10 Jahre deutsche Einheit

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Die Welt am Sonntag, 26.09.1999, Nr. 39, S. 58

Helmut Kohls "blühende Landschaften" gibt es heute in der Tat in den neuen Bundesländern. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer strahlen die ostdeutschen Städte in neuem Glanze. Fußgängerzonen schlängeln sich um Einkaufsparadiese, güldene Zinnen leuchten an Bankpalästen, und Shopping Centers umwehen die Städte mit einem Hauch amerikanischer Lebensart. Und man lebt nicht schlecht. Statt der Soljanka gibt es Big Macs mit Pommes, der Müggesee wurde von Mallorca verdrängt, und wenn man im Opel Corsa über die neuen Straßen schwebt, kann man sich an die auf Kopfsteinpflastern hüpfenden Trabis kaum noch erinnern.

Die Statistiken belegen den Fortschritt. Die Stundenlöhne haben sich von einem Drittel auf über zwei Drittel der Westlöhne erhöht, die Sozialhilfe liegt über dem DDR-Lebensstandard, und die ostdeutschen Renten übertreffen selbst dann die westdeutschen, wenn man die Besonderheit der hohen Ansprüche der berufstätigen Frauen im Osten herausrechnet.

Leider ist der ganze schöne Wohlstand nur zu einem Teil selbst erzeugt. Nur etwa zwei Drittel der Güter und Leistungen, die die privaten Haushalte, die Investoren und der Staat in den neuen Ländern beanspruchen, werden auch in den neuen Ländern erzeugt. Ein Drittel kommt aus dem Westen, wobei nur der kleinere Teil durch private Kapitalimporte abgedeckt ist. Der Löwenanteil des fünfzigprozentigen Verbrauchsüberhangs wird durch den Transfer staatlicher Mittel aus den alten Bundesländern finanziert. Immer noch liegt das Transfervolumen pro Kopf der neuen Bundesbürger weit über dem gesamten verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen der Polen.

Seit der Vereinigung sind netto deutlich über eine Billionen D-Mark an öffentlichen Mitteln in die neuen Bundesländer geflossen. Größenordnungsmäßig handelt es sich dabei um einen Betrag, der dem Zuwachs der deutschen Staatsschuld in dieser Zeit entspricht. Die Vereinigung wurde auf Pump finanziert, und die wegen der Rentenlasten ohnehin schon gebeutelten zukünftigen Generationen müssen die Zeche abermals zahlen.

Anfangs glaubten viele, ein stürmisches Wirtschaftswachstum der neuen Länder werde alle Probleme in Kürze vergessen lassen. Nach einer kurzen Startphase käme es zu einem sich selbst tragenden Aufschwung, der eine rasche Beendigung der Transfers erlaube. Das glauben heute nur noch wenige. Seit drei Jahren ist das Wachstum auch in den neuen Ländern ins Stocken geraten, und eine substanzielle Verringerung des Leistungsgefälles zwischen Ost und West ist in weite Ferne gerückt.

Was wurde falsch gemacht? Der Hauptfehler liegt in der Politik der übermäßig rasch erzwungenen Angleichung der Einkommen. Die  Währungsumstellung hätte man nicht anders machen können, als sie geschah. Ein schlechterer Kurs als eins zu eins hätte im Osten Realeinkommensverluste zur Folge gehabt. Aber mußte es danach mit dem Anstieg der Löhne und den Sozialtransfers wirklich so schnell weitergehen? Es ist ganz und gar umnöglich, einer Marktwirtschaft hohe Löhne diktieren zu wollen, so gerecht solche Löhne auch immer sein mögen, denn es ist ja niemand gezwungen, sie zu bezahlen. Wenn die Löhne zu hoch sind, dann machen alte Firmen eben dicht, und neue Firmen entstehen erst gar nicht. Die tariflichen Stundenlohnkosten sind in den neuen Ländern heute so hoch wie in den alten. Sie nehmen eine internationale Spitzenposition ein, die weit über den amerikanischen und sogar über den skandinavischen Werten liegt. Naiv ist, wer glaubt, dies sei mit dem Funktionieren der jungen Marktwirtschaft der neuen Länder vereinbar. Wohl gemerkt: dies ist keine Frage der Gerechtigkeit, sondern des ökonomisch Möglichen. Löhne sind Preise, und Preise sind nicht gerecht.

Das Problem entstand, weil die Lohnangleichung vereinbart wurde, bevor die Privatisierungen stattgefunden hatten und bevor es ostdeutsche Unternehmer gab, die hätten mitverhandeln können. Ostdeutsche Unternehmer hätten ihre Unterschrift nie und nimmer unter die Lohnkontrakte gesetzt, die 1991 vereinbart wurden. Aber die westdeutschen Arbeitgebervertreter und die westdeutschen Gewerkschaftler, die damals die ostdeutschen Löhne stellvertretend aushandelten, hatten keinerlei Skrupel. Altruistisch, wie sie waren, verordneten sie ihren Wettbewerbern im Osten die gleichen hohen Löhne, mit denen auch die eigenen Industrien im Westen zurecht kommen mußten. Daß dabei so ganz nebenbei die Gefahr einer lästigen Ostkonkurrenz beseitigt wurde, nahm man nicht immer nur mit innerer Genugtuung zur Kenntnis. Einige der Verhandlungsführer haben sich damals sogar öffentlich zum Primat der Sicherung der westdeutschen Arbeitsplätze bekannt.

