Die nicht gleichheitsgerechte Union

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.07.2009, Nr. 155, S. 10

Das Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 30. Juni das Europäische Parlament als "nicht gleichheitsgerecht gewählt" bezeichnet. Dieser Begriff ist leider zutreffend, denn die Länder sind dort nicht in Proportion zur Größe ihrer Bevölkerung vertreten, sondern nach einem politisch ausgehandelten Schlüssel, der die kleineren Länder sehr stark begünstigt.

So hat Deutschland als größtes EU-Land mit 17 Prozent der EU-Bevölkerung im Europäischen Parlament nur 13 Prozent der Stimmen. Es geht ihm dabei nicht anders als den anderen großen Ländern, die ebenfalls unterrepräsentiert sind. Dafür sind die kleineren Länder überrepräsentiert. So kommt ein Däne, Slowake oder Finne auf das Doppelte des Stimmgewichts eines Deutschen und ein Slowene oder Lette fast auf das Dreifache. Und wer das Glück hat, in Malta oder Luxemburg zu leben, kann im Parlament sogar zehnmal so viel Einfluss geltend machen wie ein Deutscher, Italiener oder Brite.

Diese Asymmetrien sind insofern kaum zu rechtfertigen, als die Stimmenverhältnisse im EU-Ministerrat als zweiter Kammer der EU schon stark zugunsten der kleinen Länder verzerrt sind. Im Ministerrat hat Deutschland derzeit nur 8,4 Prozent der Stimmen und wird nach dem Vertrag von Lissabon sogar nur noch 3,7 Prozent haben, weil jedes EU-Land dort genau eine Stimme hat. Ein gewisses Korrektiv liegt zwar in dem Umstand, dass nach dem Vertrag von Lissabon die Entscheidungen des Ministerrats von mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung gedeckt sein müssen. Doch haben auch hier die kleinen Länder weitaus mehr Einfluss, als es ihrer Größe entspricht, weil zugleich mindestens 55 Prozent der EU-Länder hinter solchen Entscheidungen stehen müssen. Auch im Ministerrat konnte und kann deshalb von einer gleichheitsgerechten Repräsentanz der EU-Bürger nicht die Rede sein.

Es kommt hinzu, dass jedes Land, ob groß oder klein, seinen Kommissar hat und dass die Beamtenschaft in Brüssel ebenfalls eine starke Überrepräsentanz der kleinen Länder zeigt. So haben zwar manche deutschen Bundesländer, die wesentlich größer sind als viele europäische Länder, beeindruckende Niederlassungen in Brüssel, doch wenn sie dort etwas erreichen wollen, müssen sie über Berlin gehen oder sich weit hinten anstellen. Österreich, Finnland und Irland, die zusammen 17,96 Millionen Einwohner haben, sind zusammen mit drei Kommissaren vertreten, doch Nordrhein-Westfalen mit seinen 18,01 Millionen Einwohnern hat keinen.

Dass Deutschland unter solchen Verhältnissen der größte Nettozahler der EU wurde, kann nicht verwundern. Deutschland finanziert mit seinem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent immerhin 20 Prozent des EU-Budgets und erhält von den Mitteln, die nach Abzug der EU-Verwaltungskosten an die Länder zurückfließen, gerade einmal 12 Prozent. Die Einnahmen der EU sind nach Landesgröße und Wirtschaftskraft gestaffelt, aber die Verausgabung folgt eher einem Schlüssel, der der politischen Macht der Länder in Europa entspricht. Von der Strukturpolitik über die Kohäsionsfonds bis zu den Ausgaben für die Forschung: Je kleiner man ist, desto größer sind die Umverteilungsgewinne, die man bei einer Ausweitung des EU-Budgets erwarten kann. Kein Wunder, dass die kleinen Länder so viel Gefallen an Brüssel finden.

Viele EU-Programme, obzwar scheinbar sachlich begründet, sind so gestrickt, dass sie de facto den kleinen Ländern mehr als den großen helfen. Man denke nur an grenzüberschreitende Verkehrsprojekte oder das Erasmus-Programm für den internationalen Studentenaustausch. Ein Student, der von München nach Stuttgart wechselt, erhält dafür keine Unterstützung der EU, wohl aber einer, der von Namur nach Luxemburg geht, obwohl die geographische und kulturelle Distanz, die er überwinden muss, dort nicht größer ist. Auch die in der EU üblichen länderübergreifenden Konsortialverträge bei Forschungsprojekten sind ein steter Frust für die Forschungsinstitute der großen Länder. Die Institute der kleinen Länder können sich vor Anfragen kaum retten, während die Institute der großen Länder häufig vergebens auf Partnersuche gehen.

Als Begründung für die Nettozahlungen Deutschlands wird manchmal angeführt, dass Deutschlands Wirtschaft wegen der Exporte mehr von der EU profitiere als die Wirtschaft anderer Länder. Das Gegenteil ist aber der Fall. Zum einen sind Exporterlöse, die man im Ausland erzielt, keine Geschenke, sondern hartverdientes Geld. Zum anderen profitieren die kleinen Länder sehr viel mehr als die großen, weil sie anteilig mehr Grenzregionen haben, die von den fallenden Grenzen profitieren. Auch wird den kleinen Ländern der Nachteil des unzureichenden Heimatmarktes für die Industrieproduktion genommen. Nokia wäre ohne die EU nicht möglich gewesen, Siemens schon. Heute steht beiden Unternehmen der gleiche Markt von 500 Millionen potentiellen Kunden zur Verfügung, was die bekannten Implikationen für die Geschäftsentwicklung dieser beiden Unternehmen hat. Europa ist in seinem Kern ein Programm zur Überwindung der Nachteile der Kleinheit.

Das ist ohne Zweifel gut so. Es zeigt aber, dass es für die Ungleichbehandlung der EU-Bürger in den EU-Institutionen nicht die geringste Veranlassung gibt. Sie resultiert allein aus der Verhandlungsmacht, die kleine Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer rechtlichen Organisation als selbständige Staaten besitzen. Das Bundesverfassungsgericht tat recht daran, diese Dinge nun endlich einmal beim Namen zu nennen.