Amerikaner stammen aus Italien, Europäer aus Japan

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Börsenzeitung, 23.10.2009; auch erschienen in Project Syndicate

MÜNCHEN – Das amerikanische Geschäftsmodell ist zusammengebrochen. Während der letzten Jahre haben sich die USA riesige Summen vom Rest der Welt geliehen. Allein im Jahr 2008 betrugen der Nettokapitalimport über 800 Mrd. Dollar. Das Geld wurde hauptsächlich durch den Verkauf von hypothekengesicherten Wertpapieren (ABS) und darauf aufbauenden strukturierten Wertpapieren (CDO erzielt, die Forderungen gegen Forderungen gegen amerikanische Hausbesitzer waren (genauer: nur mehrstufige Forderungen gegen die Häuser selbst, da die Besitzer durch die regressfreien Kredite vor einer Durchgriffshaftung geschützt waren). Inzwischen ist jedoch der Markt für solche Wertpapiere verschwunden. Während im Jahr 2006 der Umfang der Neuemissionen noch 1,9 Billionen Dollar betrug, dürfte das Volumen im Jahr 2009 nach den jüngsten Schätzungen des IWF nur noch 50 Milliarden Dollar betragen. Der Markt ist um 97% geschrumpft. Keine andere Zahl sagt so viel über die Katastrophe des amerikanischen Finanzsystems aus wie diese.

Als die Finanzströme aus der Welt an die amerikanischen Hausbesitzer eintrockneten, brachen die Hauspreise um gut 30% ein, und der Bau neuer Häuser um mehr als 70%. Die Rezession war unvermeidbar. Entlassene Bauarbeiter schnürten ihren Gürtel enger, und die Hausbesitzer taten ein Gleiches. Manche taten es, weil sie sich ärmer fühlten. Andere, weil ihnen die Banken, schockiert durch den Einbruch ihres Verbriefungsgeschäfts, keine Hypothekendarlehen zur Finanzierung ihres Konsums mehr gaben. In den letzten Jahren vor der Krise lag das Volumen neuer Hypothekendarlehen um 60% über dem Wert der Wohnungsbauinvestitionen. Jetzt liegt es um 150% darunter.

Die ersten elf Monate der Rezession waren so schlimm wie die ersten elf Monate der Weltwirtschaftskrise, die 1929 begonnen hatte. In der Zwischenzeit haben jedoch riesige keynesianische Konjunkturpakete von weltweit über 1,4 Billionen Dollar und Bankenrettungspakete von ca. 8 Billionen Dollar ihre Wirkung gezeigt. Sie haben den Zusammenbruch im Frühjahr und Sommer dieses Jahres gestoppt und die Rezession zu einem hoffentlich mehr als nur kurzfristigen Stillstand gebracht. Die Unterauslastung der Kapazitäten ist jedoch noch erheblich. Es wird Jahre dauern, bis die Weltwirtschaft ihren alten Trend wieder erreicht haben wird, denn die Wachstumsprognosen sind nicht sehr vielversprechend, und die Arbeitslosigkeit steigt derzeit noch in den USA und Europa.

Vorläufig ist die Staatsverschuldung das Mittel der Wahl bei der Bekämpfung der Krise. Die öffentliche Hand nimmt den Überschuss der privaten Ersparnisse über die privaten Investitionen auf und pumpt diesen Überschuss wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück, um die Gesamtnachfrage und das Finanzsystem zu stabilisieren. Deshalb schießen überall die öffentlichen Defizite in die Höhe. Fast alle EU Staaten werden die 3%-Grenze für die Defizitquote relativ zum BIP, wie sie im Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegt ist, durchbrechen, und einige werden Defizitquoten von 10% und mehr erreichen, z.B. Spanien (10%), Großbritannien (14%) und Irland (16%). Die USA, das Epizentrum der Krise, stecken in besonders großen Schwierigkeiten. Ende dieses Jahres wird die amerikanische Schuldenquote bereits auf 87% des BIP angestiegen sein, und da das Defizit im nächsten Jahr 11% des BIP betragen wird, wird sie 2011 die 100%- Marke überschreiten. Das Land, das einmal das Symbol für Stabilität und kapitalistische Stärke war, zeigt erschreckende Ähnlichkeit mit den Entwicklungsländern, die unter der weltweiten Schuldenkrise von Anfang der 1980er Jahre litten.

