Die Eurokrise ist nicht vorbei

Ralph Malisch, Smart Investor, 1. November 2017, S. 22-23

Im Rahmen der Münchner Wirtschaftsgespräche am 11.10. beschäftigte sich Prof. Hans-Werner Sinn, früherer Präsident des ifo Instituts, mit der Fiskalpolitik der EZB und dem Fortgang der europäischen Integration.

Gespenstische Ruhe

Nach Sinns Auffassung solle man sich nicht von der aktuellen Ruhe täuschen lassen: Die Eurokrise sei nur scheinbar vorbei. Jetzt würden die Weichen für die Zukunft gestellt. Im Brexit sieht er eine regelrechte Katastrophe für Europa. Groß­britannien leiste nach Deutschland den zweitgrößten Beitrag zum BIP der EU. Der Wert entspreche dem BIP der 19 (!) kleinsten EU-Länder. Gefahren für den Freihandel gingen nun nicht mehr nur von Trump aus, sondern auch vom Brexit. Für die EU gehörten Personenfreizügigkeit, freier Güterverkehr und freier Kapitalver­kehr untrennbar zusammen. Mit dem Argument, dass es keine Rosinenpickerei geben dürfe, plane man bei der EU eine Beschränkung der Importe aus Großbri­tannien - eine Art Vergeltungsmaßnahme, die weitere Vergeltungsmaßnahmen der Briten nach sich ziehen werde. Dabei sei das EU-Argument ökonomisch falsch. Denn, so Sinn: Freier Güterverkehr, frei­er Kapitalverkehr und Personenfreizügigkeit sind Substitute, die einander ersetzen können. Gerade wenn die Personenfrei­zügigkeit beschränkt werde, brauche man mehr Freihandel und nicht weniger.

Dominanter mediterraner Block

Austretende Länder zu bestrafen entspreche der Denke von Umverteilungssystemen. Sinn dagegen stellt sich Europa als eine Veranstaltung vor, wo alle gerne mitma­chen, kein Europa, in dem die Angst vor weiteren Austritten regiere. Mit dem Aus­tritt Großbritanniens verlieren die freihandelsorientierten Länder zudem ihre Sperr­minorität im Ministerrat. Der mediterrane Block werde dann dominieren. Aus diesem Grund plädiert Sinn dafür, den EU-Vertrag gleichzeitig mit dem Austritt Großbritanniens neu zu verhandeln. Danach werden Veränderungen ungleich schwieriger. Ein weiterer Krisenherd ist Katalonien, wo 90% für einen Austritt aus Spanien gestimmt haben. 16,7% der Katalanen erwirtschaften 20% des spanischen BIP. Es sind die Transfers aus der Region, die zu Spannun­gen führen. Wer glaubt, man könne die Eurokrise über Transfers lösen, der solle sich sehr genau ansehen, was in Spanien passiert.

Ursache der Eurokrise

Mit der Ausschaltung des Wechselkursri­sikos zwischen den Euro-Teilnehmerländern und der Zinskonvergenz waren seinerzeit plötzlich kreditfinanzierte Lohnerhöhun­gen möglich, die weit über der Produkti­vität lagen. Dennoch schien der Euro in dieser Phase zu funktionieren. Mit der Lehman-Krise verloren Banken und Anleger dann aber die Lust, weitere Kredite nach Südeuropa zu vergeben. Die erneute künstliche Vergünstigung der Kredite durch die Rettungsmaßnahmen löste ein keyne­sianisches Strohfeuer beim BIP der betrof­fenen Länder aus, behinderte dort aber jene Sektoren, die im internationalen Wettbe­werb standen - sie blieben zu teuer. Die falschen relativen Güterpreise sind nach Einschätzung Sinns das Kernproblem Eu­ropas. Es gehe um das richtige Preisniveau für die gebotene Produktivität und Qua­lität. Europa habe ausdrücklich kein Kon­junkturproblem. Daher bekomme man das Problem auch nicht durch noch mehr Geld in den Griff. Im Gegenteil. Die Wettbewerbsfähigkeit stelle man nur durch den Verzicht auf Geld her. So müsse das Lohn­niveau in Griechenland, Spanien und Por­tugal um ca. 30% sinken, um wieder wett­bewerbsfähig zu werden. Weil die Verlockung durch niedrige Zinsen aber viel stärker war als die rechtliche Schranke („gehärteter Stabilitätspakt"), die Angela Merkel glaubte, errichtet zu haben, stieg die Verschuldung weiter an. Bis auf lrland, Malta und Deutschland liegen alle anderen Länder heute noch weiter über der Staats­schuldengrenze von 60% des BIP als am Höhepunkt der Krise im Jahr 2012.

Sonderfall Irland

Dagegen habe Irland seinen Krisenhöhe­punkt bereits im Jahr 2006 erreicht. Da­nach war es das einzige Land, das signifi­kant intern abgewertet hat. Dieser Prozess endete 2010 mit der Errichtung des ESFS. Davor hatte Irland sehr viel getan, um sich selbst zu helfen. Es gab keine Rettungsak­tionen der EZB. Man half sich durch Lohn-­ und Preissenkungen. Als der Rettungs­schirm zur Verfügung stand, hörte man mit den Reformen auf. Die Lebenslügen der Politiker sagen, der irische Erfolg sei das Werk des Rettungsschirms gewesen, tatsächlich war es genau umgekehrt. Man hilft sich nur solange selbst, solange man keine Alternative hat.

