Paradoxe Konsequenz

Der Ausbau des Niedriglohnsektors hat das Armutsrisiko in Deutschland reduziert, Mindestlöhne hingegen würden diesen Trend wieder umkehren, sagt Hans-Werner Sinn.
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 14.09.2009, Nr. 38, S. 47

Vor gut einem Jahr beklagte der Armutsbericht der Bundesregierung, dass immer mehr Menschen in Deutschland von Armut gefährdet seien - weil ihr Einkommen unter 60 Prozent vom Durchschnitt (bedarfsgewichtetes Medianeinkommen) gefallen war. Nun kommt das Institut Arbeit und Qualifikation in Duisburg mit einer neuen, vermeintlichen Schreckensmeldung, wonach der Niedriglohnsektor deutlich gewachsen ist. Das Armutsproblem wird, so scheint es, immer größer. Und daher müssten Mindestlöhne her, tönt es aus der Politik, Der Eindruck täuscht indes gewaltig, denn die Nachrichten stimmen nicht mehr oder werden falsch interpretiert. Heute, ein Jahr nach dem Armutsbericht, ergibt sich nach einer Analyse des ifo Instituts ein anderes Bild. Der Armutsbericht, erstellt auf Basis des sozioökonomischen Panels von 2005, kam zu dem Schluss, dass der Anteil der Armutsgefährdeten in den Jahren bis 2005 auf 18 Prozent gestiegen war. Dieselbe Datenbasis zeigt ein Jahr später, dass die Gefährdung bis 2006 wieder um 1,5 Prozentpunkte oder etwa eine Million Personen zurückging - obwohl der Niedriglohnsektor wuchs. Das ist eine geradezu dramatische Wende in einem bis dato verhängnisvollen Trend.

Das Ausmaß der Armut lässt sich nicht zeitaktuell berechnen. Dies geht nur im Rückblick, wenn entsprechende Erhebungen aufbereitet sind. Und um das Geschehene zu verstehen, muss man bedenken, dass 2005 das Jahr der maximalen Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Einführung des Hartz-IV-Systems war. Ein Jahr später war der Aufschwung da. Hartz IV begann zu wirken. Die Armutsgefährdung ging zurück, weil die Arbeitslosenzahl um knapp 400 000 fiel und weil Niedriglöhner nun zusätzlich zu ihrem Arbeitseinkommen Hartz-IV-Bezüge erhielten.

Die Agenda gab dem Aufschwung eine besondere Beschäftigungsdynamik. Viele Langzeitarbeitslose konnten integriert werden, auch viele Ältere fanden neue Jobs. Bis zum Tiefpunkt der Arbeitslosigkeit im November 2008 wurden, wie ifo zeigt, allein in Westdeutschland (inklusive Berlin) eine Million Stellen mehr geschaffen, als bei einer Wiederholung früherer Aufschwungmuster zu erwarten gewesen wäre. Diese Stellen entstanden zwar teilweise im Niedriglohnsektor. Insofern hat das Duisburger Institut recht. Doch wer das als Problem sieht, vergleicht die Entwicklung mit Wunschträumen statt realistischen Alternativen. Es geht nicht um gute oder schlechte Stellen, sondern um schlechte oder gar keine Stellen. Mit der Schaffung eines Niedriglohnsektors sollten Langzeitarbeitslose in Arbeit und Brot kommen. Eine solche Politik hätte man selbst dann rechtfertigen können, wenn damit ein temporärer Anstieg der Armutsgefährdung verbunden gewesen wäre. Immerhin stand zu hoffen, dass der Wiedereingliederung ins Berufsleben bei zunächst niedrigen Löhnen anschließend der soziale Aufstieg gefolgt wäre. Doch selbst eine temporär höhere Gefährdung trat nicht ein, sondern das Gegenteil. Eine Million weniger Armutsgefährdete war mehr, als man bei einem Rückgang der Arbeitslosenzahl um knapp 400 000 erhoffen konnte. Noch größere Effekte der Agenda wird man für die Folgejahre feststellen, wenn sich die volle Beschäftigungsdynamik des letzten Booms in der Armutsstatistik widerspiegelt. Ab 2012 werden sich dort zwar die Folgen der Rezession zeigen. Doch dürften deren Effekte dank der Agenda kleiner ausfallen, als es sonst der Fall gewesen wäre.

1,3 Millionen Menschen erhalten Lohnzuschüsse Um zu verstehen, warum Niedriglöhne keine Armutsgefährdung bedeuten, muss man sich klarmachen, dass Hartz IV ein Lohnzuschusssystem ist. 2008 gab es 1,3 Millionen Aufstocker, also Personen, die neben ihrem Arbeitseinkommen Hartz-IV-Bezüge haben. Doch anders, als es der Begriff "Aufstocker" suggeriert, werden diese Personen nicht nur auf das Basisniveau des Arbeitslosengeldes (ALG) II gehoben, sondern weit darüber hinaus - weit genug zumindest, um eine Armutsgefährdung auszuschließen. Selbst eine Person, die für vier Euro die Stunde arbeitet und gerade mal auf ein Brutto-Arbeitseinkommen von etwa 700 Euro kommt, erreicht in der Summe aus Arbeitseinkommen und Lohnzuschuss nach dem Hartz-IV-System ein Nettoeinkommen von 910 Euro, was über der "Armutsgefährdungsgrenze" von 781 Euro liegt. Die Person zahlt nämlich keine direkten Steuern, und die Sozialbeiträge in Höhe von 140 Euro werden vom Lohnzuschuss (350 Euro) um 210 Euro übertroffen. Wäre dieselbe Person langzeitarbeitslos, hätte sie bei normalem Wohnstandard mit dem ALG II nur ein Nettoeinkommen von etwa 700 Euro. Auch wenn das viele nicht gerne hören: Lohnzuschuss und wachsender Niedriglohnsektor haben die Armutsgefahr reduziert.

Für die aktuelle Mindestlohndebatte hat diese Erkenntnis eine auf den ersten Blick paradoxe, aber unabweisbare Konsequenz: Würden Mindestlöhne eingeführt, käme es zu einem Beschäftigungsabbau, weil bei manchen Stellen die Wertschöpfung nicht hoch genug ist, um die höheren Löhne zu tragen. Bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro etwa drohen über eine Million neue Arbeitslose, prognostizieren Marcel Thum und Joachim Ragnitz vom ifo Institut Dresden. Die Betroffenen würden langfristig wieder auf das Niveau des ALG II rutschen - und wären damit armutsgefährdet. Umgekehrt gilt: Der Verzicht auf Mindestlöhne sichert Stellen im Niedriglohnsektor - und verringert die Armutsgefährdung.

Sinn, Hans-Werner