Keine Argumente

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Welt am Sonntag, 30.10.2005, 28

Auch Wissenschaftler sind Menschen. Entweder reagieren sie auf die Erkenntnis eines Kollegen mit der Behauptung, sie sei altbekannt, oder sie versuchen, sie zu widerlegen. Die Freude über die Erkenntnis selbst hält sich meistens in Grenzen. Klaus Zimmermann ist keine Ausnahme von dieser Regel. Er zitiert lauter Fakten, die die Basar-Hypothese bestätigen, und distanziert sich dann gleichwohl von ihr. Die Gegenargumente, die er anführt, sind aber keine Argumente, auch wenn sie seinen Freunden gefallen mögen.

Klaus Zimmermann stellt fest,

  • daß das deutsche Lohnniveau zu hoch ist
  • daß insbesondere die Geringqualifizierten die Opfer der Hochlohnpolitik sind
  • daß deshalb die Dienstleistungen unterentwickelt sind
  • daß der Importanteil der deutschen Exporte steigt
  • daß Deutschland wegen seines hohen Niedriglohnniveaus und seiner sozialen Sicherungssysteme Schwierigkeiten hat, angemessen auf die Kräfte der Globalisierung zu reagieren
  • daß wir keinen Protektionismus, sondern Reformen brauchen.

Alle Aussagen sind zentrale Thesen meines neuen Buches "Die Basarökonomie" und zum Teil auch schon des 2003 erschienen Buches "Ist Deutschland noch zu retten?" Daß Klaus Zimmermann sie teilt, zeigt, daß unsere Auffassungen schneller konvergieren, als die Gewerkschaften befürchten.

Um so verblüffender ist, daß er versucht, die Basar-Hypothese zu widerlegen. Zunächst zitiert er mich verkürzt, aber nicht falsch, wenn er mir die Aussage unterstellt: "Getrieben von den Auswüchsen des Sozialstaates, flüchteten immer mehr Unternehmer zunächst in kapitalintensive Produktion, dann in den Güterexport und schließlich ins Ausland."

In der Tat: Indem der Sozialstaat Lohnersatz zahlt, also Einkommen unter der Bedingung des Nichtstuns zur Verfügung stellt, treibt er den Lohn für einfache Arbeit über das Niveau hinaus, das mit Vollbeschäftigung kompatibel ist. Der hohe Lohn zerstört große Teile der arbeitsintensiven Binnensektoren, die dann Importen Platz machen, und vertreibt deren Arbeitskräfte und Kapital einschließlich des Humankapitals. Ein Teil des Kapitals wird ins Ausland getrieben: Die Nettokapitalexporte unseres Landes sind heute schon höher als seine Nettoinvestitionen. Ein anderer Teil des Kapitals wird in die kapitalintensiven Exportsektoren getrieben, die noch am ehesten mit dem hohen Lohn zurechtkommen, eben weil diese Sektoren nur einen Teil der freigesetzten Arbeitskräfte benötigen. Arbeitslosigkeit und Stagnation sind die Folge.

Zu den Opfern der Hochlohnpolitik gehören ganze Sektoren wie zum Beispiel die Bekleidungs- oder die Lederindustrie, aber auch generell die kundenferneren Vorstufen der Industrieproduktion, die auf dem Wege des Outsourcing durch Vorlieferungen aus Niedriglohnländern ersetzt werden. Die Industriebeschäftigung ist in Deutschland im freien Fall. In keinem anderen entwickelten Land ging sie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs so schnell zurück wie in Deutschland. Zu den Profiteuren der Hochlohnpolitik gehören die kapital- und wissensintensiven Sektoren, insbesondere auch die kundennahen Endstufen der Produktion, die "Basare", wo sich Real- und Humankapital mangels besserer Alternativen tummeln.

Meine Verblüffung bezieht sich auf den Umstand, daß Zimmermann als Gegenargumente gegen diese Analyse anführt, daß "jedes Jahr mehr deutsche Wertschöpfung ins Ausland exportiert wird" und daß der steigende Außenbeitrag, also der Überschuß der Exporte über die Importe, der in der letzten Gemeinschaftsdiagnose gerade wieder von neuem bestätigt wurde, als ein Zeichen der "Entwarnung" gesehen werden könne. Ich bin verblüfft, weil beide Aspekte die unmittelbaren Implikationen der Kapitalflucht aus den arbeitsintensiven Sektoren sind.

Der Zusammenhang ist doch eindeutig: Weil die überhöhten Löhne das Kapital und die Menschen im Übermaß in die kapitalintensiven Exportsektoren treiben, steigt die dort gemessene Summe der Faktoreinkommen besonders rasch, aber diese Summe ist nun einmal die Wertschöpfung im Export. Die Hochlohnpolitik erzeugt eine übermäßige Spezialisierung des Landes zu Lasten der Binnensektoren und der kundenfernen Produktionsstufen, die sich als pathologischer Boom der Wertschöpfung im Export manifestiert.