Obwohl Länder insolvent werden können, können sie doch ihre Staatsschulden auf vielerlei Art verringern, bevor dies geschieht. Die USA erwägen, eine Erbschaftssteuer auf den ausländischen Besitz von amerikanischen Wertpapieren zu erheben, und viele Leute gehen davon aus, dass die USA versuchen werden, die italienische Karte zu ziehen: durch Inflation die öffentliche Verschuldung verringern und durch eine Abwertung der Währung die internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Sicherlich ist es schwierig, eine Inflation in einer Situation einzuführen, in der die kurzfristigen Zinsen bereits auf Null stehen, denn die Zinsen können nicht weiter gesenkt werden, ohne dass die Leute beginnen, Bargeld zu horten. Dennoch fürchten die Investoren der Welt genau ein solches Szenario, und dies könnte eine sich selbst erfüllende Erwartung auslösen, weil es zu einer weiteren Abwertung des Dollar beiträgt, die Nachfrage nach Exporten ankurbelt und die amerikanischen Importe verteuert. Ironischerweise helfen flexible Wechselkurse gerade dem Land, das die Krise verursacht hat. Es gibt keine Gerechtigkeit bei den Mechanismen der Volkswirtschaft.

Das Gegenteil passiert in Europa. Hier hat die EZB ebenfalls ihr Pulver verschossen und kann keine Inflation erzeugen, selbst wenn sie es wollte. (Sie kann eine Inflation wegen des Maastrichter Vertrags nicht wollen, der dort ist der EZB die Preisstabilität als einziges Ziel vorgegeben.) Aber ein stärkerer Euro reduziert sowohl die Importpreise als auch die Nachfrage nach Exporten, was zu fallenden Güterpreisen führt. Es ist daher wahrscheinlich, dass Europa nicht die italienische Karte ausspielen wird, sich aber umso schwerer tun wird, die jetzige Stagnation zu überwinden. Das Risiko, dass Europa den japanischen Weg einschlägt ist derzeit wahrscheinlicher als dass es dem italienischen folgt. Nach seiner Bankenkrise von 1987/89 durchlitt Japan zwei Jahrzehnte der Stagnation und Deflation mit einer exorbitant wachsenden Staatsverschuldung. Die Vermeidung eines solchen Szenarios ist die Hauptaufgabe der europäischen Wirtschaftspolitik in den kommenden Jahren.

Copyright: Project Syndicate, 2009.
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Publications:
MALI, Les Echos
RWANDA, The New Times
BRUNEI DARUSSALAM, The Brunei Times
CHINA, Investor’s Journal
JAPAN, The Japan Times
KOREA, SOUTH, The Korea Herald
KOREA, SOUTH, The Financial News
PHILIPPINES, Business World
THAILAND, The Nation
KAZAKHSTAN, Kapital
AUSTRIA, Die Presse
AUSTRIA, The Vienna Review
BULGARIA, Dnevnik
FRANCE, La Tribune
GERMANY, Börsen Zeitung
HUNGARY, Vilaggazdasag
SWITZERLAND, L’agefi
GUATEMALA, The Guatemala Times
GUYANA, Stabroek News
IRAQ, Al-Sabah Al-Jadeed
JORDAN, Jordan Times
KUWAIT, Al Watan Daily
QATAR, Al Raya
SAUDI ARABIA, Al Eqtisadiah
UNITED STATES, The Epoch Times