Vier trostlose Optionen für die Eurozone

Anschließend skizzierte Sinn vier trostlo­se Optionen für die Eurozone: 1) Dauer­hafte Transferunion a la Macron 2) De­flation in der Peripherie (Austerität), woran die Gesellschaften dort zerbrechen können. 3) Nachinflationierung des Nor­dens, was der Politik der EZB entspreche, auch wenn dies offiziell nicht zugegeben werde. Bei dieser durchaus rationalen Stra­ tegie werden die Sparer ihr Geld verlieren. 4) (Temporäre) Austritte aus dem Euro, wodurch die Wettbewer bsfähigkeit auf­grund der Abwertung in Minuten wieder­ hergestellt würde . Das entspreche dem Plan, den Varoufakis vorbereitet habe und den auch Schäuble wollte. Eine fünfte Option, da dürfe man sich nicht täuschen, gebe es nicht.

Negativrekord

Nicht nur die EZB, die als Erste als Rette­rin auftrat, auch die nationalen Notenban­ken haben die Regeln sehr frei interpretiert und auf lokaler Ebene Geld geschaffen. Dadurch entstand das Schuldverhältnis im Eurosystem, die TARGET2-Schulden, die die privaten Kredite ersetzt haben. Im Sep­tember 2017 erreichten die deutschen TARGET2-Salden einen neuen Spitzenwert von 879 Mrd. EUR. 83% des bisherigen Rettungsvolumens werden unter diversen Titeln von der EZB verantwortet, die eigentlich Geldpolitik machen soll, tatsächlich aber fiskalische Rettungspolitik betreibt. Lediglich 17% der Volumina wurden von den Parlamenten abgesegnet - ein Demo­kratieproblem größerer Art, so Sinn.

Wohin steuert Europa?

Es sei kein Zufall, dass der französische Ministerpräsident Macron mit der Vor­stellung seines Plans bis nach der deutschen Bundestagswahl gewartet habe. Sein „Eu­ropa der zwei Geschwindigkeiten" umfasst sechs Kernvorschläge: 1) Eurobudget mit eigenem Finanzminister, eigener Eurosteu­er und Eurobonds. 2) Europäische Asyl­behörde als Reaktion auf die Krise. 3) Gemeinsamer Mindestlohn, der vermutlich in der Nähe des französischen Niveaus liegen würde. 4) Gemeinsame Mindestsi­cherung aus einem europäischen Sozial­fonds. 5) Harmonisierte Körperschaftsteu­ern. 6) Gemeinsame Armee. Macron gehe es darum, die Eurozone zu einer eigenen Staatlichkeit weiterzuentwickeln, was zwar durch Kommunikationsprofis geschickt verkaufe werde, aber nach Sinns Auffassung einer Teilung Europas entspreche. Junckers „Lösung", eine noch weitere Ausdehnung des Euroraums, würde zu einer viel grö­ßeren Krise führen, bestehend aus infla­tionären Kreditblasen und der dauerhaften Finanzierung nicht mehr wettbewerbsfä higer Länder. Das sei der Unterschied zwischen einer kurzfristigen, Finanzkrisen vermeidenden Politik und einer langfristig orientierten.

„Holländische Krankheit“

Der Weg in die Transferunion bringe Süd­europa nämlich die „Holländische Krankheit“. Darunter verstehen Ökonomen jenen Mechanismus, als Holland durch Gasfunde Löhne oberhalb der Produktivität bezahlte, wodurch es sich aus den Märkten für im Wettbewerb stehende Waren herauspreiste. Grundsätzlich gebe es zwei Modelle: eine Schuldensozialisierung  nach dem Motto „Wir sind alle Brüder und Schwestern", was aber die Spannungen zwischen Schuldnern und Gläubigern tatsächlich immer weiter verschärfe - ein Fehler, den auch die USA in ihrer Anfangsphase gemacht haben. Die Alternative ist das Haftungsprinzip als marktbasierte ,,Auflaufbremse". Die Angst des Gläubigers vor der Überschuldung sei­nes Schuldners werde zum eigentlich sta­bilisierenden Element.

Ein anderes Europa

Abschließend skizzierte Sinn ein anderes Europa: Dieses sei durch eine offene Wäh­rungsunion gekennzeichnet, aus der ein Land auch wieder austreten könne, wenn es innerhalb der Union nicht zurechtkom­me. Zweites Element ist eine Konkursord­nung für Staaten, wobei vielleicht die Vorstellung helfe, dass Griechenland al­leine im Euro bereits dreimal pleite gewe­sen ist. Drittens hat die Tilgung der TARGET2-Salden durch die Hergabe gut verzinslicher, pfandbesicherter Wertpapie­re zu erfolgen. Dann höre die Selbsthilfe per Druckerpresse in den betroffenen Län­dern ganz von selbst auf und es gebe auch wieder Zinsunterschiede. Nur in einem Punkt konnte Sinn dem Plan Macrons etwas abgewinnen: eine europäische Si­cherheitspartnerschaft mit einer gemein­samen Armee.