Das Loch in der Staatskasse

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Süddeutsche Zeitung, 05.10.2002, S. 2

Außenansicht

Finanzminister Eichel ist nicht zu beneiden. Die Defizitquote bezüglich des Sozialproduktes von 2,9 Prozent, die er der EU für dieses Jahr avisiert hat, wird er nicht erreichen können. Nur die Möglichkeit, wegen der Flutkatastrophe eine Ausnahmeregelung vom Maastrichter Vertrag und Stabilitätspakt zu erwirken, begründet eine gewisse Hoffnung, dass Deutschland keine Strafe wird zahlen müssen. Wie man es aber dreht und wendet: Die Steuereinnahmen reichen nicht für das angepeilte Haushaltsvolumen, und neue Schulden lässt der Pakt nicht zu.

Die Regierung befindet sich in einer Notlage, weil sie in zwei Punkten überrascht wurde. Zum einen hat das unerwartet niedrige Wachstum die Steuereinnahmen stark gebremst. Der Einbruch der Weltkonjunktur ging auch an Deutschland nicht spurlos vorüber, und er war in dieser Schärfe, zumindest was das Jahr 2001 betrifft, auch von den Wirtschaftsforschungsinstituten nicht vorausgesehen worden. Zum anderen hat die Regierung die Höhe der Steuerausfälle bei der Körperschaftsteuer nicht antizipiert. Selbst die Steuerschätzer wurden hiervon maßlos überrascht. Während im Jahr 2000 noch 23,6 Milliarden Euro Körperschaftsteuer erzielt wurden, lag das "Aufkommen" 2001 bei minus 400 Millionen und im ersten Halbjahr 2002 gar bei minus 1,3 Milliarden Euro.

Dass die Steuerreform die Einnahmen senken würde, war beabsichtigt, doch nicht, dass sie die Einnahmen zum Verschwinden bringen und die Körperschaftsteuer in eine Subvention der großen Unternehmen verwandeln würde. Gewollt und kaum zu kritisieren waren die Effekte der Freistellung der Veräußerungsgewinne. Schon vor der für 2002 angekündigten Freistellung kam es zu Steuerausfällen, weil Veräußerungen aufgeschoben wurden. Problematischer war, dass viele Unternehmen noch im Jahr 2001 in der Lage waren, steuerlich wirksame Teilwertabschreibungen auf verlustbringende Beteiligungen vorzunehmen. Dazu gehörten auch spektakuläre Abschreibungen auf ausländische Beteiligungen, die faktisch auf einen fortgesetzten internationalen Verlustausgleich hinausliefen, obwohl dieser Verlustausgleich formal abgeschafft worden war.

Der hauptsächliche und in seiner Bedeutung wohl auch unterschätzte Grund für die unerwarteten Ausfälle bei der Körperschaftsteuer liegt jedoch darin; dass die dem deutschen Steuerrecht eigene Fiktion, nach der bei einer Ausschüttung von Gewinnen zunächst die ehemals am höchsten belasteten zu verwenden sind, zu einem steuermindernden Ersatz alter durch neue Eigenkapitaltöpfe führte. Ein Unternehmen, das im Jahr 2001 Gewinne ausschüttete, die in den Jahren vor 1999 mit 45 Prozent belastet wurden, und statt dessen neue, nur mit 25 Prozent belastete Gewinne einstellte, hatte um 20 Prozentpunkte weniger Steuerbelastung auf die Ausschüttung zu tragen, als wenn es neue Gewinne zur Ausschüttung hätte verwenden müssen - nämlich nur 10 Prozent statt der formell vorgesehenen Belastung von 30 Prozent.

Eigentlich sollte die Steuerreform ja nur die neuen Gewinne entlasten, um so Direktinvestitionen in Deutschland anzuregen. Indem man jedoch die Verwendungsfiktion aufrechterhielt, wurde die Steuerreform faktisch auf die Gewinne und die damit finanzierten Investitionen längst vergangener Perioden ausgedehnt. Praktisch der gesamte seit der Reform von 1977 thesaurierte Eigenkapitalbestand der deutschen Kapitalgesellschaften wurde und wird durch den Eigenkapitalersatz in den Jahren bis 2016, dem Ende der Übergangsfrist, im Nachhinein steuerlich entlastet.

