„Wir sollten uns als bedrohte Länder Europas zusammenfinden und eine gemeinsame Armee schaffen.”

Lagebild Media, 24. November 2025.

Die Lösung der aktuellen Beziehungen zwischen den USA und Europas liegt in der europäischen Verteidigungsunion mit nuklearen Fähigkeiten. Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn warnt im exklusiven Interview mit Lagebild Sicherheit vor einer „extrem gefährlichen“ Weltlage und fordert einen radikalen Schritt: die Aufgabe des Gewaltmonopols durch die europäischen Nationalstaaten zur Gründung eines europäischen Verteidigungsbundes mit gemeinsamen Streitkräften und nuklearen Fähigkeiten unter demokratischer Kontrolle. Sanktionen hält er für wirkungslos, entscheidend sei der konsequente Aufbau militärischer Stärke. Nur ein vollendet geeintes Europa könne seine Sicherheit selbst garantieren – jetzt sei dieser Rockzipfel der Geschichte zu ergreifen. Das Wort Kriegswirtschaft schreckt ihn aus ökonomischer Sicht dagegen nicht.

Lagebild Media: Wie beurteilen Sie die aktuelle globale Gesamtsituation insbesondere im wirtschaftlichen Zusammenspiel der Großmächte?

Hans-Werner Sinn: Extrem gefährlich, speziell für Europa. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht unter die Räder kommen. Die Großmächte machen mit uns, was sie wollen – Putin sowieso, auch China und neuerdings auch die USA, unsere großen Freunde. Die Sicherheitslage durch den Krieg in der Ukraine und die fehlende Bereitschaft der Amerikaner, voll und ganz für unsere Sicherheit zu sorgen, zwingt Europa dazu, sich zusammenzuschließen und den Schulterschluss zu üben. Dies ein Rockzipfel der Geschichte, den wir jetzt ergreifen sollten.

Was meinen Sie mit dem Begriff „Rockzipfel der Geschichte“?

Als Kohl die Möglichkeit der deutschen Einheit ergriff und in Windeseile umsetzte, hatte er den Rockzipfel der Geschichte ergriffen.Ich glaube, wir befinden uns heute wieder in einer solchen Situation. Wir sollten uns als bedrohte Länder Europas zusammenfinden und eine gemeinsame Armee schaffen, unter einem einheitlichen Oberkommando, demokratisch kontrolliert. Nicht durch die aufgrund der starken Minderheitenrechte entscheidungsunfähige EU, sondern durch eine neue Verteidigungsregierung, die wir dafür aufstellen, mit einem Verteidigungsminister oder gar -präsidenten, der das Oberkommando über die europäischen Streitkräfte hat – und zwar ohne Wenn und Aber. Die Staaten Europas müssen sich in einem neuen Bundesstaat zusammenschließen, dessen begrenzte Aufgabe die Organisation der Verteidigung ist und keine anderen Aufgaben übernimmt. Das wäre dann getrennt von der EU, denn die EU hat auf Vertragsbasis keine rechtliche Kompetenz für Verteidigungsfähigkeit.

Wäre es aus Ihrer Sicht sinnvoll, die genuin staatliche Aufgabe der Staatsgewalt teilweise aus den Nationalstaaten herauszudelegieren?