Daß die Spezialisierung zudem auch zugunsten der kundennahen Endstufen der Produktion stattfindet, ist eine Besonderheit, die ich Basar-Effekt genannt habe. Sie impliziert, daß nicht nur die Wertschöpfungssumme im Export übermäßig rasch zunimmt, sondern daß zudem die Exportmenge pro Einheit der im Export geleisteten Wertschöpfung im Übermaß steigt. Für einen Prozentpunkt Zunahme der realen Wertschöpfung im Export wuchs die reale Exportmenge nach den Informationen des Statistischen Bundesamtes im Trend um circa 1,3 Prozent. Dieser Wert ist zu hoch, weil er das Ergebnis von Löhnen ist, die über dem markträumenden Niveau liegen und Arbeitslosigkeit erzeugen, wie es ja auch Klaus Zimmermann konstatiert.

Und weil die überhöhten Löhne zuviel Kapital ins Ausland treiben, hat Deutschland einen überhöhten Außenbeitrag, also einen zu hohen Überschuß der Exporte über die Importe. Der Außenbeitrag ist nun mal gleich dem Nettokapitalabfluß aus Deutschland heraus. Kapitalabfluß und Exportüberschuß sind ein und dasselbe, im gleichen Sinne, wie ein weißes Pferd ein Schimmel ist.

Wieso mir Klaus Zimmermann die unmittelbaren Implikationen der Verlagerungsthese als Beleg gegen eben diese These entgegenhält, bleibt mir ein Rätsel. Es ist, als wolle er die Aussage, daß es in der Küche dunkel ist, weil die Kerze von der Küche ins Wohnzimmer getragen wurde, dadurch widerlegen, daß er auf das Licht im Wohnzimmer verweist. Den Geist seines Abteilungsleiters Gustav Horn, der genauso argumentiert hat, hätte ich woanders gewähnt.

Die Schwierigkeit bei der Erkenntnis des deutschen Problems liegt darin, sich von der keynesianischen, nachfrageorientierten Sicht der Dinge zu lösen und die langfristigen Angebotseffekte in den Blick zu nehmen, die man nur erkennen kann, wenn man an die hinter den Exporterfolgen stehenden Faktorwanderungen denkt. Natürlich ist die Wertschöpfung im Export für sich genommen gut für Deutschland, und natürlich kann man sich nur freuen über die deutschen Exportunternehmen, die es trotz aller Widrigkeiten des deutschen Arbeitsmarktes schaffen, sich zu behaupten. Allen voran die Automobilindustrie, die auch dank des Outsourcing immer noch sehr gut zurechtkommt. Die betriebswirtschaftlichen Leistungen sind bewundernswert. Das Problem ist nur, daß die Erfolge nicht für sich genommen gesehen werden können, sondern daß hinter ihnen die Mißerfolge der mit den Importen konkurrierenden Sektoren standen, die wegen der künstlich in Deutschland hochgetriebenen Löhne in viel zu großem Umfang zurückgedrängt wurden. In der Tat hätten wir bei niedrigeren Löhnen für einfache Arbeiten mehr Dienstleistungen in Deutschland und eine höhere Fertigungstiefe der Produktion. Nicht nur die Beschäftigung der Geringqualifizierten wäre dann in diesen Bereichen höher. Es wären dort auch mehr Finanzkapital, mehr Boden und mehr Humankapital gebunden, und diese Ressourcen stünden den Exportsektoren nicht in dem Umfang zur Verfügung, wie es heute der Fall ist. Die Wertschöpfung im Export wäre zwar geringer, doch wäre das Sozialprodukt höher, und die Menschen hätten mehr Arbeit. Hätte die Hochlohnpolitik den Binnensektoren nicht die Kraft entzogen, ginge es den Deutschen besser, obwohl sie bescheidenere Exportstatistiken hätten.

Streitfreudiger Professor

Der Autor
Hans-Werner Sinn ist seit mehr als 20 Jahren Professor an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, wo er Nationalökonomie und Finanzwissenschaft lehrt. Seit 1999 ist er zudem Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, das ebenfalls in München sitzt. Sein Institut veröffentlicht den Ifo-Klimaindex, der die Stimmung unter den deutschen Unternehmen wiedergibt.

Die Theorie
In seinem aktuellen Buch "Die Basarökonomie" setzt sich Hans-Werner Sinn mit der Frage auseinander, warum Deutschland zwar Exportweltmeister ist, andererseits aber dramatische Arbeitslosenzahlen verzeichnet. Sinn ist der Ansicht, daß durch übermäßige Vorproduktion im Ausland, so daß das fertige Produkt hierzulande nur noch mit dem Stempel "Made in Germany" versehen wird, die deutsche Inlandswirtschaft leidet. Sein Buch ist die Fortsetzung des Bestsellers "Ist Deutschland noch zu retten?", der sich 120 000 Mal verkaufte.