Auch ohne den westdeutschen Einfluß wäre es im Laufe der Zeit zu Lohnsteigerungen gekommen, nur nicht so schnell. Die niedrigen Löhne hätten Unternehmen aus der ganzen Welt angelockt, und es hätte einen raschen Aufschwung, ja ein zweites Wirtschaftswunder gegeben, das auf dem Wege einer Verknappung von Arbeitskräften schließlich ebenfalls eine Lohnangleichung mit dem Westen herbeigeführt hätte. Aber zu den Lohnsteigerungen wäre es als Folge des Kapitalzustroms und nicht etwa in Antizipation eines solchen Zustroms gekommen. Die vielfach vertretene Meinung, die langfristig zu erwartenden Lohnsteigerungen könne man vorzeitig anordnen, und es käme dann anschließend immer noch zu einem Kapitalzustrom, der diese Lohnsteigerungen rechtfertige, hat sich als Ammenmärchen entpuppt.

Auch das viel strapazierte Argument, ohne die Lohnerhöhungen wäre es zu Westwanderungen gekommen, gibt zur Verteidigung der Hochlohnpolitik nicht viel her. Erstens kam es ja wegen der Arbeitslosigkeit, die durch die hohen Löhne selbst erzeugt war, ohnehin zu Westwanderungen- mehr als 10% der Ex-DDR-Bürger haben ihrem Land den Rücken gekehrt. Und zweitens sind Westwanderungen nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Wenn der marode Kapitalstock, den die DDR hinterlassen hatte, keine sinnvolle Beschäftigung erlaubt und wenn es lange dauert, bis ein besserer Kapitalstock aufgebaut werden kann, dann ist es viel besser, einen Teil der ostdeutschen Arbeitnehmer zumindest temporär in den westdeutschen Produktionsprozeß zu integrieren, statt sie im Osten Däumchen drehen zu lassen. Arbeitskräftewanderungen aus weniger entwickelten Regionen sind kein Problem, sondern ein sinnvoller Beitrag zum Abbau wirtschaftlicher Divergenzen.

Zuzugeben ist, daß die Art und Weise, wie die ostdeutsche Wirtschaft privatisiert wurde, den neuen Bundesbürgern einen Einkommensverzicht nicht gerade leicht gemacht hätte. In den Genuß der Restitutionsregeln kamen ganz überwiegend Familien, die seit langem im Westen wohnen, und auch die Verkaufsaktionen der Treuhand gingen nahezu vollständig an den neuen Bundesbürgern vorbei. War es wirklich nötig, nur 6% der privatisierten Arbeitsplätze in die Obhut ostdeutscher Unternehmer zu geben? Und wo sind eigentlich die verbrieften Anteilsrechte geblieben, von denen sowohl der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion als auch der Einigungsvertrag künden? Im Einigungsvertrag steht, die Treuhandanstalt solle Möglichkeiten vorsehen, den neuen Bundesbürgern verbriefte Anteilsrechte am ehemals volkseigenen Vermögen zu übereignen. Warum hat sich die Anstalt niemals bemüht, diesen Auftrag ernst zu nehmen und das vom kommunistischen Staat verwaltete Vermögen den Staatsbürgern auszuhändigen?

Vorschläge, wie dies hätte geschehen können, gab es. Die Treuhand hätte ihre Firmen statt gegen Kasse gegen Restbeteiligungen an die westdeutschen Unternehmer verkaufen können, und diese Restbeteiligungen hätte sie dann in einem zweiten Schritt an die Bürger der Ex-DDR verteilen können. Diese Politik hätte die Toleranz für eine anfängliche Lohnzurückhaltung sicherlich maßgeblich gestärkt. Hätte man die ohnehin nicht von der Verfassung gedeckten Stellvertreter-Lohnverhandlungen verboten, wäre es nicht zu dem übereilten Lohnanstieg gekommen, und mit niedrigeren Löhnen hätten auch die Treuhandunternehmen einen gewissen Wert gehabt: Nicht die 600 Milliarden DM, von denen der erste Präsident Rohwedder gesprochen hatte, aber doch deutlich mehr als die 60 Milliarden, die die Treuhand erlösen konnte. Eine bloße Verschiebung des Zeitpunktes der Lohnangleichung um fünf Jahre, also auf das Jahr 2001, hätte die Treuhandunternehmen um 150 Milliarden DM entlastet und ihren Wert um mindestens eben diesen Betrag erhöht. Es ist heute noch nicht zu spät, die Konsequenzen der fehlerhaften Politik abzumildern. Betriebliche Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen ermöglichen eine Lohnsenkung, wenn Unternehmer und Belegschaft dies wünschen, und eine Mitbeteiligung der Arbeitnehmer an den ostdeutschen Betrieben kann als Ausgleich für eine solche Lohnsenkung ausgehandelt werden. Auch ist daran zu denken, die umfangreichen noch in kommunaler Hand befindlichen Wohnungsvermögen zugunsten der Bürger zu privatisieren, um auch auf diese Weise einen Ausgleich für die Lohnzurückhaltung zu schaffen. Niedrigere Löhne und ein Miteigentum an den vorhandenen Produktionsmitteln sind eine Mixtur, die zu einer funktionierenden Marktwirtschaft zehn mal besser paßt als die widersinnige Politik, die die neuen Bundesländer zu einem kranken Patienten gemacht haben, der ohne den westlichen Tropf nicht mehr leben kann.