Ja, genau. Die Souveränität muss der gemeinsamen Verteidigung geopfert werden. Das ist ein Ziel, welches viele europäische Politiker seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgt haben. Adenauer wollte es, ebenso René Pleven aus Frankreich. Später verfolgte auch Kohl dieses Ziel und erklärte während seiner Amtszeit die Verteidigungsunion, nicht die Währungsunion, zum Hauptziel. Er war mit Mitterrand 13 Jahre parallel im Amt; in dieser Zeit haben sie im Hintergrund intensiv über die Gestalt des neuen Europas verhandelt. Mitterrand wollte eine Währungsunion, Kohl hingegen eine Verteidigungsunion. Die Franzosen beklagten, dass die Deutschen nichts anderes als eine Verteidigungsunion im Sinn hatten, und forderten als Gegenleistung eine Währungsunion. Mitterrand zeigte sogar die Bereitschaft, die Verteidigungsunion inklusive der Atomkraft als gleichgewichtig zur D-Mark anzuerkennen, und sagte, dass die deutsche Mark die Atomwaffe der Deutschen sei. Damit deutete er praktisch einen Deal an: Deutschland gibt die D-Mark, Frankreich ihre militärischen Kapazitäten einschließlich der Atomstreitmacht. Tatsächlich wollten die Franzosen dies aber nicht wirklich; sie wollten vor allem die D-Mark.

Also ist der Deal aus Ihrer Sicht ohnehin schlicht unvollendet?

Ja.

Wie beurteilen Sie den Begriff der Kriegswirtschaft? Kann eine Marktwirtschaft eine Kriegswirtschaft sein?

Natürlich. Käufer in einer Kriegswirtschaft ist eben der Staat, und wenn die Preise gut sind, dann wird die Industrie auch produzieren.

Wir haben ja außerdem noch keine Kriegswirtschaft – hoffentlich wird es auch nie nötig sein. Wir haben keinen Krieg; wir wollen den Krieg ja gerade durch Abschreckung verhindern. Diese Abschreckung wurde in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt, besonders in der Ära Merkel. Sie erhielt nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit, weil man dachte, der große Frieden sei ausgebrochen. Heute wissen wir, dass dies ein Fehler war.

Es ist dringend notwendig, die Bundeswehr zu ertüchtigen, sodass sie zumindest wieder auf das frühere Niveau kommt – sowohl was die Zahl der Truppen angeht als auch hinsichtlich moderner Waffen, die heute natürlich leistungsfähiger sind als damals. Wir müssen eine Rüstungsproduktion aufbauen. Der Kanzler hat erklärt, dass Deutschland das größte Heer in Europa stellen will. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas, also muss es auch das größte Heer haben. In der Bevölkerung wurde dies nicht immer positiv aufgenommen, doch es ist wichtig zu betonen, dass dieses Heer in die europäische Kooperation eingebracht werden muss.

Bisher ist die europäische Kooperation in der Verteidigung noch nicht überzeugend. Besonders im Hinblick auf Frankreich: Wenn Frankreich seine Atomwaffen einsetzt, sagt Macron, man sei bereit, die anderen zu schützen, aber der rote Knopf verbleibe in jedem Fall im Elysee-Palast, und die anderen Staaten hätten keine Mitsprache. Das ist einfach nicht überzeugend. Wir sehen auch an den Amerikanern, dass sie ihren eigenen Atomschutz für Europa in Frage stellen, sobald es brenzlig wird. Jahrzehntelang wähnten wir uns unter dem amerikanischen Atomschirm sicher. Kaum kommt ein echter Krieg in Europa zustande, zögern sie jedoch, sich stärker zu engagieren.

Halten Sie deutsche nukleare Fähigkeiten für sinnvoll?

Nein, es muss eine europäische Lösung sein.

Unter der Führung Frankreichs?

Nein, keinesfalls. Wir sind gleichberechtigte Bürger in Europa. Dies muss durch eine gemeinsame, demokratisch gewählte Regierung entschieden werden. Dafür müssen die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden. Wir brauchen ein Verteidigungsparlament und die Gründung eines Bundesstaates, dessen Aufgabe auf die Verteidigung beschränkt ist.

Macht es Ihnen als Ökonom schlaflose Nächte, wenn der Staat vorgibt, was zu tun ist, und die Wirtschaft fragt: Warum sollten wir das als Privatwirtschaft umsetzen und die Preise dabei steigen?

