„Das Feuer der Inflation muss man austreten“

Der Ökonom Hans-Werner Sinn warnt die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen vor den Gefahren eines langen und hohen Preisschubs. Er fordert die Bundesregierung auf, jetzt den Finger gegenüber der EZB zu heben.

Augsburger Allgemeine, 15. Januar 2022, Nr. 11, S. 8.

Herr Sinn, Sie haben schon Ende 2020 auf die Risiken der Inflation im EuroRaum hingewiesen, obwohl die Teuerung etwa in Deutschland im Schnitt des vorletzten Jahres nur bei 0,5 Prozent lag. Was stimmte Sie so besorgt?

Dass die Kombination aus Lockdowns und Staatsverschuldung eine Inflation hervorrufen würde, war aus der Sicht der volkswirtschaftlichen Theorie zu erwarten. Deshalb habe ich gewarnt. Inflation ist wie ein Feuer, dem man nicht früh genug vorbeugen kann.

Doch Vorbeugung fand nicht statt. So stieg die Inflation in Deutschland für 2021 auf wohl satte 3,1 Prozent. Und das Feuer lodert weiter.

Selten habe ich mich als Ökonom so hilflos gegenüber den sich abzeichnenden Gefahren des Inflationsfeuers gefühlt wie seit meiner Warnung.

Hilflos? So kennt man Sie gar nicht.

Ich fühlte mich hilflos, weil ich einerseits als Ökonom wusste, was getan werden musste, ich aber andererseits nicht naiv bin und genau weiß, dass es für Löschaktionen derzeit keine Mehrheit bei der Europäischen Zentralbank gibt. Versagt EZB-Chefin Christine Lagarde als oberste Feuerwehrfrau?

Die Europäische Zentralbank zögert und redet das Problem klein. Tatsächlich hat die EZB kein wirkliches Interesse an stabilen Preisen. Dabei beteuert doch auch Frau Lagarde, wie wichtig Preisstabilität sei.

Die EZB defniert Preisstabilität als Inflation.

Was ein Widerspruch in sich ist.

Das ist der große Trick der EZB. Im Maastrichter Vertrag steht, dass die Wahrung der Preisstabilität das vorrangige Ziel der EZB zu sein hat. Preisstabilität heißt null Prozent Inflation. Da sich die Null nicht genau erreichen lässt, hat die EZB lange Zeit argumentiert, man müsse ihr zugestehen, die Inflation unter einer Obergrenze von zwei Prozent halten zu wollen. Das war nachvollziehbar. Inzwischen hat sie die zwei Prozent aber in ein Ziel umdefniert, das sie nur im Mittel der Jahre bis 2024 anstrebt.

Der frühere Bundesbank-Chef Jens Weidmann hat vor den Folgen der EZB-Politik gewarnt und sein Amt aufgegeben, nachdem seine Mahnungen nicht Gehör fanden.

Wer weiß, warum er zurückgetreten ist. Auf alle Fälle dürfte es Jens Weidmann keinen Spaß bereitet haben, den durch die EZB-Politik angerichteten Scherbenhaufen weiter ohnmächtig beobachten zu müssen. Vom neuen Bundesbank-Präsidenten Joachim Nagel ist zu hoffen, dass er mehr Gehör fndet, wenn er eine Kehrtwende der EZB-Politik einfordert, also sich dafür einsetzt, dass die gigantische Ausweitung der Geldmenge zunächst gebremst und schließlich zurückgeführt wird. Immerhin kann er auf die Rückendeckung des Kanzlers bauen, was Weidmann bei Angela Merkel nicht konnte. Nagel ist ein versierter Ökonom aus der Bundesbank. Man sollte ihm vertrauen, dass er sich für eine Zinswende weg von Null- und Negativzinsen innerhalb des EZB-Rates einsetzt.

Die Zinsen müssen also steigen, um die Inflation wirkungsvoll zu bekämpfen.

Die Zinsen sollten schon in diesem Jahr steigen und nicht erst 2023. Das ist schon deshalb angebracht, weil die US-Notenbank angekündigt hat, die Zinsen deutlich zu erhöhen. Wenn die Europäische Zentralbank nicht mit Amerika mitzieht, ergibt sich eine Zinsdifferenz zwischen den USA und Europa – mit
der Folge, dass Anleger Geld nach Amerika umlenken. Dann würde der Dollar gegenüber dem Euro aufwerten. Dadurch bekommen wir im Euro-Raum auch noch eine importierte Inflation.

Doch könnte es nicht sein, dass Christine Lagarde recht behält und sich die Inflation nach der Überwindung der Corona-Krise zurückbildet?

Darauf darf sie es nicht ankommen lassen. Das Feuer der Inflation muss man sofort austreten. Wir stecken derzeit noch in der ersten Inflationswelle. Diese Welle wird zwar ein wenig abklingen, aber in ihr steckt schon der Ausgangspunkt für die zweite Inflationswelle. Das liegt zum einen daran, dass eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt.

Was heißt das konkret?

Die Gewerkschaften werden also bei den Gehaltsverhandlungen im Laufe des Jahres 2022 die jetzt schon eingetretene Inflation auf ihre Forderungen draufschlagen. Das bedingt dann einen neuen Inflationsimpuls im Jahr 2023. Zum anderen hamstern Firmen angesichts der gestiegenen Inflation schon jetzt in gewaltigem Umfang Vorprodukte. Das verstärkt die Lieferengpässe und die Inflation über das mögliche
Ende der Pandemie hinaus.

Das klingt wie ein Teufelskreis.

