"Alle haben geschlafen"

Interview mit Hans-Werner Sinn, Pro Firma, 12.2004, S. 40-42

Der Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung sieht bei weiteren Reformen GUTE CHANCEN FÜR DEN MITTELSTAND in einem sich verändernden Marktumfeld.

Herr Professor Sinn, um mit dem Titel eines Ihrer Bücher zu fragen: Ist Deutschland noch zu retten?

Sinn: Ja. Aber! Und das Aber bezieht sich auf ein umfangreiches Reformprogramm, das weiter reicht, als die Deutschen sich zurzeit vorstellen können.

Deutschland scheint sich in einer Falle zu befinden: Auf der einen Seite ertönt der Ruf nach Lohnverzicht und Sparsamkeit, auf der anderen nach mehr Konsum. Klingt das nicht nach Quadratur des Kreises?

Sinn: Ich weiß nicht, wer mehr Konsum will. Ich nicht. In Deutschland fehlt es an Investitionen. Wachsen kann man nur, wenn man weniger konsumiert und mehr investiert, und Investitionen bedeuten auch Nachfrage.

Bundeswirtschaftsminister Clement mindestens fordert mehr Konsum. Die Journalisten, denen er kürzlich die Zahlen aus den Herbstgutachten erläuterte, ermunterte er zum sofortigen Kauf neuer Autos.

Sinn: Konjunkturell ist es natürlich nicht falsch, wenn die Leute mehr konsumieren, aber dennoch kann ein Land seine Kapazitäten nur ausbauen, wenn es mehr spart und investiert, es sei denn das Kapital käme aus dem Ausland. Und nur durch den Ausbau der Kapazitäten gibt es echtes Wachstum.

Viele Felder sind zu beackern. Wir brauchen Produktivität, Innovationen, , bessere Produkte, verbesserte Ausbildung. Wo ist der Hebel anzusetzen?

Sinn: Natürlich müssen wir alle besser werden, aber die Konkurrenten werden auch besser. Es lenkt ab von den schweren Hausaufgaben, die wir machen müssen. Die liegen im Bereich des Arbeitsmarktes, der nicht funktioniert. Auf eine einfache Formel gebracht sind die deutschen Unternehmen noch einigermaßen wettbewerbsfähig, die deutschen Arbeitnehmer aber schon lange nicht mehr. Das zeigt sich an der hohen Arbeitslosigkeit. Die Kombination aus Qualität und Preis bei den Menschen stimmt nicht: Natürlich haben wir gut ausgebildete Arbeitnehmer, aber sie sind auch extrem teuer. Und wenn man siebenmal so teuer ist wie die Polen, muss man auch siebenmal so gut sein. Ich glaube nicht, dass wir das sind.

Sie haben kürzlich vorgerechnet, eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden könne die Lage deutlich bessern. Wie weit kommen wir damit?

Sinn: Eine Verlängerung von 38 auf 42 Wochenstunden senkt die Lohnkosten um etwa zehn Prozent. Das wäre schon ein guter Beitrag, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ob das aber angesichts der heutigen Situation ausreicht, steht auf einem anderen Blatt.

Welche Chancen für eine Arbeitszeitverlängerung sehen Sie hier zu Lande, wo das Besitzstandsdenken ausgeprägt und die Gewerkschaften stark sind?

Sinn: Die Gewerkschaften bewegen sich immerhin. Heinz Putzhammer vom DGB-Bundesvorstand hat gerade eingeräumt, dass das Problem der Lohnkosten viele Unternehmen zur Standortverlagerung veranlasst. Opel etwa ist nur die Spitze des Eisbergs, darunter liegen all die vielen mittelständischen Unternehmen, die sich nach Osteuropa oder Asien gerettet haben.

Die Regierung versucht derzeit, durch Minijobs die Beschäftigungslage zu verbessern. Viele Wirtschaftsforscher warnen aber, dass dadurch reguläre Jobs verdrängt werden könnten. Wie bewerten Sie diesen Versuch, Arbeitslose in Lohn und Brot zu bringen?

Sinn: Die Minijobs sind ein gut gemeinter Versuch, der aber so lange die Beschäftigung nicht wirklich ausdehnen kann, wie die Entlastung des Faktors Arbeit auf Schüler, Studenten und mitarbeitende Ehepartner beschränkt bleibt. Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger haben überhaupt nichts von den Minijobs, weil ihnen das Minieinkommen durch Transferentzug fast vollständig wieder weggenommen wird. Um also den Arbeitsmarkt in Bewegung zu bringen, muss man an diese Betroffenen denken. Dazu bedarf es einer anderen Politik.

Was stellen Sie sich vor?