Der Staat muss die Preissteigerung akzeptieren, um Ressourcen in die entsprechenden Sektoren zu lenken. Wenn der Staat Geld in die Hand nimmt, funktioniert die Marktwirtschaft über diesen Mechanismus. Wir haben keine staatlichen Diktate, die Leistungen der privaten Firmen anordnen können. Vielmehr kauft der Staat bestimmte Rüstungsgüter in der Privatwirtschaft und treibt dadurch die Preise hoch. Steigen die Preise, fließt Kapital in diesen Sektor, um Gewinn zu erzielen. Auch Arbeitskräfte werden in diesen Bereich gelenkt, weil dort höhere Löhne gezahlt werden.

Die Industrie beklagt aber vielfach die mangelnde Planbarkeit mit dem Staat als Abnehmer.

Natürlich muss die Politik entsprechende Verträge schließen und dann auch einhalten. Dieses Geld muss sie nun einfach bereitstellen, das ist leider so.

Halten Sie das Ganze für nachhaltig, wenn das in die Rüstungsindustrie fließende Geld aus Schulden kommt?

Rüstung ist in gewisser Weise nie nachhaltig – das ist das Dilemma. Letztlich werden Güter produziert, die verbraucht werden und verschwinden, was einen materiellen Wohlstandsverlust darstellt. Gleichzeitig ist die Welt so beschaffen, dass man Sicherheit gegenüber unfreundlichen Nachbarn nur auf diese Weise erkaufen kann. Es ist bedauerlich, dass es nach dem Fall der Sowjetunion so weit gekommen ist; das hätte nicht sein müssen, es wurden viele Fehler gemacht. Aber nun ist die Situation, wie sie ist, und daran können wir nichts ändern. Europa muss sich als mächtiger Gegenpart zu Russland etablieren und es abschrecken, die Fühler ins Baltikum oder andere Gebiete auszustrecken.

Seit 2022 gibt es 19 Sanktionspakete gegen Russland. Ist dies der richtige Weg, um die russische Aggression zu stoppen?

Sanktionen sind nicht das richtige Mittel; man muss militärische Kapazitäten aufbauen. Es besteht eine latente Kriegsgefahr, die nicht zu bestreiten ist. Sanktionen mögen momentan eine Möglichkeit sein, aber bedenken Sie: Sie sind im Wesentlichen unter dem Druck der Amerikaner zustande gekommen und so ausgestaltet, dass sich Europa dabei selbst schädigt. Wir sollen also kein Gas und Öl mehr aus Russland beziehen – woher sollen wir es dann beziehen? Aus Amerika! Interessanterweise erstrecken sich die Sanktionen, die die Amerikaner gefordert haben, nicht auf angereichertes Uran, das sie selbst in großem Umfang aus Russland beziehen. Das ist die Paradoxie: In diesem Bereich gibt es keine Sanktionen, weil man sich selbst nicht bestrafen will.

Glauben Sie, es gibt Sanktionen, die Russland so stark treffen könnten, dass es seine militärischen Handlungen einstellt?

Das ist illusorisch. Die Welt ist groß, Russland wendet sich nach China und Asien, um dort Wirtschaftskontakte zu suchen. Die Vorstellung, dass wir Russland mit Sanktionen zu Vernunft bringen könnten, halte ich nicht für überzeugend. Das hat bisher nicht funktioniert. Man dachte, man könne die russische Wirtschaft auf diese Weise schwächen, tatsächlich wächst sie besser denn je. Die Chinesen springen bereitwillig in die Bresche und ersetzen Westeuropa – sie haben nur auf diese Gelegenheit gewartet.

Glauben Sie, dass Russland dieses Niveau der Interaktion mit China aufrechterhalten kann?

Ja, sicher. Handel lebt immer von der Unterschiedlichkeit, da sie eine Spezialisierung der Länder ermöglicht. Russland kann sich auf den Export von Ressourcen spezialisieren, während ein anderes Land sich auf die Verarbeitung konzentriert – das waren wir Europäer, insbesondere die Deutschen, und das wird jetzt China sein, wenn es so weiterläuft.

