Wege aus der Eurokrise

Presseecho, Bernd W. Müller-Hedrich, www.rezensionen.ch, 06.12.2015.

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Gegen Ende seiner Amtszeit als Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München und Leiter des CESifo-Forscher-Netzwerks, weltweit eines der größten seiner Art, hat der weit über Deutschland hinaus bekannte und renommierte Münchener Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft Hans-Werner Sinn das vermutlich bislang wichtigste Buch über den Euro vorgelegt. Es soll dazu beitragen, "ein tieferes Verständnis für die ökonomischen Hintergründe der Krise zu entwickeln und Wege zur Überwindung der Funktionsstörungen des Eurosystems zu finden, damit Europa das Knäuel seiner finanziellen Verstrickungen entwirren kann und wieder eine neue Chance bekommt." (S. VII)

Der Verfasser macht zu Beginn seiner Ausführungen deutlich, dass der Euro von Anfang an mehr sein sollte als nur eine Währung, sondern den Wunsch nach Einheit, Frieden und Wohlstand in einem vereinten Europa verkörperte. Hans-Werner Sinn zitiert in diesem Zusammenhang Helmut Kohl, der die Einführung des Euro gegenüber dem Bundestag am 23. April 1998 mit den folgenden Worten begründete: "Der Euro stärkt die Europäische Union als Garanten für Frieden und Freiheit. … Von der heutigen Entscheidung - ich meine das nicht pathetisch - hängt es wesentlich ab, ob künftige Generationen in Deutschland und in Europa in Frieden und Freiheit, in sozialer Stabilität und auch in Wohlstand leben können." (S. 24)

Allerdings war die Rolle der gemeinsamen Währung schon vor deren Einführung nicht unumstritten. So hat sich Mitterrand die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung mit der Einbindung Deutschlands in ein gemeinsames Währungssystem, womöglich in der Erwartung der Angleichung der Lebensverhältnisse und einer Vergemeinschaftung der Schulden, bezahlen lassen. Kohl hingegen versuchte als Gegenleistung für die Aufgabe der D-Mark eine politische Union in Europa zu erreichen, was auch am Widerstand Frankreichs scheiterte. Heute erinnert die Eurozone eher an einen Scherbenhaufen: der Euro ist zunehmend zu einem Zankapfel, wenn nicht gar zum Spaltpilz, geworden und durch Europa geht ein tiefer Riss. Im Süden liegt die Wirtschaft am Boden und die Arbeitslosigkeit ist noch immer unerträglich. Der Norden sieht sich immer mehr in die Rolle des Zahlmeisters gedrängt und wird von der EZB in Geiselhaft genommen.

Die Aufweichung der nationalen Budgetbeschränkungen der jetzigen Krisenländer vor und während der Krise ist das wiederkehrende Motiv des Buches und - nach Auffassung des Verfassers - die Kernproblematik der Architektur des Eurosystems. Die durch die gemeinsame Währung verursachte Annäherung der Zinsunterschiede zwischen den Euro-Ländern führte nach Einführung des Euro zu einem zu starken Kapitalzufluss vom Norden in den Süden. Dort entstand eine inflationäre Kreditblase, welche den Süden seiner bisherigen Wettbewerbsfähigkeit immer mehr beraubte. Die Investoren sahen kein Insolvenzrisiko für Staaten oder deren Banken, da die nationalen Notenbanken das für die Schuldentilgung notwendige Geld jederzeit drucken und verleihen konnten und die Geldgeber davon ausgingen, dass es im Krisen- bzw. Notfall politisch unmöglich sei, die Notenbanken davon abzuhalten. Darüber hinaus haben staatliche Regulierungssysteme der kapitalexportierenden Länder Anreize geschaffen, dass Banken und Versicherungen in exzessivem Ausmaß Gelder an andere europäische Staaten und Banken verliehen haben. Hätten die politischen Entscheidungsträger den Grundsatz des Beistandsverbots des Maastrichter Vertrags ernst genommen und hätte die EU für die Länder der Eurozone Richtlinien für den Fall von Staatsinsolvenzen in die Wege geleitet und damit klare Signale an die Kapitalmärkte gesendet, wäre es wohl kaum zu einer derartigen Scheinblüte in der Peripherie der Eurozone mit all den wirtschaftlichen Verwerfungen gekommen.

