„Was lehrt die Geschichte für unsere Lage, Herr Prof. Sinn?“

Deutschlands erfahrenster Ökonom Hans-Werner Sinn über das Land in der Zange von Trump und Putin, Deindustrialisierung und Rentendesaster, den unerlässlichen Europäischen Bund und eine Steuerreform, die Wunder wirkt.

€uro, 13. Dezember 2025, Nr. 1/2026, S. 12-18.

€uro: Herr Professor Sinn, wie beurteilen Sie die Lage in Deutschland im Moment?

Professor Hans-Werner Sinn: Wir haben erhebliche Probleme in der Industrie, die schrumpft. Eine Deindustrialisierung findet tatsächlich statt, und das bereits seit 2018.

Sind externe Faktoren dafür verantwortlich oder hätte man politisch eingreifen müssen?

Man hätte das Tun unterlassen müssen. Wir sind von Brüssel mit einem Netz dirigistischer Maßnahmen überzogen worden. Laut diesen Verordnungen, der ESG-Gesetzgebung, müssen Firmen dokumentieren, wo ihre Vorprodukte herkommen und ob soziale Standards eingehalten wurden. Und sie müssen dafür geradestehen, dass die Vorproduzenten der Vorproduzenten diese Standards einhalten. Es ist vollkommen unmöglich, das zu leisten. Da kann man nur noch fliehen aus Europa. Diese Politik ist das Rezept für eine Katastrophe. Und diese Katastrophe gesellt sich hinzu zu der politischen in Form des Ukraine­-Kriegs.

Und jetzt?

Jetzt müssen wir sehen, dass wir aufrüsten, was wir lange Zeit nicht getan haben. Das wird einen gewissen konjunkturellen Impuls geben, zumal das alles kreditfinanziert ist, aber Wachstum entsteht nicht im eigentlichen Sinn. Denn Rüstungsgüter sind Güter, die verbraucht werden und keinen Beitrag zur Vergrößerung der Produktionskapazität leisten.

Trifft das nicht alle EU-Staaten?

Es schlägt bei uns besonders durch, weil das die Industrie betrifft. Deutschland ist das Industrieland. Zusätzlich bedroht uns US-Präsident Donald Trump, der jetzt Zölle in Höhe von 15 Prozent über alle EU-Produkte verhängt hat. Vorher waren wir in der Nähe von null Prozent. Das ist ein Riesenproblem. Trump
will die Firmen nach Amerika locken.

Das scheint ihm in Ansätzen zu gelingen.

Amerika geht es wieder besser, weil reale Investitionen in den USA stattfinden. Industriefirmen aus Südkorea, Japan und Deutschland machen sich auf den Weg, um dort zu produzieren und die Zölle zu vermeiden. Das kann für Amerika ein Erfolgsrezept sein, es bedeutet aber ein Ausbluten der anderen Länder.

Deutschland leidet unter Fachkräftemangel und Finanzierungsprobleme der Sozialsysteme. Wie sehen Sie die Rentendebatte?

Man hat den Leuten immer noch nicht klargemacht, wie groß das Problem wirklich ist. Die Babyboomer drängen in die Rente. Das Verhältnis von arbeitsfähiger Bevölkerung und Rentnern wird immer ungünstiger. 2004 hat die damalige Bundesregierung den Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt, der darauf hinausläuft, dass sich die Jungen und die Alten den Mangel teilen. Aber das will die Politik den Alten nicht zumuten. Eine Haltelinie soll bedeuten, dass 100 Prozent dieser Zusatzbelastung nur von den Jungen getragen werden soll. Das geht nicht, die laufen uns davon. Wo soll dieses Land enden, wenn die Alten sagen: Wir haben unsere Ansprüche und die Jungen sollen sehen, wie sie das Geld beibringen?

Bleibt Hoffnung auf Reformen, wenn immer mehr Wähler Rentner sind?

Das ist das Problem. Ich habe vor 20 Jahren mit Silke Übelmesser einen wissenschaftlichen Artikel geschrieben. Wir haben ausgerechnet, wann die Mehrheit der Wahlberechtigten ein Interesse an einer Ausdehnung des Umlagesystems hat. Das war bereits 2015! Wir haben in Deutschland längst eine Gerontokratie. Die Rentner und die rentennahen Jahrgänge dominieren das politische Geschäft.

Fehlt uns dadurch Dynamik?

