"Der Ladenschluß ist ein Symptom für Reformunfähigkeit"

München - Mit dem Thema Ladenschluss ist das ifo Institut bestens vertraut: Die Münchener Forscher haben im letzten Oktober im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums ein Gutachten vorgelegt. Doch die Empfehlung zur Ausweitung wurde bislang ignoriert. Ifo Präsident Hans-Werner Sinn kritisiert im Gespräch mit Uwe Müller insbesondere die Zögerlichkeit des Kanzlers.
Interview mit Hans-Werner Sinn, Die Welt, 13.09.2000

DIE WELT: Über eine Liberalisierung der Öffnungszeiten wird seit Jahren diskutiert. Nun hat Gerhard Schröder ein Machtwort gesprochen - alles soll beim Alten bleiben. Haben Sie dafür Verständnis?

Hans-Werner Sinn: Ladenschluss Germany ist ein Symptom für die Reformunfähigkeit dieses Landes. Wir werden nicht ohne Grund im Ausland belächelt. Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, den Ladenschluss festzulegen. Darüber haben, die Ladeninhaber und ihre Kunden zu entscheiden.

Kneift der Kanzler vor den Gewerkschaften, die mit einem ,,heißen Herbst" gedroht haben?

Ja, das sehe ich so. Damit stellt der Kanzler das Interesse von drei Millionen Verkäufern über das Interesse von 70 Millionen Käufern.

Bislang hat es die Regierung lediglich unterlassen, selbst eine Gesetzesinitiative zu ergreifen. Jetzt aber will sie einen Vorstoß der Länder aktiv blockieren. Liegt darin eine neue Qualität?

Besonders die ostdeutschen Länder versuchen seit längerem, den Ladenschluss liberaler zu handhaben - unabhängig von der jeweiligen Parteienkonstellation. Schon deshalb kann ich die restriktive Position von Schröder nicht nachvollziehen. Es ist klar, dass die Mehrheit der Verbraucher mehr Freiheit beim Einkaufen wünscht. Und die Mehrheit entscheidet nun einmal Wahlen. Ich weiß daher nicht, ob der Kanzler aus seiner eigenen Sicht heraus die richtige Politik macht.

Womöglich sind die Verbraucher aber nicht so effektiv organisiert wie die Arbeitnehmer.

Das mag sein. Es sind immer diejenigen besser organisiert, bei denen der Streitwert pro Kopf größer ist. In diesem Fall sind das, die Beschäftigten im Einzelhandel und nicht die Käufer der Waren. Kleine Gruppen sind meistens schlagkräftiger als die großen.

Partikularinteressen haben einen höheren Stellenwert als das Allgemeinwohl - ist das nicht ein fatales Signal?

Das ist international nicht nachvollziehbar. Ein Schwede, der wie selbstverständlich am Sonntag einkaufen geht, schüttelt den Kopf darüber, dass in Deutschland selbst an Wochentagen die Bürgersteige um 20 Uhr hochgeklappt werden. Das sind Verhältnisse, die einfach nicht mehr in die heutige Zeit hineinpassen.

Wirtschaftsminister Werner Müller sieht das anders. Andere Themen seien vordringlicher.

Das schließt sich ja nicht aus. Eine Rivalität zwischen diesem und anderen Vorhaben ,sehe ich nicht. Im Übrigen gibt es keinen besonderen Handlungsaufwand. Ein Gesetz zu verändern ist doch eine Kleinigkeit.

Immerhin, die Grünen drängen auf mehr Freizügigkeit. Der kleine Koalitionspartner gebärdet sich marktwirtschaftlicher und verbraucherfreundlicher als der Ressortchef - verkehrte Welt?

So scheint es. Ich vermute aber, dass der Wirtschaftsminister in seinem Herzen liberaler eingestellt ist, sich aber der Kabinettsdisziplin beugt.

Lange hat sich die Politik hinter der Wissenschaft versteckt. Beim ifo Institut wurde eigens ein Gutachten in Auftrag geben, das seit fast einem Jahr vorliegt. Sind die Ergebnisse ernst genommen worden?

Man hat die Diskussion nicht gewollt und abgewiegelt. Bei dem ifo-Gutachten wird häufig einseitig und missverständlich auf die Arbeitplätze geschaut. Behauptet wird, dass eine Liberalisierung nur darin eine gute Sache sei, wenn zusätzliche Stellen entstünden. Davon kann keine Rede sein. Eine längere Öffnung ist gerade auch dann eine gute Sache, wenn nicht zusätzliche Menschen mit der Verteilung der Waren beschäftigt werden müssen, sondern wenn es bei gegebenem Einsatz vorhandener Ressourcen möglich ist, die Verbraucher glücklicher zu machen.

Welche Auswirkungen hätte denn eine Liberalisierung auf die Beschäftigungslage im Handel? Nach Schätzungen des Berliner DIW könnte eine Reform mehrere Zehntausend Arbeitsplätze bringen.

Das glaube ich nicht. Netto wird eine Liberalisierung wohl kaum zusätzliche Arbeitsplätze bringen. Zu erwarten ist eine gewisse Verlagerung in die Einkaufszentren. Mag sein, dass das zu Lasten der kleineren Läden geht. Die Geschäfte in den Innenstädten allerdings würden eher gestärkt. Mit länger geöffneten Geschäften erhalten die Zentren eine ganz andere Qualität, was zu einer Stärkung des innerstädtischen Handels führen würde.

Gegner einer Änderung wie das CSU-regierte Bayern warnen, dass eine Reform die Konzentration im Handel beschleunigt. Sind solche Sorgen angebracht?

Eine gewisse Tendenz zu Konzentration als Folge einer Liberalisierung ist wahrscheinlich. Aber das hat durchaus sein Gutes. Der Vorteil liegt darin, dass in größeren Einheiten die Verteilung der Waren kostengünstiger erfolgt und damit die Preise fallen können. Mit dem Ladenschluss wird gegenwärtig künstlich eine Ausnutzung von Kostendegressionspotenzialen im Einzelhandel verhindert. Das scheint mir nicht sinnvoll zu sein. Der Staat hat nicht die Aufgabe, solche Konzentrationsprozesse zu verhindern.

Ist es nicht ohnehin ein Anachronismus, dass es zu einem Thema wie dem Ladenschluss zentrale Regelungen für ganz Deutschland gibt?

Das ifo Institut hat gefordert, dass der staatlich geregelte Ladenschluss an Werktagen generell aufgehoben und an Feiertagen in die Hände der Kommunen gelegt werden soll. Wenn eine Gemeinde glaubt, dass es sinnvoll ist, den Ladenschluss an Feiertagen wie bisher zu handhaben, kann sie das tun. Eine bundeseinheitliche Lösung ist überhaupt nicht geboten.

Wann wird der Verbraucher in den Genuss eines aus gedehnteren Einkaufsbummels kommen? Wie fällt Ihre persönliche Vorausschau aus?

Da sich inzwischen auch die Einzelhandelsverbände für eine Liberalisierung ausgesprochen haben, erwarte ich noch in dieser Legislaturperiode eine weitere Lockerung.

Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Welt.