Dass nach dem Ausbruch der Finanzkrise und im Anschluss an die Insolvenz der Lehmann-Bank öffentliches Kapital über die EZB bereitgestellt wurde um einen sofortigen Kollaps der europäischen Volkswirtschaft zu verhindern, hält Hans-Werner Sinn für durchaus vertretbar. Er kritisiert jedoch mit Nachdruck, dass die EZB und die Eurostaaten-Gemeinschaft später die Politik der weichen Budgetbeschränkungen beibehalten, d. h. immer mehr öffentlichen Kredit unterhalb der Finanzmarktkonditionen zur Verfügung gestellt haben und infolgedessen die Schuldner als auch ihre Gläubiger "retteten", jedoch nicht wieder zu den strengen Haftungsregeln einer Marktwirtschaft zurückgekehrt sind. Weitere Kapitel des Buches widmen sich u. a. den Analysen einzelner Länder (z. B. den verpassten Strukturreformen in den Südländern und den erfolgreichen Strategien in Irland sowie in den baltischen Staaten), den Leistungsbilanzdefiziten, der Kapitalflucht, den Target-Salden und nicht zuletzt der Rettungsarchitektur. "Stets werden die notwendigen Schritte von den jeweils herrschenden Parlamenten in einem demokratischen Prozess entschieden, doch praktisch sorgt die Pfadabhängigkeit des in Gang gesetzten Rettungsautomatismus dafür, dass alles schon entschieden ist. Was wie eine demokratische Entscheidung aussieht, ist faktisch nichts anderes als die Ausführung vorheriger Beschlüsse des EZB-Rats, der mittlerweile der wahre Hegemon in der Eurozone ist." (S. 436) Für den Verfasser ist es deshalb mehr als fraglich, ob Europäer bei einer Fortsetzung einer solchen Bailout-Politik weiterhin in Eintracht zusammenleben können.

Hans-Werner Sinn liefert in diesem Buch nicht nur eine Analyse der jüngsten Fehlentwicklungen, sondern zeigt auch Wege auf und fordert mutige Reformen, wie man diesen Gefahren begegnen kann und wie die Architektur der Eurozone reformiert werden müsste, um die Krise zu beenden. Dabei geht es u. a. um einen schnellen Schuldenschnitt bei den Staats- und Bankenschulden sowie bei den Target-Schulden der nationalen Notenbanken. Des Weiteren wird eine "atmende Währungsunion" gefordert, d. h. eine flexiblere Währungsunion bei welcher auch ein temporärer Euroaustritt möglich sein müsse. Dies sei im Interesse einzelner Euroländer, um ihre neue Währung abzuwerten und die verlorene Wettbewerbsfähigkeit durch Lohn- und Preissenkungen sowie durch Strukturreformen, Privatisierungen und Vermögenssteuern wiederherzustellen. Das alles sollte einhergehen mit einer Härtung der Budgetbeschränkungen in der Eurozone.

Trotz seiner fundamentalen Skepsis bezüglich der Funktionsfähigkeit des Eurosystems und ohne sich Illusionen über die Realisierungsmöglichkeiten seiner Vorschläge zu machen, gibt der Verfasser die Hoffnung auf ein vereinigtes Europa in ferner Zukunft nicht auf. "Ein gemeinsamer europäischer Staat würde jenen bindenden Versicherungskontrakt konstituieren, auf dessen Basis man eine Fiskalunion und eine gegenseitige Risikoteilung zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Teilregionen vielleicht realisieren könnte." (S. 13).

Europäische Politiker sollten bei der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Staats insbesondere von den Erfahrungen USA bei der Lösung der Probleme des Fiskalföderalismus lernen. Allerdings verweist Hans-Werner Sinn auf fundamentale Unterschiede zwischen den USA (mit dem Motto "E pluribus unum": "Aus vielen das Eine") und die EU (mit dem Motto "In varietate concordia": "In der Vielfalt die Eintracht") und sieht eher in der Schweizer Konföderation ein nützliches Vorbild. "Wie die USA gilt in der Schweiz das Prinzip des Beistandsverbots und es gibt nur geringe Transfers zwischen den einzelnen Kantonen. Bis zum heutigen Tag sind die gemeinsame Außenpolitik und die gemeinsame Armee die zentralen Stützpfeiler der Konföderation." (S. 494)

Bei dem jüngst vorgelegten Werk handelt es sich um die aktualisierte Übersetzung des von Hans-Werner Sinn im Juli 2014 bei Oxford University Press veröffentlichten Buches "The Euro Trap. On Bursting Bubbles, Budgets and Beliefs". Mit akribischer Analyse werden alle relevanten Themen untersucht und die komplexen Zusammenhänge in gut verständlicher Sprache klar entschlüsselt. Optisch anschaulich aufbereitete Tabellen und Abbildungen ergänzen die Ausführungen durch entsprechendes Zahlenmaterial. Das aufrüttelnde Buch ist spannend geschrieben, jedoch keinesfalls eine leichte Abendlektüre. Der Verfasser spart auch nicht notwendige spezielle Betrachtungen, etwa zu den Target-Salden und den Zahlungsbilanzdefiziten, aus. Viele Termini bzw. Abkürzungen, wie z. B. SMP, EFSF, ESM, OMT, QE und ABS, werden zwar alle sorgfältig erklärt, können jedoch den Nicht-Ökonomen gelegentlich abschrecken.

Dieses großartige Buch enthält wichtige Botschaften und ist eine Pflichtlektüre für all jene, welche vor dem Sumpf, in dem die Eurozone heute steckt, nicht die Augen verschließen wollen, sondern sich sachlich mit den Schwächen dieses Währungssystems und mit den seriösen Strategien und Maßnahmen zur möglichen Rettung des Euros auseinandersetzen wollen.