Sinn: Das Modell der aktivierenden Sozialhilfe, bei dem der Staat das Arbeitslosengeld II mit einer besseren Hinzuverdienstmöglichkeit ausstattet und zum Ausgleich das Hilfeniveau senkt, wenn man nicht arbeitet. Für den Staat ist dies belastungsneutral. Die aus diesem System abgeleiteten Mindestlohnansprüche wären viel kleiner, und zu niedrigeren Löhnen würden die Unternehmen und privaten Haushalte mehr Jobs zur Verfügung stellen. Wichtig ist: Der Staat zahlt das maximale Geld nicht dann, wenn man nichts tut, sondern nur, wenn man mitmacht.

Plädieren Sie bei den Minijobs für eine Begrenzung in Zeit oder Umfang?

Sinn: Ich würde die Minijobs ergänzen durch die totale Änderung des Arbeitslosengeldes II. Beim Arbeitslosengeld II gibt es im Bereich bis zu 400 Euro durch Transferentzug eine Grenzbelastung von 85 Prozent, darüber hinaus entsteht eine Grenzbelastung von 80 und ab 900 wieder eine von 89 Prozent. In weiten Bereichen kann man also von jedem Euro, den man zusätzlich verdient, nur gut zehn Cent behalten, maximal sind es 20 Cent. Das ist einfach nicht genug. Der Lohn, den man braucht, damit das Arbeiten überhaupt attraktiv wird, ist horrend hoch, nämlich 25 bis 50 Euro pro Stunde - das ist viel mehr, als die Unternehmen zahlen können.

Welcher Weg könnte außerdem weiterführen? Bringt Subventionsabbau den nötigen Spielraum für Steuersenkungen und Investitionen?

Sinn: Viele Unternehmen versuchen, ihr Geld vom Staat statt vom Kunden zu holen. Dadurch werden sie von ihren eigentlichen Aufgaben fortgelenkt, investieren in falsche Projekte und verwenden zu viel Kraft auf das Antichambrieren. Die Subventionen sollten verringert werden. Aber mit dem Kern des deutschen Problems hat das wenig zu tun. Das Kernproblem ist der Arbeitsmarkt. Der funktioniert nicht wegen der Rückwirkungen des Sozialstaats, wegen des Flächentarifvertrags und wegen des Kündigungsschutzes, der die Leute veranlasst, auf ihrem Job zu kleben, statt woanders hin zu gehen, wo sie stärker gebraucht werden. Wenn wir diese Probleme nicht lösen, werden wir mit den Kräften der Globalisierung nicht fertig.

Wie schlägt sich die Regierung Schröder dabei Ihrer Ansicht nach?

Sinn: Gegen die politischen Verhältnisse zeigt sie allen Mut, den man haben kann. Aus ökonomischer Sicht reicht es aber noch nicht.

Da gibt es aber offenbar auch ein Vermittlungsproblem.

Sinn: Ja, ein Vermittlungs- und ein Erkenntnisproblem. Wir haben in Deutschland kein Umsetzungsproblem, denn die Regierung ist bereit, so weit zu gehen, wie die Bevölkerung es mit trägt. Wir haben das Erkenntnisproblem auch nicht bei den Fachleuten und den gut informierten Politikern. Wir haben aber ein Erkenntnisproblem in der großen Masse der Bevölkerung, die überhaupt noch nicht sieht, was die Stunde geschlagen hat.

Wann hätten die Reformen starten müssen, um jetzt besser dazustehen?

Sinn: Man hätte den Sozialstaat in den siebziger und achtziger Jahren erst gar nicht so weit ausbauen dürfen. Ein Instrument wie unsere Arbeitslosenhilfe gibt es praktisch nirgendwo auf der Welt. Überall, außer bei uns, hört das Arbeitslosengeld nach kurzer Zeit auf, und dann muss man sich bewegen. In Deutschland gab es dieses Geld bisher im Prinzip bis zum Zeitpunkt der Pensionierung.

Jeder schiebt die Schuld an der schlechten Lage gern auf den Vorgänger: Die Regierung Kohl schob sie auf die Regierung Schmidt, die Regierung Schröder auf die Regierung Kohl und so weiter. Wo liegt die Crux?

Sinn: Alle haben geschlafen, die Regierung Schröder noch die ganze erste Legislaturperiode lang. Sie hat Reformen, die im Gang waren, in den ersten vier Jahren wieder zurückgedreht. Jetzt hat sie begriffen, wo es langgeht. Die Regierung Kohl hat keine gute Wirtschaftspolitik gemacht und Weichen grundlegend falsch gestellt. Im Zuge der deutschen Vereinigung wurde in wirtschaftlicher Hinsicht so ziemlich alles falsch gemacht, was falsch gemacht werden konnte. Die Regierung Schmidt hat die Staatsschulden von 20 auf 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verdoppelt.

