Wir brauchen die keynesianische Rezeptur

Interview mit Hans-Werner Sinn, profil, 18.05.2009, Nr. 21, S. 48-49

Hans-Werner Sinn, Präsident des deutschen Ifo-Instituts, bezeichnet sich selbst als neoliberal. Dass er trotzdem Konjunkturpakete und eine umfassende Regulierung aller Finanzteilnehmer fordert, sieht er nicht als Widerspruch.

profil: Schreiben Sie gerne Leserbriefe oder nur, wenn Sie besonders wütend sind?

Sinn: Das tue ich nur in seltenen Fällen, das stimmt.

profil: Ich spreche einen Leserbrief an, den Sie an eine deutsche Tageszeitung geschrieben haben. Sie hätten oft genug vor der Krise gewarnt, verteidigen Sie darin die Zunft der Ökonomen.

Sinn: Ich habe nicht die ganze Zunft verteidigt, sondern nur mich selbst, weil ich sehr oft daraufhingewiesen hatte, dass große Gefahren drohen, wenn man den Banken erlaubt, ihr Geschäft mit so wenig Eigenkapital zu machen. Nur waren damals Presse und Öffentlichkeit nicht aufnahmebereit für meine Warnung.

profil: Kritisiert werden Sie und ihre Kollegen auch deshalb, weil Konjunkturprognosen ständig nachgebessert werden müssen. Versagt die Ökonomie in einer Krise wie dieser?

Sinn: Möglicherweise. Wir haben es hier mit einem Erdbeben zu tun. So wie ein Geologe den Zeitpunkt eines Erdbebens nicht vorhersehen, sondern das Geschehen nur im Nachhinein analysieren kann, konnten wir auch hier den Zeitpunkt der Krise nicht vorhersehen. Aber wir können aus ihrer Analyse lernen.

profil: Welche Lehren ziehen Sie daraus?

Sinn: Die wichtigste Weichenstellung, die jetzt vorgenommen werden sollte, ist, den Banken als Sofortmaßnahme staatliches Eigenkapital zu geben, damit sie ihre Kredite nicht einschränken. Mittelfristig muss der Staat sich wieder zurückziehen, und dann sollte grundsätzlich mehr privates Eigenkapital eingefordert werden. Denn wer kein Eigenkapital zu verlieren hat, haftet nicht, und wer nicht haftet, zockt. Die amerikanischen Banken haben Kreditforderungen in aller Welt verkauft, ohne für etwaige Verluste geradestehen zu müssen. So etwas darf in Zukunft nicht mehr möglich sein. Wer mehr Eigenkapital einsetzen muss, ist vorsichtiger.

profil: Gierige Manager waren nicht gerade vorsichtig - und stehen deswegen am Pranger.

Sinn: Nicht die Gier ist das Problem. Dass der Mensch reich werden will, ist die Triebkraft der wirtschaftlichen Entwicklung, Die Herausforderung besteht darin, diese Triebkraft richtig zu kanalisieren. Wer erreichen will, dass Manager umsichtiger handeln, muss die Anreizstrukturen für die Aktionäre ändern, die die Manager einstellen. Die Manager sind nur die Marionetten auf der Bühne. Die Strippen ziehen die unsichtbaren Großaktionäre, die in der Öffentlichkeit nicht bekannt sind. Das Problem liegt in der Asymmetrie der Entlohnungssysteme der Aktionäre: Die Gewinne kassieren sie voll, doch erhebliche Teile der Verluste wälzen sie auf die Gläubiger oder den Staat ab. Nur wenn die Aktionäre mehr zu verlieren haben, werden sie von ihren Managern vorsichtige und nachhaltige Geschäftsmodelle verlangen.

profil: Ein Risiko, das die Manager eingegangen sind, konnten offenbar noch nicht einmal die Ratingagenturen richtig einschätzen.

Sinn; Ja, die Krise hat gezeigt, dass die Ratingagenturen häufig völlig danebenlagen. Da ist die Bestwertung Triple-A für Papiere ausgesprochen worden, die heute nur noch einen Bruchteil ihres früheren Werts haben. Lehman Brothers hat nur eine Woche vor dem Untergang noch Bestnoten bekommen. Das sind unhaltbare Zustände. Als Erstes muss sichergestellt werden, dass sich die Ratingagenturen nicht von den Firmen bezahlen lassen, deren Produkte sie bewerten, sondern von den Käufern. Dann werden sie zu unabhängigen und solideren Urteilen kommen. Zudem sollte Europa große Anstrengungen unternehmen, ein Gegengewicht zu den amerikanischen Agenturen zu schaffen. Wir können uns in Zukunft nicht mehr auf die amerikanischen Institutionen verlassen - zumal sie ihre eigenen Großkunden in den USA systematisch besser bewerten als die in Europa.

profil: Mit einer staatlichen, europäischen Ratingagentur?

Sinn: Man könnte eine halbstaatliche Einrichtung konstruieren. Auch eine Partnerschaft zwischen der EU und privaten Agenturen wäre denkbar.

profil: Muss in Zukunft auch der Spekulation Einhalt geboten werden?

Sinn: In einigen Punkten schon. So sollten Leerverkäufe verboten werden, weil sie Marktmacht ermöglichen. Investoren können mit diesem Instrument eigenmächtig die Kurse bewegen. Diese Einflussnahme ist der Marktwirtschaft nicht zuträglich. Natürlich ist es richtig, dass der Markt auch auf fallende Kurse setzen können soll - aber das geht auch über normale Terminverkäufe, die längst keine so schädliche Wirkung haben.

profil: Wollen Sie die Hedgefonds damit an die Leine legen?