Junge Leute sind wagemutig, die gründen eher ein Unternehmen. Diese Dynamik ist erschlafft. Die Firmengründer werden älter, die nächste Generation hat häufig keine Lust mehr, das Unternehmen fortzuführen, und verkauft an Private­-Equity­-Investoren. Dann sitzt man auf dem Geld und legt es am Kapitalmarkt an.

Helfen wenigstens die höheren Investitionen, die auf Pump finanziert werden? Erste Analysen deuten darauf hin, dass nicht alles zusätzlich investiert, sondern manches nur umdeklariert wird. Hätte man das nicht vorhersehen können?

Ja, das war absehbar — und wurde von vielen Ökonomen auch genau so kritisiert. Sobald kreditfinanzierte Investitionsprogramme aufgelegt werden, entsteht ein Verschiebebahnhof: Geplante Infrastrukturmaßnahmen, die sonst aus dem regulären Haushalt bezahlt worden wären, werden nun über Schulden finanziert. Dadurch werden im Haushalt Mittel frei, die in andere Bereiche — etwa Soziales — fließen.

Aber ein bisschen mehr wird investiert.

Ja, ein bisschen vielleicht. Unser Problem ist jedoch nicht in erster Linie, dass wir zu wenig öffentliche Investitionen haben, sondern zu wenig private Investitionen. Die Unternehmen treiben das Wachstum, nicht der Staat. Wir brauchen eine Vergrößerung des privaten Produktionspotenzials, und da hapert es massiv.

Wie kann die Bundesregierung private Investitionen dann richtig anregen?

Durch eine Steuerreform, die Unternehmen veranlasst, hier im Land zu investieren. Der Sachverständigenrat hat dafür einen Vorschlag unterbreitet: eine Cashflow­Besteuerung der Unternehmen. Wir haben eine Einkommensbesteuerung auch bei den Firmen. Diese Einkommensbesteuerung unterscheidet nicht zwischen heimischen Investitionen und Portfolio­Investitionen des Unternehmens in der weiten Welt. Es ist nicht klar, dass durch Steuersatzsenkungen heimische Investitionen angeregt werden. Sie werden aber angeregt, wenn man Abschreibungsvergünstigungen gibt, denn davon profitieren nur Investitionen
im Inland. Eine Cashflow­Besteuerung macht das im Extrem, indem sie festlegt: Alle Investitionen sind sofort abschreibbar. Sie würde Wunder wirken.

Bleibt die Energiefrage. Das deutsche Modell mit dem billigen russischen Gas gibt es nicht mehr. Jetzt kaufen wir Flüssiggas (LNG) aus den USA. Ist das langfristig besser?

Irgendwelche Energie brauchen wir. Ob das amerikanisches Gas sein muss oder Gas aus Katar, ist eine andere Frage. Trump hat mit der EU verhandelt, dass wir in den nächsten drei Jahren für 600 Milliarden Euro zusätzlich amerikanische fossile Brennstoffe kaufen sollen. Das ist eine Verdreifachung. Damit zwingt er uns, das teurere Gas zu kaufen. Es ist nicht gut, dass wir die Handelsbeziehungen zu Russland nicht mehr haben .

Kommen wir zur Kapitalmarkt­ und Währungsseite. Was bedeutet die US-Politik an dieser Stelle für Europa?

Nach dem 28. Februar, nach der Demütigung des ukrainischen Präsidenten in Washington, fing die Diskussion um das sogenannte Mara­Lago­Papier an. Darin skizzierte der TrumpBerater Stephen Miran folgenden Plan: Die USA sollten handelspolitischen Druck durch Zölle ausüben, um Partnerländer zu Zugeständnissen zu bewegen — vor allem dazu, durch ihre Zentralbanken neue 100-­jährige US-Anleihen zu kaufen. Auf diese Weise sollten die USA langfristig saniert werden. Normalerweise wären solche ultralangen Papiere hoch verzinst; hier sollte es umgekehrt laufen. Ein politökonomisch geschickter, geradezu diabolischer Plan. Inzwischen ist Miran Vorsitzender des Council of Economic Advisers und Mitglied des Direktoriums der Notenbank Federal Reserve.

Ändert das etwas? 

Um die 100-­jährigen Papiere ist es still geworden. Doch Trumps Ziel bleibt: Er will niedrigere Zinsen, weil die USA unter ihrer hohen Schuldenlast leiden. Die Bonität ist gesunken, die Ratingagenturen haben das Land abgewertet, und die Nettoauslandsschuld liegt bei außergewöhnlich hohen 91 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Welche Folgen zeitigt das?

