Deutschland zu hoch sind, lässt sich das Problem am leichtesten über eine steigende Inflationsrate in den anderen europäischen Ländern korrigieren.

HORN: Dagegen habe ich nichts. Aber das Problem der schwachen Binnennachfrage kann so nicht gelöst werden. Deswegen bin ich für ein staatliches Investitionsprogramm.

SINN: Das wäre nur ein Strohfeuer. Wir brauchen aber Briketts für einen Dauerbrand. Außerdem darf der Staat sich nicht weiter verschulden. Das Defizit liegt schon über den drei Prozent des Stabilitäts- undWachstumspaktes. Mehr ist verboten.

HORN: Drei Prozent dürfen doch kein Dogma sein.

SINN: Die stehen aber in einem europäischen Vertrag, den wir den anderen 1996 aufgezwungen haben.

HORN: Der europäische Stabilitätspakt muss neu geschrieben werden. Wir brauchen einen Impuls für die Binnenwirtschaft. Den kann im Moment nur der Staat geben, auch wenn er sich dafür kurzfristig Geld leiht. Mit diesem Stroh zündet man die Briketts an, von denen Herr Sinn spricht. Wir müssen die negative Erwartungshaltung der Menschen, vor allen Dingen der Konsumenten, endlich einmal durchbrechen.

SINN: Haben Sie schon mal versucht, mit Stroh Briketts anzuzünden?

Da brauchen Sie sehr viel Stroh.

SINN: Wir müssen die Weichen für eine langfristige richtige Entwicklung stellen. Wenn wir das tun, haben die Leute auch wieder mehr Hoffnung.

Die Stimmung der Deutschen ist schon im Keller. Würden weitere Einschnitte sie nicht noch weiter verschlechtern?

SINN: Die Stimmung ist schlecht, weil die Realität erkannt wird. Die Leute haben Angst vor einem Entwicklungsweg unseres Landes, der keine Zukunft hat. Da ist es richtig, dass sie sparen.

HORN: Sparen allein nützt wirklich nichts!

SINN: Was fehlt sind Investitionen. Die schaffen Nachfrage und bringen außerdem noch Arbeitsplätze.

HORN: Das Problem ist doch, dass der Konsum im letzten Jahr so schwach war wie noch nie in der Nachkriegszeit.

Finanzminister Eichel macht ständig mehr Schulden als geplant. In den vergangenen Jahren lag das Staatsdefizit zwischen drei und vier Prozent. Ist das nicht schon ziemlich hoch, Herr Horn?

HORN: Hans Eichel hat eine tragische Politik betrieben. Er hat sich bemüht, immer wieder zu sparen, zu sparen, zu sparen. Und er ist damit gescheitert. Er musste scheitern, weil dieses Sparen in einer Phase stattfand, in der die Konjunktur schlecht lief. So wurden die Steuerausfälle und die Defizite immer höher. Hätte er gleich am Anfang mit höheren Ausgaben reagiert, hätte sich diese Schwäche nicht so sehr verfestigt. Dann stünde er heute viel besser da.

Wie stark würde denn die Verschuldung nach ihren Rezepten steigen?

HORN: Schauen Sie einmal in die USA, da geht das Defizit jetzt auf fünf bis sechs Prozent, in Großbritannien lag es teilweise bei neun Prozent.

Das finden Sie vorbildlich?

HORN: Das sind keine schönen Zahlen. Aber es ist ökonomisch erträglich, wenn man so wieder zu mehr Wachstum kommt. Dann kann man die Defizite auch wieder abbauen.

SINN: Herr Eichel hat nicht gespart, sondern auf Pump gelebt. Wenn es beim Trend der letzen Jahre bleibt, ein Prozent Wachstum und ein Prozent Inflation, dann steigt die Schuldenquote langfristig auf 150 Prozent, selbst wenn wir uns nur um 3 Prozent verschulden. Solche Lasten werden die wenigen Nachkommen, die wir Deutschen noch haben, erdrücken. Eigentlich müssten wir total runter von der Neuverschuldung.

HORN: Nur, wie kommen wir dahin? Mit der Politik von Staatsüberschüssen bei Konjunkturschwäche landen wir wirklich irgendwann bei über 100 Prozent, denn so wird die Krise immer mehr vertieft.

Wieviel Wachstum wäre denn bei einer anderen Politik erreichbar?

HORN: Drei Prozent inflationsfreies Wachstum sind erreichbar. Das hat Deutschland im Jahr 2000 bewiesen.

SINN: Okay, aber wie schaffen wir dieses Wachstum? Nur durch weitere Arbeitsmarktreformen. Wir müssen die ungenutzten Potenziale aller Menschen, die arbeiten könnten, heranziehen. Jeder muss arbeiten. Dann erzeugen die Menschen Werte, und diesen Zuwachs an Werten nennt man Wachstum. Ohne weitere Reformen stiege die Arbeitslosigkeit immer weiter.

Interview: Jan Boris Wintzenburg, Lorenz Wolf-Doettinchem