Sinn: Ich halte es für einen Fehler, dass auf dem G20-Gipfel vereinbart wurde, dass nur die systemrelevanten Hedgefonds reguliert werden sollen. Die Briten wollten offenbar ihre Hedgefonds-Industrie schützen und konnten sich damit durchsetzen. Ich halte das für problematisch. Es gibt keinen Grund, diese Vehikel nicht zu regulieren - im Gegenteil: Gerade wenn man neue Geschäftsideen hat, ist es wichtig, eine hinreichend hohe Eigenkapitalunterlegung einzufordern. Derzeit sterben die Hedgefonds ja wie die Fliegen - das ist kein Zeichen dafür, dass sie in der Krise eine stabilisierende Wirkung ausüben.

profil: Sollen sie eine eigene Aufsicht bekommen?

Sinn: In Zukunft sollen all diejenigen unter Aufsicht gestellt werden, die Bankgeschäfte betreiben - egal welcher Rechtsform sie unterliegen.

profil: Kann man mit noch so guter Regulierung eine solche Krise überhaupt verhindern?

Sinn: Ja, mit Sicherheit. Eine schärfere Eigenkapitalregulierung hätte die Bankenkrise verhindert. Der Kern der Krise liegt im Zusammenbruch des Interbankenmarkts: Die Banken trauen sich gegenseitig nicht mehr über den Weg, weil sie befürchten, dass sie ihr Geld nicht mehr zurückbekommen. Sobald höhere Eigenkapitalquoten vorgehalten werden müssen, kann sich jeder sicher sein, dass er das geliehene Geld wiederbekommt, weil der Marktpartner auch stürmische Zeiten überlebt.

profil: Wie können Regulierungsbestimmungen international durchgesetzt werden?

Sinn: Das ist natürlich nicht ganz leicht. Aber die Amerikaner zeigen sich unter der neuen Obama-Regierung bereit, einer stärkeren Regulierung zustimmen zu wollen. Ich bin optimistisch, dass es im Rahmen der G20 zu einer Vereinbarung kommt.

profil: Wie kann verhindert werden, dass einzelne Länder ausscheren, um die Finanzindustrie anzulocken - wie es in der Vergangenheit passiert ist?

Sinn: Die Chance ist derzeit größer denn je, internationale Mindeststandards der Regulierung durchzusetzen. Menschen sind vergesslich, Politiker nur für kurze Zeit gewählt: Aus politischen Gründen lassen sich langfristige Reformen des Finanzmarkts nur jetzt, mitten in der Krise, umsetzen. Alle Länder wissen, dass sie an einem Strang ziehen müssen, wenn nicht wieder eine zu lasche Regulierung der nächsten Krise den Weg ebnen soll. Es sind ja bereits erstaunliche Bewegungen beim Bankgeheimnis passiert - wenn sich die G20 auch in anderen Bereichen einigen, können sie über diesen Druck erreichen, dass alle Länder die neuen Spielregeln unterzeichnen.

profil: Verwundert Sie die Eintracht, mit der neoliberale und keynesianische Ökonomen heute nach dem Staat rufen?

Sinn: Nein. Der Neoliberalismus fordert einen starken staatlichen Ordnungsrahmen. Der Keynesianismus fordert zusätzlich staatliche Schuldenpolitik zur Überwindung der Krise. Heute haben wir eine keynesianische Krise und brauchen dafür die keynesianische Rezeptur. Es gibt in der Wirtschaft wie beim Menschen viele Krankheiten. Eine Therapie abzulehnen, weil die Krankheit nicht da ist, bedeutet nicht, sie auch dann abzulehnen, wenn der Patient tatsächlich an ihr erkrankt ist. Genau deswegen habe ich zu wirtschaftlichen Boomzeiten staatliche Ausgabenprogramme abgelehnt - und befürworte sie jetzt.

profil: Wann könnte der Patient wieder gesunden?

Sinn: Das weiß ich nicht. Immerhin haben wir gewisse Anzeichen, dass die Erwartungen der Wirtschaftsteilnehmer wieder ansteigen. Aber ob die wirkliche Wirtschaft schon wieder anzieht, ist schwer zu sagen. Vielleicht in den USA in der zweiten Jahreshälfte, in Europa sicherlich deutlich später. Wir folgen der amerikanischen Krise mit einer zeitlichen Verzögerung von eineinhalb Jahren. Doch selbst wenn die ersten Frühindikatoren jetzt schon wieder nach oben zeigen - bei den Bürgern ist die Krise erst im Anmarsch. Die Arbeitslosigkeit wird in der zweiten Jahreshälfte und auch im kommenden Jahr massiv ansteigen - daran kann auch die Verbesserung der Frühindikatoren kaum noch etwas ändern.

Interview. Andrea Rexer

Es gibt nur wenige Preise für Volkswirtschaft, die Hans-Werner Sinn nicht überreicht wurden. Bevor er 1999 die Leitung des renommierten ifo-lnstituts übernahm, lehrte er an verschiedenen Universitäten in Deutschland und Kanada. Bis heute hat Sinn einen Lehrstuhl an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Sein jüngstes Buch „Der Kasino-Kapitalismus" erscheint am 18. Mai. Bekannt ist das ifo-lnstitut für seinen monatlichen Geschäftsklimaindex, der als einer der wichtigsten Frühindikatoren der Konjunktur in Deutschland gilt.