Was würden Sie der Bundesregierung jetzt empfehlen?

Das, was sie vorhat: aufrüsten. Das ist zunächst einmal notwendig.

Mit der Verteidigung als Ausnahme von der Schuldenbremse?

Ich bin zwar grundsätzlich gegen Verschuldung, aber nun ist die Situation so, wie sie ist. Das Manöver mit dem alten Bundestag fand ich nicht gut, da die Aufnahme von Schulden nach dem alten Grundgesetz in einem Notfall mit einfacher Mehrheit hätte beschlossen werden können. Das Grundgesetz sah im Notfall die Bildung von Sondervermögen vor – und ein Notfall ist ja offenkundig. Die Zwei-Drittel-Mehrheit diente allein dazu, den Beifang zu organisieren, also Geld auch für andere Zwecke abzuzweigen, die nichts mit der Bedrohungslage zu tun haben. Jetzt, wo das Geld zur Verfügung steht, sollte es konsequent für die energische und effiziente Aufrüstung Deutschlands eingesetzt werden. Möglichst so, dass die eigene Industrie in die Lage versetzt wird, diese Rüstungsgüter zunehmend selbst herzustellen. Kurzfristig geht es wohl jedoch nur über Einkäufe in Amerika.

Welche Anreize könnten für die Wirtschaft geschaffen werden, damit sie in die Aufrüstung investiert?

Der Staat muss Verträge anbieten, die für die Firmen attraktiv sind. Das funktioniert wie bei jedem normalen Marktgeschäft: Wenn ich etwas nur einmal von einem Lieferanten kaufe, kann er keine Kapazitäten aufbauen. Es braucht einen glaubhaften und sicheren Rahmenvertrag, dann produziert er. Reichen die angebotenen Kapazitäten nicht aus, werden die Firmen dies signalisieren und es wird nicht geliefert. Ich sehe darin kein grundsätzliches Problem. Der Staat muss gegebenenfalls mehr bieten; wenn der Preis nicht hoch genug ist, wird der Lieferant nicht liefern. So funktioniert der Marktprozess.

Sie sprechen von der eigenen Industrie. Sollten Rüstungsprojekte also doch eher national durchgeführt werden?

Nein. Es wäre sinnvoll, Rüstungsprojekte in Europa gemeinsam durchzuführen. Aber genau darin liegt das Problem: Schaffen die Europäer das? So ohne Weiteres nicht! Es gibt Eifersüchteleien, jeder möchte seine Industrie berücksichtigt sehen. Das führt dazu, dass die EU selbst Hunderte von Milliarden an Krediten aufnimmt, um diese an die einzelnen Länder zu verteilen, damit sie ihre Armeen aufrüsten können. Das halte ich für problematisch. Erstens: Die Verschuldung ist nicht ideal, denn man könnte auch die Steuern erhöhen – wann, wenn nicht jetzt, in dieser „Blut, Schweiß und Tränen“-Situation, in der alle einen Beitrag leisten müssen. Zweitens halte ich es nicht für optimal, nationale Streitkräfte aufzurüsten, weil es uns in die Vergangenheit zurückwirft. Richtig ist es, eine gemeinsame europäische Streitmacht zu finanzieren.

Also meinen Sie, die Streitkraft und die Rüstung sollte gemeinsam aufgebaut werden?

Ja. Wir werden zunächst nicht darum herumkommen, diese Streitmacht mit amerikanischen Waffen auszurüsten, da diese momentan führend sind. Gleichzeitig sollten wir jedoch eigene Systeme entwickeln, sodass wir zunehmend eigene Waffentechnik bereitstellen können. Rheinmetall steht an vorderster Front. Aber auch viele andere Unternehmen stehen zur Verfügung. Z. B. produzieren Hensoldt und Helsing Sensoren und Drohnen; Diehl und Trumpf könnten Laserkanonen zum Abschuss von Drohnen bauen. Solche Fähigkeiten haben wir durchaus – und diese Gelegenheit sollten wir nutzen, um sie weiter aufzubauen.

