Schonungslose Streitschrift

Jens Münchrath, Handelsblatt, 18.08.2017, S. 55

Brexit, Flüchtlingsdeal mit der Türkei, Anleihekauf der EZB: Hans-Werner Sinn attestiert Europa in seinem Buch eine kritische Zeitenwende.

Der Titel ist Programm: "Der schwarze Juni" hat Hans-Werner Sinn sein Buch genannt.Er meint damit jenen Juni 2016, an dem Europa gleich drei Ereignisse erlebte, die für den Ökonomen eine Zeitenwende bedeuten: das Brexit-Votum der Briten, die Billigung des umstrittenen Anleihekaufs der Europäischen Zentralbank (EZB) durch das Bundesverfassungsgericht und nicht zuletzt das Türkei-Abkommen, das den Flüchtlingsströmen nach Europa Einhalt gebieten sollte, aber letztlich Deutschland nur erpressbar gemacht hat.

In der Tat: Wer wollte bestreiten, dass der Ausstieg Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) einen empfindlichen Rückschlag für die europäische Integration bedeutet? Wer wollte leugnen, dass der Umgang der Europäer mit den vielen Flüchtlingen uns allen auf traurige Weise vor Augen geführt hat, dass gemeinsames Handeln immer schwieriger ist und dass auch die Solidarität zwischen den Partnern vornehmlich in Sonntagsreden zum Ausdruck kommt? Und wer wollte bezweifeln, dass die Euro-Krise nur Symptom einer tiefen institutionellen Krise der EU ist?

Ja, Sinn hat die drei großen Schwächen des Kontinents in diesem Buch aufgezeigt - schonungslos, analytisch scharf und untermauert mit einer beeindruckenden Vielfalt an Statistiken.

Gewidmet hat der ehemalige Präsident des Münchener Ifo-Instituts das Buch dem "Bürger Europas". Das klingt staatstragend - und tatsächlich kann man "Der Schwarze Juni" als wirtschaftspolitisches Vermächtnis des mittlerweile 69-Jährigen bezeichnen.

Als Chef des Ifo-Instituts hat er die wirtschaftspolitische Debatte des Landes geprägt wie kaum ein anderer Ökonom. Nicht selten waren seine Beiträge umstritten, manchmal waren sie provozierend, ja polemisch. Aber immer waren sie ökonomisch fundiert. So auch dieses Buch - selbst wenn man insbesondere seine politischen Schlussfolgerungen nicht teilen muss. Wenn Sinn etwa behauptet, dass Angela Merkels "Willkommenskultur" mitverantwortlich für den Flüchtlingsansturm sei und dass die Bilder der ankommenden Menschenmassen auch zum überraschenden Brexit-Votum der Briten geführt hätten. So als hätten nicht die schiere Not und die Kriegsgräuel in Syrien Hunderttausende Menschen in die Flucht getrieben.

Oder wenn er glaubt, man könne die Zukunft der Währungsunion sichern, indem man aus ihr einen Klub auf Zeit machte, aus dem die Mitgliedsländer mit Wettbewerbsschwächen nach Belieben aus- und später wieder eintreten könnten. Es gibt genug Ökonomen und Politologen, die nicht ganz zu Unrecht behaupten, dass ein solcher Schritt das Ende der Währungsunion, womöglich sogar den Anfang vom Ende der politischen Integration Europas bedeuten würde.

Sinn, dessen bemerkenswertes Verdienst es ist, bei seinen Publikationen als überzeugter Marktwirtschaftler immer auch die politischen Dimensionen mitgedacht zu haben, ist sich offenbar bewusst, dass er sich mit diesem Buch an Großes heranwagt. "Ein Volkswirt, darf seine Empfehlungen nicht schon im Hinblick auf das Machbare formulieren, sondern muss vom Grundsätzlichen her argumentieren. Er muss aufklärerisch und kompromisslos sein, er darf sich nicht verbiegen und darf nicht kapitulieren vor dem scheinbar Unumstößlichen, Wahrscheinlichen, das vermeintlich ohnehin passieren wird."

Mehr Anspruch geht nicht.

Den gleichen Anspruch stellt Sinn übrigens an Politiker: Wirkliche, ver antwortungsbe wusste Politik werde von Staatsmännern und - frauen gemacht, die sich nicht selbst beschränken, sondern langfristige Visionen strategisch und beharr lich über viele Jahre hinweg verfolgten und im historisch richtigen Moment ihre Chance zu nutzen wagten .

Willy Brandt, Margaret Thatcher, Helmut Kohl und auch Gerhard Schröder sind für Sinn Beispiele solcher Politiker. Angela Merkel erwähnt er nicht. Doch trotz aller Kritik, trotz aller Skepsis - Sinn ist kein Fatalist, und sein Buch enthält durchaus auch ein konstruktives Element. Am Ende macht er darin 15 konkrete Vorschläge, wie die Politik die drei großen Probleme Europas, wenn nicht überwinden, so doch zumindest entschärfen könnte. Auch wenn nicht alle Vorschläge überzeugen: Niemand, der sich wirklich um die politische wie ökonomische Zukunft des Kontinents sorgt, kann es sich ernsthaft leisten, Sinns Argumente zu ignorieren.

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