Den sicheren Hafen verloren

FOCUS, 15.09.2001, S. 264

Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn skizziert, wie der Terror die Weltwirtschaft beeinflusst

FOCUS: In ersten Reaktionen auf die Terroranschläge in den USA fürchteten Analysten um die Weltwirtschaft. Schlittern wir jetzt in eine globale Rezession??

Sinn: Im Grunde sind zwei Szenarien denkbar. Sollten die USA zum Beispiel Afghanistan angreifen, vielleicht in Verwicklungen mit dem Irak geraten und einen Krieg im Nahen Osten beginnen, hätte das gravierende Folgen für die Energieversorgung. Der Ölpreis würde in die Höhe schnellen, und die Weltwirtschaft könnte in eine Rezession schlittern, von der auch wir betroffen wären. Wir wissen, dass die Wirtschaftsentwicklung der Industrieländer sehr stark auf den Ölpreis reagiert.

Und wie sieht das zweite Szenario aus?

Wenn sich die Vereinigten Staaten darauf beschränken, gezielt die Terroristen und nicht ganze Staaten zu bekämpfen, fallen die direkten Konsequenzen für die globale Ökonomie weniger bedeutsam aus. Der Vorfall an sich - so dramatisch und folgenschwer er für die betroffenen Menschen auch ist - schädigt die Weltwirtschaft nur in begrenztem Umfang. Der direkte Schaden ist mit einem Erdbeben zu vergleichen, dessen wirtschaftliche Konsequenzen auch dank des weltweiten Rückversicherungsnetzes beherrschbar sind. Nicht vernachlässigen dürfen wir indes den psychologischen Einfluss auf die Einschätzung von Anlagen in den USA.

Wie wirkt sich dieser psychologische Faktor konkret aus?

Amerika gilt plötzlich nicht mehr als sicherer Hafen in der Welt. Die Kurse an den US-Börsen fallen, und das Kapital internationaler Investoren, das lange in enormen Mengen in die USA strömte, wird nach Alternativen suchen. Auf einmal steht Europa wieder als relativ sicherer Investitionsstandort da. Auch eine Rückbesinnung auf Asien kann ich mir vorstellen.

Wie stark trifft das die schon seit Monaten schwächelnde US-Wirtschaft?

Die amerikanische Konjunktur erwies sich schon vor den Attacken als äußerst labil. Es war unklar, in welche Richtung die Wirtschaft dreht. Jetzt ist zu erwarten, dass sich die konjunkturelle Wende verzögert. Der Hoffnungsschimmer, der sich gerade zaghaft am Horizont zu zeigen schien, wird von den Anschlägen wieder überdeckt. Es ist durchaus möglich, dass sich die amerikanischen Verbraucher erst einmal beim Konsum zurückhalten und dass die Investitionen sich weiter abschwächen. Extrem pessimistische Einschätzungen halte ich dennoch für eine Überreaktion, da die direkten Schäden relativ überschaubar sind.

Dennoch wird die Krise nicht völlig ohne Folgen für die US-Unternehmenslandschaft bleiben.

Der Wert der Hochhäuser wird dramatisch sinken, die Mieten auch. Die Immobiliennachfrage wird sich aus den Ballungszentren in die Peripherie verlagern. Ich rechne damit, dass die Amerikaner bei der Gestaltung ihrer Städte mit ihrer bislang starken Konzentration auf die dicht bebauten Zentren umdenken. Die Regierung wird wohl auch die Sicherheitsphilosophie des Landes verändern. Hochtechnologische Abwehrlösungen à la "Star Wars" sind plötzlich out. In diesem Bereich wird das Pentagon künftig vorsichtiger mit seinen Ausgaben umgehen. Schließlich muss sich die Verteidigung künftig stärker auf psychologische Kriegsführung und die Bekämpfung der Kriminalität einstellen.

Wie stark wird sich das Umdenken in den USA auf Europa auswirken?

Es ist denkbar, dass die Amerikaner ihre Bündnispartner zu Sanktionen gegen bestimmte Staaten verpflichten. Außerdem wird natürlich die Zahl der sensiblen Güter zunehmen, die Unternehmen nicht ohne weiteres mehr ausführen dürfen. Solche wirtschaftlichen Sanktionen werden vermutlich die europäischen Unternehmen stärker spüren als US-Konzerne. So wäre zum Beispiel auch Deutschland mit seinen traditionell guten Beziehungen zu den arabischen Staaten besonders stark von Handelsbeschränkungen betroffen.

Sehen Sie auch Gewinner?

Kurzfristig verdienen Ölscheichs und die Besitzer von Goldminen kräftig. Ansonsten, ich betone es noch einmal, ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass größere Effekte auf die Weltwirtschaft eintreten, wenn ein Krieg vermieden werden kann.

Leidet die Exportwirtschaft nicht unter dem steigenden Euro-Kurs, da sich zum Beispiel deutsche Produkte im Vergleich zur außereuropäischen Konkurrenz verteuern?

Die Wechselkurse würde ich erst einmal beiseite lassen. Der Fall des US-Dollars, den wir nach den Anschlägen beobachtet haben, ist mögliche weise nur eine kurzfristige Folge der Anschläge. Wichtiger werden die Kurseffekte an den Börsen sein.

Wie wachsam müssen Notenbanken unter diesen Umstände sein, wenn sie gefährliche Einflüsse auf die Wirtschaft so gering wie möglich halten wollen?

Natürlich muss man die Konjunktur im Auge behalten. Gerade weil wir wissen, dass sich die Weltwirtschaft schon vorher in einer schwierigen Situation befand. Mir scheint aber nicht, dass die USA unter einem Liquiditätsmangel leiden.

Wenn erst die offensichtlichen Schäden beseitigt und kurzfristige Überreaktionen überstanden sind: Welche Folgen der Attentate werde dauerhaft in der Wirtschaftswelt sichtbar bleiben?

Die Supermacht USA ist verwundbar geworden. Das wird sich in die Psyche aller eingraben und die Welt verändern.

Interview: Nadja Matthes