Ist dieser Konflikt ein Momentum um sich auf mehr Souveränität gegenüber den USA, China und Russland zu besinnen?

Ja, genau. Es geht um Souveränität – sowohl gegenüber Feinden wie Russland als auch gegenüber anderen Großmächten wie China und selbst dem Freund USA. Der Freund USA behandelt uns derzeit wie einen Vasallen. Andere Länder des Westens werden ebenfalls nicht besser behandelt, wenn man den Westen bis hin zu Japan betrachtet.

Müssen wir also Wohlstand gegen wieder mehr Würde tauschen?

Würde ist der falsche Begriff. Es geht um Sicherheit.

Ich formuliere es anders. Müssen wir uns mehr „gerade machen“ und dafür Wohlstandverluste in Kauf nehmen?

Ja. Ein Vasall ist nicht sicher, wenn seine Sicherheit davon abhängt, wie lange der Herr es wünscht und er hinreichend untertan ist. Das kann nicht die Lösung sein. Deshalb ist es besser, die Aufrüstung nicht auf nationaler Ebene zu betreiben, sondern gemeinsam europäisch. Ein solches gemeinsames Europa benötigt ein echtes politisches Mandat, das belastbar ist – und das kann nur durch die Schaffung eines neuen europäischen Staates gewährleistet werden, der sich auf das Thema Verteidigung konzentriert. Denn die Definition eines Staates ist das Gewaltmonopol nach außen und nach innen.

Bei der europäischen Integration wurde dies lange missachtet. Man dachte, die Schaffung einer gemeinsamen Kasse in Form des Euro führe automatisch zu einer europäischen Staatenbildung. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil: Mit der Einführung des Euro haben wir die D-Mark vergemeinschaftet, und erhalten haben wir dafür nicht die politische Union, sondern Frankreichs Billigung der deutschen Vereinigung. Die war wichtig genug, aber wir hätten sie auch ohne die französische Zustimmung erhalten. Immerhin entstand sie durch eine Revolution in Berlin. Die eigentliche Gegenleistung, die Kohl ursprünglich erwartet hatte, war die Vergemeinschaftung der französischen Armee inklusive der Atomwaffe, denn das wäre dann eine echte politische Union gewesen. Die geschickte Taktiererei von Mitterrand, der dabei war, Widerstand gegen die deutsche Vereinigung aufzubauen - doch im Grunde dafür gar keine Mittel hatte -, hat verhindert, dass wir der politischen Union näherkamen. Mitterand hatte Außenminister Genscher, wie es aus den Attali-Protokollen klar wird, am 30. November 1989, zwei Tage nachdem Kohl seinen 10-Punkte-Plan veröffentlich hatte, sogar mit Krieg gedroht, wenn Deutschland sich vor der Zustimmung zur Währungsunion vereinigen würde. Man glaubt es kaum, aber so ist es dokumentiert.

Mit welchen Entscheidungen hätte man die russische Aggression verhindern können?

Der Versuch, die Ukraine in die NATO zu integrieren, war meiner Ansicht nach zu weitgehend. Wir können von Glück sprechen, dass es gelungen ist, die osteuropäischen Länder – die mit Ausnahme der baltischen Länder nicht in der UdSSR waren – in den Westen zu ziehen, sodass sie nun in der EU und der NATO sind. Die Russen haben dies zähneknirschend zur Kenntnis genommen und hätten es akzeptiert. Aber auch noch die Ukraine einzubeziehen ließ das Fass aus der Sicht Russlands überlaufen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten als Nachfolgeorganisation gegründet, bestehend aus Russland, Weißrussland und der Ukraine. Dieses Gebilde durch das Angebot, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, auflösen zu wollen, war aus meiner Sicht ein großer historischer Fehler. Frankreich und Deutschland waren ja auch nicht dafür. Die Entscheidung dazu fiel in Washington, das an dieser Stelle seine historischen Möglichkeiten überschätzt hat, wenn es nicht sogar ein Interesse daran hatte, die Annäherung zwischen Westeuropa und Russland nach dem Untergang der Sowjetunion zu verhindern. Man denke nur an die Wolfowitz-Doktrin.

