Handelsblatt, 19. Juni 2017, S. 4
Mit Helmut Kohl starb ein großer europäischer Staatsmann, der den Rockzipfel der Geschichte mutig ergriff und Deutschland wieder vereinigt hat. Gegen den erbitterten Widerstand von Margaret Thatcher und François Mitterrand, doch mit der Unterstützung von George Bush und Michael Gorbatschow hat er auf der Basis seines Zehn-Punkte-Programms in den sich anschließenden Zwei-plus-vier-Verhandlungen die Vereinigung durchgesetzt.
Wie gut Kohl daran tat, die Wiedervereinigung zu forcieren, zeigte sich beim Putsch gegen Gorbatschow im August des Jahres 1991, der um ein Haar gelungen wäre. Kohl wusste, dass das Tor der Geschichte möglicherweise nur einen Moment lang aufstehen würde, und er marschierte entschlossen hindurch. Mich erfüllt große Trauer um diesen Mann, und ich achte ihn, obwohl seine ökonomischen Fehlentscheidungen heute offenkundig sind.
Kohl gab später zu, dass die Verhältnisse in den neuen Ländern sich nicht so entwickelt haben, wie er es erhofft hatte. Das lag aber nicht nur daran, dass die Wirtschaft der DDR in einem schlechteren Zustand war, als er dachte, sondern an der Übernahme des westdeutschen Sozialsystems und des westdeutschen Arbeitsrechts bereits vor der Privatisierung der Treuhandbetriebe. Dadurch erhielten die westdeutschen Tarifparteien die Möglichkeit, im Osten eine Politik der raschen Lohnangleichung zu forcieren, um unliebsame Joint Ventures der Treuhand-Betriebe mit kompetenten internationalen Wettbewerbern von vornherein abzublocken. So verspielten die neuen Länder den eineinhalb Jahrzehnte währenden Vorsprung, den sie beim Eintritt in die EU gegenüber den anderen Ex-Comecon-Ländern hatten. Hätte Kohl seine Vereinigungspolitik weniger an politischen Befindlichkeiten als an ökonomischen Gesetzmäßigkeiten ausgerichtet, müsste man heute nicht konstatieren, dass die Konvergenz beim privat erzeugten Bruttoinlandsprodukt zwischen Ost- und Westdeutschland bereits im Jahr 1995 zum Stillstand kam und dass in Ostdeutschland eine Transferökonomie entstanden ist, die dauerhaft am Tropf des Westens hängt, während ausländische Direktinvestoren einen Bogen um das Land machen und lieber nach Polen, Tschechien und Ungarn gehen.
Auch Kohls Vermutung, der Euro werde sich zu einem Friedensprojekt entwickeln, hat sich nicht bewahrheitet. Kohl hat den Euro zu seinem Projekt gemacht, weil er die deutsche Vereinigung in das europäische Einigungswerk einbinden und seine europäischen Partner besänftigen wollte. Doch hat der Euro Europa die größte Krise seiner Nach kriegszeit gebracht und dabei viel Zwist und Streit zwischen den Völkern hervorgerufen. Zwar ist die Krise in den USA ausgelöst worden, doch sind die Probleme, die die Industrien Südeuropas und Frankreichs dezimierten, ursächlich auf den Euro zurückzuführen. Es war der Euro, der in den Jahren nach seiner Ankündigung die inflationäre Kreditblase in Südeuropa aufblies, bei deren Platzen überteuerte Torsos einst zumindest halbwegs funktionierender Wirtschaftssysteme zurückblieben.
Die Blase entstand, weil die Kapitalmärkte und auch die europäischen Partner die Regeln des Maastrichter Vertrages zum Verbot der Monetisierung der Staatsschulden und zum Ausschluss einer Gemeinschaftshaftung niemals ernst nahmen. Die Druckerpresse im Keller der nationalen Notenbanken schuf so viel Vertrauen in die Bonität maroder Schuldner, dass diese Regeln keinen hinreichenden Schutz gegen die Überschuldung und den daraus resultierenden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit boten, zumal es an EU-Richtlinien und - Verordnungen zu ihrer Umsetzung fehlte. Die Anleger erwarteten zu Recht, dass man sie beim möglichen Platzen der Blase retten würde, und so brachten sie bedenkenlos immer mehr Spargelder in den Süden, bis das Unglück schließlich passierte. Nicht Kohl hatte recht, sondern Wissenschaftler wie Ralph Dahrendorf, Milton Friedman, Martin Feldstein, Peter Bernholz, Joachim Starbatty, Manfred Neumann, Renate Ohr und viele andere Ökonomen, die zur Gruppe jener 153 Ökonomen gehörten, die einst in einem Aufruf vor dem Euro warnten und über die sich Kohl bereits im Jahr nach der Einführung des Euros öffentlich belustigte. Auch der Autor dieser Zeilen kann sich nicht rühmen, damals die Wahrscheinlichkeit für den Rechtsbruch richtig eingeschätzt zu haben.
Nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Kohls Nachfolger müssen versuchen, seine großen Visionen nicht vollends an den Klippen der Realität zerschellen zu lassen. Kohl selbst hat vor kurzem gesagt, dass man bei der europäischen Integration jetzt einmal eine Pause einlegen sollte. Dem ist wenig hinzuzufügen.
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