Kapitalflucht aus Amerika war die Folge. Der Dollar fiel und fiel, er hat seitdem ein Zehntel seines Werts verloren und hat sich nicht mehr erholt. Der Aktienmarkt wurde zeitweilig von dem Strudel erfasst. Er hat sich aber wieder erholt, weil das Problem nicht bei den US-Firmen, sondern beim Staat liegt. Insgesamt
haben wir seit dem 28. Februar eine Kursentwicklung der amerikanischen Aktien, die fast exakt gleich ist mit der Kursentwicklung des DAX, jedenfalls in US-Dollar gerechnet. Wir europäischen Anleger haben die Wechselkursseite zu beachten: In Dollar quotierte Gewinne helfen wenig, wenn der Dollar gegen den Euro fällt.

Welche Folgen hat das alles für Europa und vor allem für Deutschland? 

Wir haben das beschriebene neue Zollregime. Die Amerikaner lassen sich überdies die Verteidigung der Ukraine einerseits von den Ukrainern mit den Bodenschätzen und andererseits die Waffen von Westeuropa bezahlen. Das sind die Engländer, die Holländer, die Skandinavier, die baltischen Länder, Deutschland und Belgien. Frankreich zahlt nicht, Spanien nicht, Italien nicht, Polen nicht. Aber das ist ein innereuropäisches Problem.

Dominierend sind die USA auch bei künstlicher Intelligenz. Nutzen Sie selbst KI?

Ja, sicher. Die KI erzeugt tolle Suchmaschinen. Jeder nutzt heute KI.

Ist KI ein neuer langfristiger Innovationsschub, analog zu den Kondratieff-­Zyklen?

Die KI ist dasselbe wie das Internet, noch einmal neu. Das ist die nächste Stufe, weil intelligente Arbeitsleistungen von KI erbracht werden können. Da ist kein Ende absehbar, was möglich ist.

Die USA führen bei KI, aber die Chinesen sind ihnen auf den Fersen. Wie sollte sich Deutschland eigentlich im Duell der Supermächte positionieren? 

Deutschland sollte sich nicht von den Amerikanern in den Konflikt mit China hineinziehen lassen. China wird absehbar die größte Volkswirtschaft der Erde sein und hat technologisch die Nase vorn vor den Amerikanern. Es macht keinen Sinn, sich nur wieder von Amerika abhängig zu machen in KI-Dingen. Wir brauchen die Chinesen als Wettbewerber von Amerika und müssen sie uns warmhalten. Es macht auch bei der Energiepolitik keinen Sinn, sich total von Amerika abhängig zu machen und zu sagen: Russland ist böse. Wir sanktionieren die Russen und beziehen amerikanisches Gas. Wir brauchen Katar und die anderen Öl­- und Gasländer auch. Die Bundesrepublik muss ein weit ausgespanntes Netz an Handelsbeziehungen haben, damit wir nicht von einem Land allein abhängig werden.

Ist das in der neuen, mehr und mehr von der Deglobalisierung geprägten Welt noch realistisch?

Diese gute Vernetzung war unsere Stärke. Deutschland war ja jahrelang Weltmarktführer beim Warenexport. Wir hatten Beziehungen in die ganze Welt. Wir brauchten eine offene EU. Die Briten sind seit 2016 nicht mehr dabei. Sie hatten die EU offengehalten und verhindert, dass der Protektionismus überhandnahm. Wenn wir protektionistische Maßnahmen ergreifen, machen die anderen das auch, und der Leidtragende ist vor allem Deutschland, weil wir mit Abstand die größten Handelsbeziehungen haben.

Regulierung, Steuern und Energie sind Stellschrauben der Produktivität. Ihre Wirkung bleibt jedoch begrenzt, wenn zugleich die strategische Rahmensetzung von Sicherheit und Verteidigung unklar ist. Genau darauf legen Sie den Schwerpunkt in Ihrem neuen Buch „Trump, Putin und die Vereinigten Staaten von Europa“. Wie konnte es nach Ihrer Analyse zu dem heutigen Zerwürfnis mit Russland kommen?