Ja, zuletzt verzeichneten wir bei den gewerblichen Erzeugerpreisen, unter die solche Vorprodukte fallen, einen Preisschub von rund 19 Prozent binnen eines Jahres. Das ist der höchste Wert seit 1951. Diese
Inflation stellt die Inflation während der Ölkrisen in den 70er Jahren weit in den Schatten. Nun kommen weitere Inflationstreiber wie die Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland um etwa 25 Prozent hinzu. Wegen der nötigen Lohnabstände wird dadurch die ganze Lohnskala nach oben geschoben. Die Gehälter steigen also insgesamt an, und die Firmen geben den Kostendruck an die Verbraucher weiter.

Und die Energiewende wird ja auch noch ein teurer Spaß.

Die von den Grünen mit großem Nachdruck betriebene Energiewende zwingt uns, günstige konventionelle durch teure grüne Energien zu ersetzen. So verständlich die Motive sind: Das wird ein gewaltiger Kostentreiber für die Wirtschaft und befeuert die Inflation. Die Zeichen stehen also klar auf Inflation.

In den 70er Jahren ist die Inflation in Deutschland im Jahresschnitt um rund 5,1 Prozent gestiegen. Rechnen Sie jetzt mit einer ähnlichen Entwicklung?

Ja, eine solche Größenordnung liegt für dieses Jahrzehnt im Bereich des Möglichen.

Dabei lautet Ihr Befund, dass die Euro-Inflationsbremse zerstört ist.

Das Euro-Auto ist ohne Bremse unterwegs, weil die EZB ihre Geldpolitik seit 2015 fundamental geändert hat, indem sie für inzwischen über 4000 Milliarden Euro Staatspapiere erwarb. Früher hat sie den Banken frisch gedrucktes Geld für ein paar Tage geliehen. Seit 2015 kauft die EZB mit dem Geld aus der elektronischen und physischen Druckerpresse von ihnen Staatspapiere mit einer Laufzeit von bis zu 31 Jahren. Die EZB müsste diese Papiere wieder aktiv verkaufen, um die Geldmenge zu verringern, weil hier
nicht einfach eine Frist abläuft.

Sie sorgen sich um die Stabilität unseres Geldes. Wie kann man sich gegen Inflation wappnen?

Man kann sich nicht kollektiv gegen Inflation wappnen. Wenn die Bürger versuchen, sich abzusichern,
indem sie Realwerte kaufen, steigt die Inflation umso mehr.

Aber man kann durch den Kauf einer Immobilie doch sein Geld vor dem Wertverfall schützen.

Der Einzelne kann so schon vor der Inflation fliehen.

Was für den Einzelnen gut ist.

Doch diese Flucht geht zu Lasten anderer. Wenn man sich zu derzeit überhöhten Preisen eine Wohnung als Inflationsschutz kauft, verkauft sie ein anderer. Das Geld liegt nun auf dessen Konto und verliert durch die Inflation an Wert. Irgendwer hat immer den Schwarzen Peter.

Und Ihrer Meinung nach befinden wir uns auch noch in einer Euro-Sackgasse. Wie kommen wir da wieder heraus?

Indem etwa die Bundesregierung gegenüber der EZB interveniert. Deutschland muss seiner Verantwortung gegenüber der Stabilität der Gesellschaft und der Geschichte gerecht werden. Deutschland muss die EZB an ihr Mandat erinnern. Das gefährdet nicht die Unabhängigkeit der Notenbank, denn die besteht nur innerhalb des Mandats. Der deutsche Bundeskanzler und der deutsche Finanzminister sollten den Finger heben.

Was passiert, wenn das alles erwartungsgemäß unterbleibt?

Meine Hoffnung ist, dass es nicht unterbleibt. Auf jeden Fall sollten sich die Bürgerinnen und Bürger mit dem Thema beschäftigen, um den Politikern klarzumachen, dass es so nicht weitergeht. Sollte meine Hoffnung trügen, wird sich die Inflation ihren Weg bahnen. Damit würden wir den Frieden in dieser Gesellschaft gefährden. Denn die Hauptverlierer einer Inflation sind die kleinen Leute mit ihren Spar- und Lebensversicherungs-Guthaben. Durch eine Inflation treibt man diese Menschen in eine Frustration und radikalisiert sie.

Steuern wir jetzt sogar auf eine große Inflation wie vor hundert Jahren zu?

Ich gehe nicht davon aus, dass wir noch mal eine Inflation wie vor hundert Jahren bekommen. Aber auch eine Inflation wie in den 70er Jahren wäre schlimm genug. Vor hundert Jahren führte die Inflation zu einer politischen Radikalisierung des unteren Mittelstands, also der normalen Bürger. Die Inflation trieb die Menschen Hitler in die Arme. So schrieb auch der Literat Stefan Zweig in seinen Lebenserinnerungen, nichts habe die Deutschen so hitlerreif gemacht wie die große Inflation. Und der amerikanische Historiker Gerald Feldman vertrat in seinem Buch „Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte“ die These, dass Hitler seinen Putsch 1923 nicht gewagt hätte, wenn die Bevölkerung durch die Inflation nicht radikalisiert worden wäre. Das Risiko, dass wir auch nur in die Nähe eines solchen Szenariums kommen, muss durch eine beherzte Bremspolitik vollkommen eliminiert werden. Und selbst eine Inflation wie vor fünfzig Jahren sollten wir unter allen Umständen verhindern.

Das Interview führte Stefan Stahl.

Nachzulesen auf www.augsburger-allgemeine.de.