Die wichtigste Lehre aus dem Brexit

Hans-Werner Sinn

Project Syndicate, 29.07.2016

MÜNCHEN – Nach der Präferenz für Unabhängigkeit an sich war die Migration das bei weitem wichtigste Thema, das die Austrittsbefürworter umtrieb. So zeigt es eine Umfrage von YouGov, die am Tag des Referendums durchgeführt wurde.

Manche sehen in dem Verhalten der Briten Fremdenfeindlichkeit und verorten sie in einer unmoralischen rechten Ecke. Sie haben die Natur des Problems jedoch nicht verstanden. Die Briten sind dank ihres Commonwealth eines der weltoffensten Länder überhaupt. Gerade ihnen Xenophobie vorzuwerfen ist absurd.

In Wahrheit ist das Votum eine berechtigte Kritik an der Konstruktion der Europäischen Union, die auf weitgehend offenen Grenzen nach außen und eine Kombination aus Freizügigkeit und Inklusionsprinzip nach innen basiert. Die EU sollte das britisches Misstrauensvotum zum Anlass nehmen, ihre Migrationsregeln grundlegend zu ändern. David Cameron hatte nämlich Recht mit seinem Ansinnen. Die EU hätte ihm bei der Einschränkung des Inklusionsprinzips viel stärker entgegen kommen müssen, als sie es tat.

Sie sollte das, was Cameron forderte und nicht bekam, nämlich eine sehr stark verzögerte Integration auch der Arbeitsmigranten in das Sozialsystem, jetzt im eigenen Interesse realisieren. Wenn sie den Wohlfahrtsmagneten nicht abschaltet, wird sie zerfallen, denn die Migration ist auch für die anderen EU-Bürger das alles überragende Thema. Parteien, die das nicht wahr haben wollen, werden ihr blaues Wunder erleben.

Das Grundproblem liegt in einem unauflösbaren Trilemma, das darin besteht, dass das Ziel der Freizügigkeit innerhalb der EU, das Ziel der Sozialstaatlichkeit und das Ziel der Inklusion der Migranten in das Sozialsystem des Gastlandes sich nicht gemeinsam realisieren lassen.

Heute ist es so, dass ein EU-Bürger, der in ein anderes EU-Land zieht, dort sehr rasch in das soziale Sicherungssystem integriert wird. Wer nicht arbeitsfähig ist, hat spätestens nach fünf Jahren bis ans Ende seiner Tage den vollen Anspruch auf steuerfinanzierte Sozialleistungen wie Einheimische auch. Ein früherer Zugang ist Sache der nationalen Gesetzgebung, teilweise auch des Richterrechts. In Deutschland haben EU-Bürger auch ohne Arbeit zu suchen, sofort Anspruch auf Kindergeld. Bei fünf Kindern beträgt das Kindergeld 1018 Euro monatlich. Das dürfte etwa das Doppelte bis Dreifache dessen sein, was einem durchschnittlichen Arbeitnehmer in Bulgarien oder Rumänien nach Steuern und Sozialabgaben von seinem Arbeitseinkommen verbleibt. Wer Arbeit sucht, aber keine findet, hat nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts schon nach 6 Monaten zusätzlich Anspruch auf eine existenzsicherndes Sozialeinkommen (Hartz-IV) und eine freie Krankenversicherung. Wer eine Arbeit gefunden hat, hat grundsätzlich die gleichen, freilich nur ergänzenden Ansprüche, und Kindergeld bekommt er selbst dann, wenn die Kinder zuhause bei den Großeltern leben.

Lässt man alle diese Regeln so, wie sie sind, werden die Sozialstaaten der EU erodieren, weil sie immer mehr zum Ziel der Armutsmigration werden. Da die Migranten zusätzlich zu ihrem Arbeitslohn auch noch das Umverteilungsgeschenk des Sozialstaates erhalten, kommen sie im Übermaß in die besser ausgebauten Sozialstaaten und belasten dort die Staatsbudgets. Die Sozialstaaten geraten in einen ruinösen Abschreckungswettbewerb, der die einheimische Bevölkerung auf die Barrikaden treibt.

Verhindern kann man die Erosion nur, wenn die Freizügigkeit oder das Inklusionsprinzip eingeschränkt werden. Die EU muss also eine Güterabwägung zwischen der Qualität des Sozialstaates, der Freizügigkeit und der Inklusion vornehmen und entscheiden, welches der Ziele am ehesten geopfert werden kann.

Es wäre am besten, sie würde das Inklusionsprinzip für EU-Migranten einschränken, denn wer Hand an den Sozialstaat legt, destabilisiert die Gesellschaft. Und wer die Freizügigkeit einschränken möchte, verletzt eine der Grundfreiheiten der EU.

Für EU-Binnenwanderungen sollte die Einschränkung des Inklusionsprinzips kein Problem sein, denn alle EU-Länder genügen dem Acquis Communautaire und stellen einen sozialen Minimalschutz sicher. Es ist deshalb möglich, bei jenen Sozialleistungen vom Inklusionsprinzip zum Heimatlandprinzip zu wechseln, die man sich nicht erarbeitet hat, also bei den steuerfinanzierten Leistungen sowie den beitragsfinanzierten Leistungen in den ersten Jahren der Anwesenheit am neuen Wohnort. Gilt das Heimatlandprinzip, kann sich jeder EU-Bürger sich innerhalb der EU frei bewegen, er kann aber nicht im Gastland die Hand aufhalten. Dort erhält er in den ersten Jahren nur die Leistungen, die er sich in einem echten Versicherungssystem mit kostengerechten Prämien selbst erarbeitet hat.

Die EU muss außerdem ihre Außengrenzen schließen, denn mit der frei zugänglichen Natur, der Infrastruktur, dem Rechtssystem und ihren Sozialleistungen verwaltet sie wertvolle Klubgüter, deren Konsum nicht beliebigen Wirtschaftsmigranten aus der ganzen Welt erlaubt sein kann. Wer glaubt, eine liberale Gesellschaft verlange offen Grenzen, hat nicht verstanden, dass Freiheit den Schutz des Eigentums voraussetzt. Nur wenn man sich die Güter, die man haben will, kaufen muss (oder sie allenfalls geschenkt bekommt), statt sie sich selbst anzueignen, herrscht Frieden in dieser Welt.

Dessen ungeachtet bleibt die humanitäre Aufgabe zu erfüllen, politisch Verfolgten aus Drittländern Asyl und dann natürlich die Inklusion in das Sozialsystem des Gastlandes zu gewähren. Aber um die wenigen Menschen, die in diese Kategorie fallen (in Deutschland 2015 gerade mal 0,7% der bearbeiteten Anträge) von den Wirtschaftsflüchtlingen zu trennen, braucht man Antragssysteme, notfalls auch Aufnahmelager, die außerhalb der Grenzen der EU zu einer Entscheidung kommen. Jeder andere Weg provoziert noch mehr Chaos und EU-Austritte.

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