Nach dem Zerfall der Sowjetunion lag Russland wirtschaftlich am Boden. Putin suchte anfangs die Nähe zum Westen, in seiner Bundestagsrede 2001 sprach er von der Bedeutung des Welthandels. Am Rand der Gespräche prägte er den Ausdruck „von Lissabon bis Wladiwostok“. Doch der Westen setzte auf die NATO-Osterweiterung. Als 2008 auch die Ukraine in den westlichen Einflussbereich gezogen werden sollte — ein zentrales GUS-Land, Sitz des russischen Schwarzmeerhafens Sewastopol —, sah Russland seine vitalen Interessen bedroht. Das führte zur Annexion der Krim 2014 und zum brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine ab 2022. Eindeutig völkerrechtswidrig, aber politökonomisch erklärbar.

Sie sagen, der Westen habe Putins ausgestreckte Hand nicht ergriffen.

So war es. Die Amerikaner fürchteten seit der Wolfowitz­-Doktrin von 1992 eine enge deutsch-russische Kooperation. Deutschland wurde damit zum Opfer einer Strategie, die eine solche Achse verhindern wollte. Hätten wir damals auf Handelsintegration gesetzt, hätten wir mit Russland einen viel besseren Vertrag machen können, als er jetzt selbst in den kühnsten Träumen für möglich gehalten wird.

Heute müssen wir uns dennoch verteidigen. Welche Lehren aus der Geschichte sind dabei zu beachten?

Europas Misstrauen gegenüber einem starken Deutschland ist alt. Schon bei der Wiedervereinigung fürchtete Frankreichs Präsident Mitterrand ein übermächtiges Deutschland. Er wollte seine Atomraketen (Force de Frappe) behalten, aber die D-Mark „sozialisieren“. Bundeskanzler Kohl hingegen wollte die politische — sprich militärische — Union Europas. Viele Jahre verhandelten beide darüber, ohne dass viel nach draußen gedrungen ist. Am Ende setzte Mitterrand durch, dass Deutschland für die Wiedervereinigung den Euro akzeptierte.

Und diese fehlende Militärunion ist heute das Kernproblem?

Genau. Wir haben bis zu 25 Armeen, die einzeln rüsten. Das ist gefährlich: Im Ernstfall müsste auch jedes Land separat entscheiden, ob es Truppen stellt — im Zweifel machen manche nicht mit. Putin könnte Europas Teilstaaten gegeneinander ausspielen. Die nötige Aufrüstung darf nicht national gemacht werden. Ich finde es auch schlimm, was die EU beschlossen hat, gemeinsam Anleihen auszugeben und das Geld den einzelnen Staaten im Rahmen des SAFE-Programms für Rüstungsprojekte zur Verfügung zu stellen.

In Ihrem Buch schlagen Sie einen „Europäischen Bund“ vor. Wie sieht der aus?

Der Europäische Bund ist ein neuer Bundesstaat, begrenzt auf militärische Aufgaben. Die Staaten übertragen ihre Armeen einem gemeinsamen Oberkommando, demokratisch kontrolliert durch ein Verteidigungsparlament von vielleicht 70 Mitgliedern. Der Bund steht unter dem Dach der NATO, wie die US-Bundesstaaten dort durch Washington vertreten sind. Er ist nicht die EU — die EU hat kein Verteidigungsmandat. Länder wie Großbritannien und Norwegen wären ebenfalls eingeladen. Ziel ist es, die Zersplitterung zu beenden und sofortige Einsatzfähigkeit zu schaffen. Wenn Europa das machen würde, bräuchten
wir keine Angst mehr vor Putin zu haben, denn vor einem gemeinsamen Oberkommando mit vollen Durchgriffsrechten auf die Armeen aller Mitgliedsländer hätte er Respekt. Der Schutz käme im Nu, während die Harmonisierung der Waffensysteme eine Aufgabe für Jahrzehnte ist.

Auch mit französischer Atomstreitmacht?

Ein einheitliches Oberkommando erfordert, dass auch die Force de Frappe integriert wird. Sonst bleibt Europa militärisch fragmentiert. Genau das wollte Kohl verhindern, und genau das hat Mitterrand fortgesetzt.

Was erhoffen Sie sich langfristig?

Einen wehrhaften europäischen Pfeiler innerhalb der NATO — und perspektivisch eine Rückkehr zu Wirtschaftsbeziehungen mit Russland. Russlands Energie und Rohstoffe dürfen nicht dauerhaft allein nach China fließen. Wir müssen hoffen, dass der Krieg endet und Europa nicht in ein neues halbes Jahrhundert Kalten Krieg gerät. 

Das Interview führten Markus Voss und Frank Mertgen.

Youtube-Link zum Interview mit Börse online vom 2. Dezember 2025.