Man hätte hier also nicht weiter gehen sollen als eine Neutralitätsstellung?

Ja, das wäre ein möglicher Puffer gewesen. Man hätte es der Geschichte überlassen können. Meiner Ansicht nach war es eine Angelegenheit zwischen der Ukraine und Russland, die zu klären war – der Westen hätte sich nicht einbringen sollen. Damit hat Putin jedoch nicht moralisch das Recht, die Ukraine anzugreifen – das ist ein ganz anderes Thema.

Wenn man sich fragt, welche alternativen Szenarien es gegeben hätte, glaube ich, dass es möglich gewesen wäre, ohne das Angebot an die Ukraine, gemeinsam mit dem Block der GUS-Staaten eine friedliche und für alle Seiten gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung zu gestalten. Russland lag wirtschaftlich am Boden. In seiner Rede im Bundestag 2001 bot Putin die Gründung einer Wirtschaftsunion und Freihandelszone an. Zwar sprach er in dieser Rede nicht explizit von Lissabon bis Wladiwostok, verwendete diesen Vergleich aber in Gesprächen am Rande. Meiner Ansicht nach hätte man diesem Ansatz folgen sollen, im beiderseitigen Interesse: Für Westeuropa, um Rohstoffe zu erhalten, und für Russland, um Fertigprodukte zu bekommen. Es hätten sich große Investitionschancen für die deutsche Industrie ergeben, die bereits in hunderten Unternehmen in Russland investiert hatte. Das hätte eine prosperierende und erfolgreiche Entwicklung sein können.

Alles wurde jedoch durch den Versuch zerstört, die Ukraine in die NATO zu holen. Für die Russen hätte dies bedeutet, dass Sewastopol, der einzige eisfreie Hafen, den Russland nutzen konnte, in die Hände der NATO gefallen wäre. Dass die Russen darauf wütend reagierten, ist nachvollziehbar. Nochmal: Das entschuldigt den Angriff auf die Ukraine nicht, erklärt aber, warum die russische Aggression ausgelöst wurde. Das ist ein Unterschied: Es erklärt das Handeln, ohne es zu rechtfertigen.

Hat man da einen Rockzipfel-Moment verpasst?

Ja.

Dann wenden wir uns wieder der Lösung zu und werden kreativ. Angenommen Sie hätten einen Anruf frei, um das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa zu erreichen – Wen würden Sie anrufen und überzeugen wollen?

Denkt lange nach. Die Kraft dazu hätte Macron, aber der will es nicht. Man sollte also nicht auf ihn warten. Ich würde den NATO-Generalsekretär beauftragen, so etwas zu organisieren – im Rahmen der NATO. Eine Teilintegration der europäischen Staaten, die in der NATO sind, inklusive Großbritannien, wäre meiner Ansicht nach denkbar. Aber ich würde noch nicht von den Vereinigten Staaten von Europa sprechen, sondern vom Europäischen Bund. Er hätte, wie ich in meinem Buch darlege, schon den Charakter eines Staates, weil er über eine demokratisch von einem Verteidigungsparlament kontrollierte Regierung verfügt. Doch hätte diese Regierung keine andere Aufgabe, als die Verteidigung zu organisieren. Sie käme mit der EU nicht ins Gehege, weil die kein rechtliches Mandat in Verteidigungsfragen hat, und im Übrigen wegen ihres übermäßig komplizierten Entscheidungssystems außerstande wäre, die Verteidigung zu organisieren. Ein Problem wäre auch, dass die EU nicht demokratisch nach dem Prinzip one-person-one-vote organisiert ist. Das aber ist bei Fragen von Leben und Tod unerlässlich.