Nun ist guter Rat teuer. Im Prinzip gibt es nur zwei Möglichkeiten: die Steuereinnahmen zu erhöhen oder die Staatsausgaben zu senken. Leichter scheint in der Demokratie zu sein, die Steuern erhöhen, denn die Steuerzahler sind im Vergleich zu den Nutznießern der Staatsausgaben normalerweise in der Minderheit. Das ist ja auch der Grund dafür, dass der demokratische Staat in historischer Perspektive zum Wohlfahrtsstaat wurde. Dieser Logik folgend diskutiert die SPD nun Möglichkeiten, die Vermögen- und Erbschaftsteuern zu erhöhen, um das Loch in der Staatskasse zu schließen. Auch die Ökosteuer und die Tabaksteuer sowie neuerdings vor allem auch versteckte Steuererhöhungen durch Maßnahmen zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen sind im Gespräch.

Nun tragen fast alle Steuererhöhungen dazu bei, die reguläre Wirtschaftstätigkeit zu lähmen. Häufig taucht die besteuerte wirtschaftliche Aktivität in den Untergrund ab, unterbleibt oder wandert ins Ausland ab. Letzteres ist sicherlich zu erwarten, wenn das Kapital besteuert werden soll. Fehlt im Inland das Investitionskapital, so verringert sich das Produktivitätswachstum der Arbeit, und ebenso verringert sich der Spielraum für Lohnerhöhungen. Dadurch verkehren sich die vermeintlichen Verteilungsgewinne der Arbeitnehmer in ihr Gegenteil.

Ein Blick auf Niedrigsteuerländer wie die Schweiz oder Irland zeigt die Relevanz dieses Effektes in umgekehrte Richtung. Dort hat man verstanden-, dass niedrige Steuern das Kapital anziehen und dass davon die Arbeitnehmer am meisten profitieren. Die Löhne sind dort bereits hoch oder wachsen doch zumindest sehr schnell. Sicher, Deutschland ist größer als diese Länder. Insofern hat der Fiskus etwas mehr Macht. Aber man täusche sich nicht: Der Kapitalmarkt ist nach der Einführung des Euro und nach anderen Integrationsschritten perfekter denn je. Der Versuch, beim mobilen Kapital durch Vermögen-, Erbschaft- oder auch Ökosteuern abzukassieren, wäre ein Schuss nach hinten.

Nur die Arbeit selbst kann man belasten, denn Arbeitnehmer laufen so schnell nicht weg. Aber auch hier sind die Grenzen des Sinnvollen lange überschritten. Deutschland liegt mit einer Grenz-Abgabenquote von 66 Prozent auf die Wertschöpfung eines durchschnittlichen Arbeitnehmers noch vor Holland, Schweden oder Frankreich in der internationalen Spitzenposition. Zusammen mit den Anspruchslöhnen, die vom Sozialsystem erzeugt werden, sorgt diese Belastung für so hohe Lohnkosten, dass immer mehr Jobs wegbrechen.

Seit dreißig Jahren ist der Trend wachsender Arbeitslosigkeit ungebrochen, auch wenn durch Vorruhestands-, Altersteilzeit- und Jobaktiv-Modelle eine halbe Million Arbeitslose versteckt wurden. Die Freisetzung von Arbeitnehmern verringert das Wachstum und drängt Deutschland in die Schlusslichtposition .Nur die Schattenwirtschaft wächst nach wie vor stürmisch. Um eine Trendwende herbeizuführen, braucht man nicht mehr, sondern deutlich weniger Abgaben auf Arbeitseinkommen.

So bleibt nur die Möglichkeit, die Staatsausgaben zu senken. Die überfällige und allseits proklamierte Absenkung der Staatsquote muss jetzt endlich in Angriff genommen werden. Das Sozialbudget Deutschlands liegt bei 645 Milliarden Euro oder 32 Prozent des Sozialprodukts. Die Subventionen an Unternehmen liegen je nach Abgrenzung bei 100 bis 150 Milliarden Euro. Subventionen sind in den meisten Fällen schädlich für das Funktionieren der Wirtschaft, und welch negative Rückwirkungen verschiedene Komponenten des Sozialetats auf den Arbeitsmarkt haben, ist bekannt. Es sollte möglich sein, die 20 Milliarden Euro, die in der Kasse fehlen, hier durch Einsparungen zustande zu bringen.

Eigentlich hatte die Regierung in der vorigen Legislaturperiode den Eindruck erweckt, dass sie den Weg zu einer Befreiung der Marktkräfte gehen will. Die bereits angekündigte Aussetzung der nächsten Stufe der Steuersenkung und die neue Diskussion über mögliche offene oder versteckte Steuererhöhungen lassen nun aber erhebliche Zweifel an de Ernsthaftigkeit der Absichten aufkommen. Die Regierung sollte ihre Glaubwürdigkeit nicht verspielen, sondern die allseits erkennbaren Budgetengpässe nutzen, nun endlich die Staatsquote zurückzuführen.

"Jetzt oder nie" ist die Devise.