Viele Mittelständler, die nicht länger warten wollen, bis es in Deutschland wieder aufwärts geht, suchen ihr Heil inzwischen im Ausland. Können Sie es ihnen verdenken?

Sinn: Nein, das ist die einzige Überlebenschance angesichts der Wettbewerbsverhältnisse, denen unser Land ausgesetzt ist. Wie sollen sie sonst mit der chinesischen und der anderen ostasiatischen Konkurrenz fertig werden? Für sie ist es ein Glück, dass es Osteuropa gibt. Trotzdem ist das Ganze problematisch, weil ja hierzulande durch die Verlagerung dennoch Arbeitsplätze verloren gehen.

Osteuropa ist ein gutes Stichwort. Wie können deutsche Mittelständler von der EU-Erweiterung profitieren, ohne dass dies zu Lasten des Standorts Deutschland geht?

Sinn: Es ist keine Schädigung des Standorts Deutschland, wenn ein Mittelständler vor schlechten Standortbedingungen flieht. Nicht die Firmen schädigen den Standort, sondern der Sozialstaat, der den Firmen mit seiner Lohnkonkurrenz zusetzt, und die Gewerkschaften. Die Gewerkschaften haben, wie man bei Opel sieht, bei ihrer Tarifpolitik riesige Management-Fehler gemacht, die nun das Kapital nach Schweden und sonst wohin vertreiben. Bessern kann man den Standort nur mit niedrigeren Löhnen. Es muss sich wieder lohnen, Menschen zu beschäftigen, die hier leben. Es kann nicht sinnvoll für eine Volkswirtschaft sein, einen Teil der Menschen nicht zu beschäftigen, die arbeitsfähig sind.

Welche Entwicklungschancen räumen Sie den mittelständischen Unternehmen für das kommende Jahr ein?

Sinn: Mittelständische Unternehmen der Investitionsgüterindustrie können mit einer guten Geschäftsentwicklung rechnen. Der Export wird weiter steigen, wenn auch nicht so stark wie dieses Jahr, und nach der Gemeinschaftsdiagnose der Institute kann damit gerechnet werden, dass auch die inländischen Investitionen ein wenig anziehen werden. Beim privaten Verbrauch und beim Bau sind weiterhin Skepsis angesagt.

Viele Mittelständler beklagen Finanzierungsengpässe. Woher sollen sie das nötige Geld nehmen?

Sinn: Wegen der vielen Konkurse der letzten Jahre ist den Banken das Eigenkapital abhanden gekommen. Sie können nicht mehr so viel Geld ausleihen wie vorher, und ein Risikokapitalmarkt, der Eigenkapital zur Verfügung stellen würde, ist für den Mittelstand häufig nicht vorhanden.

Ist die Angst der Mittelständler vor Basel II begründet oder wird sich das regulieren?

Sinn: Einiges ist inzwischen abgemildert worden: Dass kleineren Firmen eine höhere Risikoklasse zugewiesen wird und sie deshalb höhere Zinsen zahlen müssen, war nicht gerechtfertigt. Die Banken können ja durch Bündelung diese Risiken konsolidieren. So weit ich sehe, ist das Problem aber gelöst. Man steht jetzt vor einem tragbaren Kompromiss, von dem keine Gefahren mehr ausgehen.

Was wäre insgesamt zu tun, damit das Investitionsklima besser wird?

Sinn: Der Mittelstand braucht eigentlich nur den Freiraum, um zu wirtschaften, kurz: mehr Markt. Der Mittelstand lebt vom Markt, wenn der Arbeitsmarkt funktioniert, ist auch der Mittelstand stark.

Wie können diese Firmen besser die Vorteile nutzen, der ihnen immer von Wirtschaftsexperten zugesprochen werden - das schnellere Reagieren auf Erfordernisse des Marktes, das individuellere Handeln?

Sinn: Viele Mittelständler könnten sich schon vor dem Konkurs retten, wenn wir Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen hätten. Wir haben immer noch eine steigende Konkursstatistik, die beängstigt. Wenn sich aber Management und Belegschaft gemeinsam an einen Tisch setzen könnten, um über Lohnsenkungen zu beraten, die den Erhalt des Unternehmens sichern, wäre viel geholfen. Das fiele sicherlich in mittelständischen Betrieben leichter als in Konzernen.

Aber was tut man am besten gegen die lähmende Angst der Deutschen?

Sinn: Die Angst ist sehr heilsam. Nur aus der Angst heraus ist man bereit, die Reformen anzugehen, die notwendig sind, um die Gefahr zu beseitigen. Angst ist auch etwas sehr Natürliches: Wer keine Angst hat, obwohl er welche haben sollte, macht lauter Fehler.

Das Gespräch führte Dieter Römer