Goethe, Gates und Greencard

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Markt und Mittelstand 02 / 2001, S. 14
Vita: Professor Hans Werner Sinn leitet das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München. Zuvor lehrte er Volkswirtschaft und Finanzwissenschaft an den Universitäten Mannheim, München, Münster und Western Ontario in Kanada. Der 52-jährige Westfale profilierte sich vor allem als Steuer- und Rentenexperte. Auch die Bildungsökonomie zählt zu seinen Schwerpunkten.

»Derzeit fehlen in Deutschland etwa 50 000 Computerspezialisten, doch auch Unternehmer in anderen Branchen suchen händeringend Mitarbeiter. Der Mangel an Fachkräften lässt sich nur kurzfristig durch Zuwanderung beheben. Mittelfristig besteht die einzig echte Alternative darin, eigenen Nachwuchs aufzubauen. Verdoppelten sich die derzeitigen Ausbildungszahlen bei den IT-Lehrberufen und bei den Informatikabschlüssen an den Hochschulen, kämen jährlich so viele IT-Spezialisten auf den Arbeitsmarkt, wie die Regierung aus dem Ausland einwandern lassen möchte. Nur wenn Unternehmer und Bildungspolitiker sofort damit beginnen, das Ausbildungs- und Studienangebot auszuweiten, lassen sich die Engpässe innerhalb weniger Jahre beseitigen.

Abgesehen von diesen praktischen Überlegungen, deckt die Diskussion um die Greencard eine peinliche Wahrheit auf: Deutschland hat seine Jahrhunderte währende Führungsposition in naturwissenschaftlichen Disziplinen verspielt. Längst ziehen deutsche Nachwuchswissenschaftler zu Tausenden nach Amerika oder kehren nach ihrer Ausbildung an einer amerikanischen Uni nicht mehr nach Deutschland zurück. Schließlich sind die US-Gehälter höher und die Entwicklungsfreiräume größer als in der Bundesrepublik. Demnach ist das Problem nicht der beschränkte Zuzug ausländischer Spezialisten, sondern die Abwanderung eigener Experten. Wie gravierend sich dies auswirkt, zeigt eine Statistik: Was den Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am Sozialprodukt angeht, belegt die Bundesrepublik unter allen 27 OECD-Ländern zusammen mit Spanien den fünftletzten Platz. Unter den EU-Ländern nehmen die Deutschen den drittletzten Platz ein.

Noch immer sind die deutschen Ausbildungsprogramme viel zu stark auf die alte Ökonomie ausgerichtet sowie auf Beschäftigung in Abhängigkeit. Kaum eine Bildungsinstitution regt ihre Absolventen zu unternehmerischem Denken an. Nur sehr zäh setzen Bildungsverantwortliche neue Anforderungen des Arbeitsmarkts in entsprechende Lehrinhalte um.

Hinzu kommt: Politiker profilieren sich lieber damit, die Scheinselbständigkeit zu beseitigen, als die Voraussetzungen für wirkliche Selbständigkeit zu verbessern. Dabei spielt diese in der neuen Ökonomie mit ihrem hohen Anteil an Dienstleistungen eine herausragende Rolle. Als wäre die Situation nicht verfahren genug, blicken in einem unsinnigen Gelehrtenstreit Geisteswissenschaftler auf Naturwissenschaftler herab. Dies beginnt an den weiterführenden Schulen. Hier predigen Philologen noch immer Latein statt Laptop und Goethe statt Gates. Ein Irrtum, der auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland geht.

Wiederveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Markt und Mittelstand.