Sie denken an eine Art Bündnis innerhalb der NATO?

Ja, genau. Eine Art europäischer Bundesstaat, der innerhalb der NATO seine Kernaufgabe der Staatsgewalt ausübt. Die 50 amerikanischen Bundesstaaten sind ebenfalls durch eine Regierung in der NATO vertreten. Perspektivisch hätte man so die Chance, dass Europäer und Amerikaner in der NATO gleichwertig agieren. Mark Rutte könnte dies sehr gut im Einklang mit seinem Auftrag für die NATO koordinieren.

Nun haben wir die Gedanken spielen lassen. Wie realistisch ist die Umsetzung Ihrer Idee?

Ob es dazu kommt, hängt von Putin ab. Im Moment sind die Europäer nicht bereit, diesen Schritt zu gehen – da habe ich keine Illusionen. Aber wenn sich der Krieg weiter hinzieht und die Russen weiterhin erfolgreich sind – ich sehe vorläufig nicht, wie wir das verhindern können –, kann sich die Auffassung der Westeuropäer schlagartig ändern. Man stelle sich nur einmal vor, Russland erobert die Ukraine und fordert hernach die „Befreiung“ der eine Million Russen in den baltischen Ländern. Es fängt an zu sticheln, indem es „versehentlich“ die ersten bewaffneten Drohnen dorthin schickt oder wieder seine „grünen Männchen“ wie bei der Annexion der Krim. Spätestens dann dürfte jedem klar sein, dass Handlungsbedarf besteht. Dann wird die Bereitschaft gegeben sein, einen engen militärischen Verbund der West- und Mitteleuropäer zu bilden.

Nichts ändert sich so schnell wie die allgemeine Stimmung in solchen Fragen, wenn sich die Grundvoraussetzungen ändern. Das lehrt die Geschichte. Schauen wir auf die Französische Revolution: Die Adeligen haben bis zum letzten Tag nicht geglaubt, dass eine Revolution bevorsteht. Wer hätte vor dem Sommer 1989 in Deutschland gedacht, dass die Mauer fällt und die Menschen die Mauer mit Tausenden von Hämmern zertrümmern? Noch einen Monat vor der Erstürmung der Mauer hätte das kaum jemand für möglich gehalten. Der Empfindungslage der Politiker und der medialen Öffentlichkeit von heute wohnt keinerlei prophetische Kraft inne. Wir haben jetzt die Gelegenheit, die Geschichte am Rockzipfel zu packen. Wir müssen erkennen, dass dies so ist, und eine entsprechende Diskussion in diese Richtung führen. Dann wird sich etwas entwickeln.

Erfolgen diese Erkenntnisse erst, wenn konventionelle Angriffe auf das Baltikum stattfinden, oder muss die Bedrohung noch näher an die politischen Entscheider in Frankreich und Deutschland heranrücken?

Wenn wirklich das Baltikum oder die Südflanke der NATO angegriffen wird, sind wir an diesem Punkt. Ich hoffe jedoch, dass man vorher klug genug handelt. Am besten wäre es, bereits jetzt vorbeugend Maßnahmen zu ergreifen. Meine Hoffnung und meine Empfehlung stimmen jedoch nicht unbedingt mit meiner Prognose überein. Ob also der Europäische Bund kommen wird, kann ich Ihnen nicht sagen. Nötig ist er jedoch.

Herr Professor Sinn, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten für Lagebild Sicherheit Dr. Christian Hübenthal und Alexander Gerhardt.

Das Interview entstand mit dem jüngst publizierten Buch von Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn „Trump, Putin und die Vereinigten Staaten von Europa“, erschienen im Herder Verlag.

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